Erfolgreich in der Kunst, im Leben gescheitert
Wenn Du drüber nachdenkst, fallen Dir sicher viele Künstler*innen ein, die beruflich erfolgreich waren, aber menschlich scheiterten: zu jung gestorben, Suchtprobleme, psychische Erkrankungen, Depressionen usw. Namen wie van Gogh, Jean-Michel Basquiat, Jimi Hendrix, Kurt Cobain oder Amy Whinehouse drängen sich auf. Aber sind diese geplagten Ausnahmetalente wirklich die Regel? Ist das unvermeidlich, dass große Begabungen mit großen Problemen einhergehen? Oder ist das ein Klischee, das sich leider immer wieder bestätigt? Jay und Gofi haben sich in ihrem Podcast 'Cobains Erben' darüber unterhalten. Dies ist das Transkript ihres Gesprächs.
Sind Künstler schwierige Menschen?
Jay: Hallihallo, ihr Lieben Erb*innen. Schön, dass ihr wieder eingeschaltet habt! Hier sind die Freunde von Kurt Cobain und alle, die sich ihm verbunden fühlen.
Gofi : Ja genau! Vielleicht kann man das so sagen!
Jay: Auch, wenn wir schon lange nicht mehr auf den guten Kurt Cobain zu sprechen gekommen sind – ich könnte mir vorstellen, dass sein Name heute zumindest fallen wird. Weil das Thema, worüber wir sprechen, gut zu diesem Menschen passt. Wir wollen mit euch darüber nachdenken, warum Künstler oft so schwierige Menschen sind, warum sie es oft so schwer haben, im Leben zurechtzukommen. Gofi, stimmt das überhaupt? Sind Künstler*innen schwierige Menschen?
Gofi: Man hat diese Beispiele ja ganz schnell vor Augen. Ich habe zum Beispiel die Tagebücher von Kurt Cobain gelesen. Und die sind superinteressant und auch sehr verstörend zu lesen. Weil Kurt da seinen ganzen Schmerz, auch seinen körperlichen Schmerz beschreibt, seine Wut auf die Musikindustrie, aber auch sein Ringen mit der Rolle, die er in dieser Industrie einnimmt. Er hat aber auch immer wieder mit Krankheiten zu kämpfen gehabt, mit seiner Drogensucht natürlich auch. Das ist das Zeugnis eines Menschen, der wirklich ganz schön heftig zerrissen ist. Kurt Cobain wäre so ein Beispiel, an das man denkt, wenn man sich fragt, warum Künstler*innen eigentlich manchmal so abgefuckt sind? Muss das so sein? Wird man Künstler, und dann geht es einem scheiße? Oder werden nur Leute Künstler, denen es scheiße geht? Gibt es da einen Zusammenhang oder nicht?
Jay: Ja genau! Es gibt die Kurt Cobains. Aber dann gibt es auch die Klaus Kinskis, also die, die sich in total cholerische Ausbrüche hineinsteigern. Ich weiß nicht, ob du den Film über seine Jesus-Tournee kennst. Wo er wirklich die Leute von der Bühne anbrüllt und mit Arschloch anspricht, weil sie ihn unterbrechen, wie er gerade Bibelstellen rezitiert: „Jesus hätte die Peitsche genommen, du alte Sau!“ Das ist die cholerische Seite. Und auch das hört man ja durchaus von Künstlern, dann kommt dann öfter dieses: Künstler sind Arschlöcher! Und dann hast du so Typen wie meinetwegen Bob Dylan, über den man ja gar nicht so viel weiß, von dem man nicht weiß, ob das ein zerrissener Mensch ist. Das ist ein sehr zurückgezogener Typ, jemand, der, außer in seiner Kunst, nur sehr wenige Menschen an sich heranlässt. Das ist niemand, der die Tür aufreißt und sagt: Hoppla, hier bin ich! Was ich meine, ist: Wenn man sagt, dass Künstler schwierige Menschen sind, dann ist das auf jeden Fall ein Spektrum.
Gofi: Es gibt natürlich auch andere Künstlerpersönlichkeiten, die ein ganz bürgerliches Leben gelebt haben. Thomas Mann ist ein Beispiel dafür. Gut, der hatte eine verborgene Homosexualität, die in das bürgerliche Leben nicht hineinpasste. Er war verheiratet, hatte Kinder, hatte aber eben Neigungen, die zu seiner Zeit natürlich sehr schwierig waren. Aber wenn man so eine Art 'Beamtenkünstler' sucht, dann landet man bei ihm. Von dem heißt es: Der hatte seine festen Zeiten, zu denen er gearbeitet hat, dann ging es zum Essen, die hatten Angestellte, dann hatte er seine Verpflichtungen in der Gesellschaft usw. So einer ist doch der Prototyp des Künstlers, der sein Leben scheinbar vollkommen im Griff gehabt hat. Zumindest nach außen hin. Oder Pablo Picasso: Der war wohl ein Arschloch, zumindest schildert ihn eine seiner Töchter in einem Buch in den schlimmsten Farben, aber der war kein abgefuckter Mensch, sondern sehr erfolgreich und hat in großem Reichtum gelebt.
Jay: Ich muss auch an meinen Freund Lothar Kosse denken. Das ist ein begnadeter Gitarrist, der wirklich tolle Jazzalben aufgenommen hat. Außerdem ist er ein bekannter Liederautor, er ist Maler und malt tolle Bilder. Aber so wie ich ihn kenne, würde es mich sehr wundern, wenn er eine zerrissene Seele wäre. Ich nehme ihn eher als in sich ruhend war, er führt ein relativ bürgerliches Leben, das ist jetzt keiner, um den man sich Sorgen machen muss. Und trotzdem ist er ja ein sehr begabter Mensch. Das Klischee, dass alle Künstler zerrissene Seelen sind, stimmt so also nicht.
Gofi : Trotzdem hat deine Frage bei mir einen Punkt getroffen. Ich habe sofort gedacht: Ja genau, darüber sollte man wirklich mal nachdenken! Und dann habe ich mehr und mehr gedacht: Stimmt das überhaupt? Oder ist das ein Mythos?
Jay: Mein Gefühl wäre, dass es nicht zu 100 % stimmt. Und trotzdem kenne ich mehr Geschichten von Künstlern, die irgendwie schwierige Menschen sind oder ihre Schwierigkeiten mit dem normalen Leben haben, als dass ich diese gutbürgerlichen Künstlergeschichten kenne. Also 'Mythos' wäre jetzt auch irgendwie falsch. Das Klischee gibt es doch deswegen, weil es oft zutrifft.
Gofi : Ich glaube das eigentlich auch. Trotzdem versuche ich noch mal einen Gegenentwurf. Könnte es nicht sein, dass man es bei Künstlern einfach stärker mitbekommt? Weil sie das in ihrer Kunst vielleicht auch zeigen. Während man all die anderen drogenabhängigen, verkrachten, suizidalen Menschen nicht wahrnimmt. Die sind eben einfach da. Und irgendwann auch nicht mehr. Künstler*innen dagegen malen darüber vielleicht ein Bild oder schreiben einen Roman. Und dadurch merkt man es dann.
Jay: Ja okay, da ist bestimmt was dran. Dadurch, dass sie eine Wirkung haben, merkt man das vielleicht eher, als bei einem depressiven Bäcker, weil sie dann vielleicht auch darüber arbeiten.
Gofi: Genau. Weil das dann möglicherweise der Stoff ihrer Arbeit ist. Ich meine, die Texte von Nirvana sind echt dunkel. Manchmal sind sie auch absurd komisch, aber die zeigen schon, was da im Hintergrund rumort.
Jay: Ich stelle halt fest, dass die Kunst, die mich besonders anspricht, oft von extremen Persönlichkeiten ist.
Gofi: Das geht mir auch so!
Jay: Die Aussage „Alle Künstler sind schwierige Menschen“ ist also ein Klischee, aber dann könnte man trotzdem die Frage stellen: Warum sind so viele großartige Künstler anscheinend schwierige Menschen oder haben mit schwierigen Seelenlagen zu kämpfen? Denn da scheint es mir schon einen Zusammenhang zu geben. Diese extremen Veranlagungen, die sich in cholerischen Anfällen oder in Sucht äußern, die sind es ja auch, die zu großer Kunst führen. Das scheint doch darauf hin zu deuten, dass es sich um extreme Persönlichkeiten handelt.
Gofi: Ich frage mich, ob man dadurch, dass man Künstler*in ist, automatisch nicht mehr im sicheren Mittelfeld leben kann. Ob das eine also das andere bedingt. Als Künstler*in betrachtest du die Welt auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Und du versuchst dein Leben auf eine ganz bestimmte Art zu meistern. Die Kunst spielt in dem Fall eine wahnsinnig große Rolle, ist immer mit dabei. Und ich könnte mir vorstellen, dass dich das manchmal ein bisschen unfähig macht für einen Lebensentwurf, den man sich normalerweise vorstellen würde als Mensch: "Hoffentlich heirate ich früh. Hoffentlich habe ich eine feste Beziehung, in der ich mich sicher fühlen kann. Hoffentlich kann ich mir irgendwann auch mal mein eigenes Haus leisten. Ich hoffe, ich habe einen sicheren Job, damit ich mir keine Sorgen machen muss. Ich hoffe, ich kann früh in Rente gehen. Ich hoffe, ich lebe lange, damit ich meine freie Zeit als Rentner auch wirklich genießen kann." Das sind so die Bedürfnisse nach Sicherheit im Leben. David Bowie hat dagegen mal in einem Interview gesagt: Künstler sind in der Hinsicht ein bisschen bekloppt, weil sie scheinbar immer die Sicherheit verlassen wollen, um etwas Neues auszuprobieren, während es evolutionär betrachtet doch eigentlich so ist, dass der Mensch, wenn er einmal eine sichere Position gefunden hat, versucht, die so lange zu erhalten, wie es nur geht. Denn die Welt da draußen ist gefährlich. Deshalb meinte er: "Ich als Künstler bin wahrscheinlich auch ein bisschen doof. Ich habe in mir diesen Drang, immer rauszugehen und das neue auszuprobieren."
Jay: Dann wäre deine These: Extreme Persönlichkeiten loten das Leben auf extreme Weise aus. Und das fällt mit dem Thema Kunst gut zusammen. Deshalb suchen sich extreme Persönlichkeiten oft das Thema Kunst als Tätigkeitsfeld aus. Ist das dein Gedanke?
Gofi: Ich denke eher, dass Leute, die Kunst machen, sie irgendwann entdecken, weil sie merken: Das bin ich, das passt zu mir, das entspricht meiner Identität. Und dieser Lebensentwurf ist eher ein 'unvernünftiger' Lebensentwurf, weil er unsicher ist. Vielleicht ist es vergleichbar mit Extremsportlern. Das sind auch Leute, die sagen: Es treibt mich ins Risiko, es treibt mich zu diesem Lebensentwurf. Da fühle ich mich am meisten zu Hause. Da bin ich am stärksten ich selbst. Aber du entscheidest dich damit für einen Lebensentwurf, den man normalerweise nicht anstreben würde. Weil man normalerweise sagt: Ich will doch meine Schäfchen ins Trockene bringen! Ich weiß deshalb nicht, ob man dafür immer eine extreme Persönlichkeit braucht, wenn man Künstler*in wird.
Jay: Aber ist das nicht eine Frage der Persönlichkeit?
Gofi: Ja, schon! Ich weiß nur nicht, ob das wirklich extrem ist. Das hängt sehr stark von der Gesellschaft ab, in der das passiert. Man könnte sich ja eine Gesellschaft vorstellen, in der diese Leute eine ganz hohe Stellung einnehmen. Eine Gesellschaft, in der die anderen Leute sagen: "Wir helfen dir! Wir unterstützen dich." Dieser Künstler wäre dann vielleicht so eine Art Schamane. Der lebt dann in großem Reichtum. Weil das Dorf ihm immer die besten Ziegen bringt. Weil sie sagen: "Du musst gut leben, Bruder! Wir brauchen dich!" In dem Fall wäre es keine extreme Lebensentscheidung, Künstler zu sein.
Jay: Du beschreibst gerade das Pop Business. Im Grunde sind das ja die modernen Schamanen, denen man Ziegen bringt. Die in ihrem Reichtum dann in Saus und Braus leben.
Gofi: Und komischerweise häufig damit auch wieder nicht umgehen können.
Mehr Tiefe durch Krisen
Jay: Du hast das jetzt ein bisschen von der Persönlichkeit gelöst und gesagt: Die Kunst bringt es mit sich, dass man sich auf das dünne Eis wagt. Das stimmt natürlich. Das klingt so nach Entdecken. Und ja, man kann natürlich sagen, dass auch jemand mit einer Depression ein Entdecker ist, nach innen, weil er unter Umständen viel mehr darüber nachdenkt, warum er etwas tut und wie er die Welt sieht und das analysiert und darüber nachdenkt und sich damit vielleicht ein Stück weit in seinem Ich verliert. Ich bin nur nicht davon überzeugt, dass die Kunst der Auslöser ist. Ich bin eher der Meinung, die Kunst ist das Produkt. Am Anfang steht die Persönlichkeit. Und wenn derjenige künstlerisch veranlagt ist, dann drückt sich das in Kunst aus. Und bei extremeren Persönlichkeiten vielleicht in extremerer Kunst. Natürlich gibt es da immer Ausnahmen, wenn man überhaupt von einer Regel sprechen kann. Ich würde mal denken: Nicht die Kunst macht die Persönlichkeit, sondern die Persönlichkeit macht die Kunst.
Gofi: Vielleicht gibt es da ja eine Gleichzeitigkeit. Klar macht jemand Kunst, der dazu veranlagt ist. Das passiert nicht einfach zufällig, so wie sich jemand eben irgendeinen Beruf aussucht. Vielleicht ertappt man sich sogar selbst dabei, dass man Kunst macht. Oder man schaut zurück und erkennt, dass man eigentlich schon immer Kunst gemacht hat. Dann schlägt man vielleicht diese Richtung ein und merkt recht schnell, dass das gesellschaftliche Umfeld damit seine Mühe hat. Ich habe ein tolles Buch gelesen von Ben Learner: 'Warum hassen wir Gedichte?' Er ist selber Autor und Dichter. Und er beschreibt in dem Buch, dass es immer ein bisschen lustig, aber auch peinlich ist, wenn Menschen ihn fragen, was er beruflich macht. Dann sagt er: "Ich bin Dichter." Und dann sagen die: "Aha!" Und die Frage schwingt mit: "Und warum sind sie nicht erwachsen geworden?" Die meisten Leute antworten dann: "Ich habe auch mal Gedichte geschrieben. Mit 15." Und die anderen Leute erzählen, ab wann sie Gedichte hassen gelernt haben. Das ist in der Schule gewesen, als sie Gedichte interpretieren mussten. Er versucht in seinem Buch zu erläutern, warum wir Gedichte hassen und warum es ein ganz natürliches Verhalten ist, Gedichte zu schreiben. Seine These ist: Jeder Mensch ist Dichter. Jeder versucht Worte für bestimmte Situationen zu finden. Nur manche machen einen Beruf daraus. Wenn man jedenfalls daraus einen Lebensweg macht, aus welchen Gründen auch immer, dann wird darauf nicht unbedingt sehr verständnisvoll reagiert.
Jay: Ich denke immer an die Geschichte von Rainer Maria Rilke, der Zeit seines Lebens unter Depressionen gelitten hat. Bei seinen Gedichten kann man sich das ja ganz gut vorstellen, nicht weil die alle so traurig wären, sondern weil die so eine dichte Weltwahrnehmung haben und eine Wahrnehmung, die auch über die Welt hinausgeht. Das ist ja auch ein spiritueller Dichter. Ich weiß, dass der irgendwann mal bei einem Psychotherapeuten war und gesagt hat: "Können Sie mir bitte helfen? Ich komme mit meinem Leben nicht klar. Ich bin ein emotionales Wrack." Und der Therapeut sagte dann: "Nein! Ich kann Ihnen nicht helfen. Wenn ich sie heile, dann können sie nicht mehr so gute Kunst machen." Mir hat diese Geschichte mal eine Psychotherapeutin erzählt. Sie war ganz empört: "Der arme Mann! Das ist doch gemein! Man muss dem doch helfen!" Und sie hat natürlich vollkommen Recht. Auf der Ebene der Kunst allerdings weiß ich nicht, ob nicht der Therapeut recht hatte, den Rilke um Rat gefragt hat. Die tiefsten Liebeslieder schreibst du dann, wenn deine Liebste dich hat sitzen lassen. Tiefe, große Kunst hat schon oft etwas mit den Bruchstellen des Lebens zu tun. Denn an den Bruchstellen des Lebens wird das Leben anders greifbar, als in den guten Zeiten, in denen man die Brüche meistens überspielt. An den Bruchstellen kommt man dem Leben tiefer auf die Spur. Insofern denke ich schon, dass gerade die Menschen, die in ihrem Leben Brüche haben, diejenigen sind, die eine tiefere Berührung mit dem Leben haben, und dass sich das dann eben auch in großer Kunst ausdrückt - wenn es Künstler*innen sind.
Gofi: Da stellt sich doch die Frage, ob die Kunst das wirklich wert ist. Wäre es nicht besser gewesen, den Rilke zu heilen? Das würde ja deine Freundin sagen.
Jay: Ich glaube, ich wäre bei dem Psychologen. (lacht)
Gofi: Du kannst es aber auch leicht sagen. Du bist ja nicht Rilke. (lacht) Wie du diese Geschichte von Rilke erzählt hast, habe ich überlegt, dass wir Normalos diese Geschichten ja auch lieben. Diese Geschichten der zerrissenen Künstler. Kein Gespräch über Kunst, in dem nicht irgendwann der Name van Gogh fällt. Der ist so ein bisschen das Paradebeispiel des leidenden Künstlers. So ein Thomas Mann ist ja so viel langweiliger! Ich frage mich, ob wir nicht gerne wollen, dass die Künstler*innen stellvertretend für uns leiden. Denn die Katastrophen, die sie durchleben, die Spielsucht, der Alkoholismus, die Pleiten und Niederlagen, die Depressionen, die gescheiterten Liebschaften, all das kennen wir auch alles. Wir haben auch unsere Katastrophen erlebt. Aber diese bekannten Frauen und Männer, die das in ihrer Kunst thematisieren - es ist fast so, als würden sie das stellvertretend für uns durchleiden und beschreiben. Vielleicht mögen wir deshalb ihre Kunst so gerne.
Jay: Da ist was dran. Künstler*innen leben zum Teil das Leben, das man selber gerne leben würde, aber für das man nicht bereit ist, den Preis zu bezahlen. Und wenn sie davon in ihren Werken oder auf der Bühne berichten oder wenn in den Biografien über sie davon berichtet wird, dann nimmt man daran Anteil, macht es sich zu eigen, ohne selbst den Preis bezahlen zu müssen. Aber dann bringt man eben unter Umständen auch nicht die Werke hervor, die diese Menschen hervorgebracht haben. Ich hätte da noch ein anderes Beispiel, wobei ich gleich vorweg sage, dass es sein kann, dass ich da auch wieder einem Mythos aufsitze: Ich war mal auf einem Theologenkongress, wo man sich mit dem Phänomen der Stigmata beschäftigt hat. Das sind Wundmale, ähnlich wie bei dem gekreuzigten Jesus, die bei Menschen spontan auftreten. An diesen Stellen fängt der Körper plötzlich an zu bluten. Und dieses Phänomen ist durch die Geschichte hindurch immer wieder belegt. Man hat sich damit wissenschaftlich befasst, das ist kein Fake, und man hat festgestellt, dass es vor allem sehr religiösen Menschen passiert. In psychologischer Hinsicht hat man gesagt, dass diese Leute eben einfach einen Hau haben. Und es ist faszinierend zu sehen, dass sich solche geistigen Dinge so körperlich auswirken können. Aber der theologische Referent, der den Vortrag gehalten hat, hat die Frage gestellt, warum man das so schwarz-weiß sehen muss. Denn das hat ja auch Leute betroffen, die zwar auf der einen Seite sehr extrem gewesen sind wie zum Beispiel Franz von Assisi, die auf der anderen Seite aber die Welt auch positiv verändert haben. Wenn das wirklich eine psychische Deformierung ist, dann kommt sie immerhin zusammen mit einem ganz tiefen Gespür für das Leben, für das Echte, für die Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Und ich finde, da gibt es gewisse Ähnlichkeiten zur Kunst. Dieser Referent sagte damals: Anscheinend ist der Grat zwischen psychischer Krankheit und spiritueller Erkenntnis manchmal sehr schmal. Menschen, die psychisch auffällig sind, die haben immer mal wieder auch sehr spannende spirituelle Erkenntnisse. So ähnlich empfinde ich das bei Künstlern auch. Der Grat ist schmal zwischen dem Vermögen, etwas Großartiges, Prophetisches zu schaffen, und dem Wahnsinn, der psychischen Erkrankung. Und oft lässt sich das eben nicht trennen. Oft geht es vom einen ins andere über, so dass man nicht sagen kann, ob es sich gerade um Wahnsinn oder Genialität handelt.
Gofi: Es handelt sich um ein Phänomen der Wahrnehmung. Ich glaube eigentlich, dass wir beiden uns in Wirklichkeit die ganze Zeit über einig sind. Nur schauen wir jeweils von der anderen Perspektive drauf. Ich glaube, eine künstlerisch veranlagte Persönlichkeit - und möglicherweise müsste man sogar wirklich sagen: eine künstlerisch/spirituell veranlagte Persönlichkeit - nimmt gewisse Dinge in der Welt anders oder intensiver wahr. Und verarbeitet die Dinge auch anders oder intensiver. Und das führt manchmal an gewisse Grenzen des Erträglichen, könnte ich mir vorstellen. Wenn es gut läuft, dann sind diese Menschen glücklich und wahnsinnig bei sich selbst und sind dann auch beliebte Gesprächspartner, weil man sich gerne mit ihnen unterhält und gerne wissen möchte, was sie zu sagen haben. Und manchmal treibt es diese Menschen an den Rand von allem, so dass ihre eigene Psyche das auch gar nicht mehr verkraftet, was sie da erleben und wahrnehmen. Ich kann mir vorstellen, dass diese Menschen manchmal zurückblicken auf den Rest der Gesellschaft und fragen: "Sag mal, seht ihr das überhaupt nicht?" Und alle sagen: "Hä? Nö!" Und das bringt dich dann ja auch in einen Konflikt mit der Gesellschaft, mit deinem Umfeld. Manche Gesellschaften, glaube ich, sind in der Lage, das aufzunehmen und das für sich zu nutzen. Und andere nicht. Da werden die Künstler vielleicht auf eine Bühne gestellt und abgefeiert, aber die Künstler selbst vereinsamen. Und selbst, wenn es dann zu einem Absturz kommt, entspricht das völlig der Erwartung des Publikums, das ja möchte, dass der Künstler für die Menschen leidet. Hinterher pilgern alle zu Jim Morrisons Grab und sagen: "Ich fühle mich dem Meister ganz nah!"
Eine andere Wahrnehmung
Jay: Du blickst also eher von der gesellschaftlichen Seite auf die Künstler*innen. Das stimmt, das macht es für sie nicht leicht. Auf der anderen Seite macht es ihnen das aber leichter, etwas Besonderes zu sein. Aus dem Mainstream herauszuragen, ist nicht schwer, sei es durch eine auffällige Persönlichkeit oder durch etwas, das du erschaffst. Wenn deine Persönlichkeit einerseits so extrem ist, ist sie vielleicht dafür in anderer Hinsicht eher verarmt. Und das macht es dir natürlich schwer, im Leben bestehen zu können.
Gofi: Aber wie gesagt: Es gibt eben auch diese anderen Beispiele. Die Johann Sebastian Bachs zum Beispiel, diese hammerbegabten Menschen, die ihre gesellschaftliche Position gefunden haben und alt geworden und erfolgreich gewesen sind.
Jay: Von dem sind jetzt auch keine Exzesse bekannt oder dass er seine Kinder halbtot geprügelt hätte oder so. Bei dem würden heute noch alle sagen: "Du machst wundervolle Kunst, aber warum bist du eigentlich gar nicht drogensüchtig?" Was wir als Zwischenstand rausgearbeitet haben, ist doch: Man kann daraus keine Regel machen. Trotzdem scheint es auffällig zu sein, dass viele großartigen Künstler in irgendeiner Form eine spezielle Persönlichkeit haben. Und wenn man Kunst als eine Beschäftigung mit dem Leben versteht, dann nehmen Menschen mit einer extremeren Persönlichkeit Dinge wahr, die andere nicht wahrnehmen. Die können sie beschreiben oder auf den Punkt bringen. Und normale Menschen sehen diese Dinge erst, wenn der Künstler ihnen eine Gestalt gegeben hat. Die anderen wissen dann plötzlich, wovon der Künstler spricht und sagen: "Das hätte ich nie so ausdrücken können! Ich wusste noch nicht einmal, dass ich das überhaupt gewusst habe."
Gofi: Ich stolpere immer wieder über das Wort 'extrem'. Warum findest du, dass das eine extreme Persönlichkeit ist?
Jay: Ich meine das eigentlich nur im Vergleich zum Mainstream. Wenn es diese Normalität, diese Mittelmäßigkeit, diesen Mainstream nicht gäbe, dann würde das Wort vielleicht keinen Sinn machen. Aber wenn eben ein Mensch sich nicht an die normalen Vorstellungen des Lebens und nicht an die herkömmlichen Regeln hält, dann scheint er wohl eine extremere Persönlichkeit zu besitzen. Das Wort 'extrem' selber ist mir gar nicht so wichtig. Ich meine damit vor allem 'anders'. Eine Persönlichkeit, die sich eben nicht so gut einpasst, die vielleicht auch schwieriger ist.
Gofi: Verstehe, das wollte ich gerne wissen. Denn das Wort klingt schon ein bisschen wertend. Wenn man von 'anders' spricht, dann bin ich eher damit einverstanden.
Jay: Keine Frage! Wie gesagt: Das Wort selber ist mir eigentlich gar nicht wichtig.
Gofi: Ich finde es trotzdem ganz interessant, dass du dieses Wort benutzt, denn ich denke, dass viele Leute es auch benutzen würden. Weil sie es eben so empfinden. „Warum bist du immer so extrem? Warum musst du Dinge immer anders machen?“ Das ist sicher nicht als Wertung gemeint, ist es aber eben trotzdem. Es ist ja auch nicht ganz falsch. Vorhin habe ich Johann Sebastian Bach erwähnt. Er hat zwar ein erfolgreiches bürgerliches Leben geführt, aber er hat in seiner Kunst auch immer wieder die Grenzen ausgelotet. Er hat Akkordfolgen benutzt, die nicht gutgelitten waren. Man hat ihn dafür kritisiert. Man hat gesagt: "Warum machst du sowas? Wir machen hier so etwas nicht!" Er hat es aber dennoch gemacht, weil er gesagt hat: "Das ist besser! Ihr versteht das nur nicht. Aber ihr werdet es schon noch verstehen." Die Klänge waren ungewohnt. Und die Empfindungen, die die Menschen damit verbunden haben, waren möglicherweise unangenehm. Es war einfach nicht der Standard. Man kann das schon auch als extrem bezeichnen. Das Wort ist also vielleicht nicht unbedingt falsch. Ich möchte nur einfach sagen, dass die Andersartigkeit auch ihr Recht hat. Es gibt manchmal Lebenssituationen, die anders sind, in denen man sich Fragen stellen muss, die sich andere Leute nicht stellen müssen, und dieses Anderssein hat auch sein Recht. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen Künstlern so geht, dass sie sagen: "Leute, ich mach die Dinge doch einfach nur ein bisschen anders als ihr, was ist denn daran bitte euer Problem?"
Jay: So wie Jazz, oder? So richtig geiler Jazz, wo dir die Töne um die Ohren fliegen und du nicht genau weißt, ob er jetzt rhythmisch ankommt oder nicht. Und er kommt wirklich an! Und du nicht begreifst gar nicht, was da passiert und bist mit deinem Pop-Verständnis von Musik völlig überfordert.
Gofi: Es ist vielleicht gar kein Wunder, warum der Jazz zuerst in den Bordellen und Spelunken gespielt wurde. Das war ja eine randständige Musik von einer randständigen Gruppe von Leuten. Der musste erst einmal weiß und domestiziert werden, bevor der auch in den großen Häusern aufgeführt werden durfte.
Jay: Und wenn du dich dann da mal reingehört hast oder vielleicht sogar ein Faible für den Jazz hast, dann denkst du dir: "Was ist das denn Tolles? Wer hat sich denn so etwas Krasses ausgedacht?"
Gofi: Und das Schöne ist ja, dass diese Musik nicht am Reißbrett entworfen worden ist, sondern dass die organisch entstanden ist. Es gab Menschen, die haben gesagt: "Das ist mein natürlicher Ausdruck, was ich hier mache." Das finde ich irre!
Jay: Das ist in der Popmusik ein bisschen glattgebügelt worden. Die Rockmusik der sechziger und siebziger Jahre war noch wilder, hatte noch eine größere Nähe zum Jazz, zu diesem Ursprung. Da hat es Songs gegeben, die eine ganze LP-Seite gedauert haben. Das war natürlich nicht unbedingt Jazz, aber es gab eine größere Nähe zu dieser Spielfreude, zu dieser Bereitschaft, dass sich da etwas aus dem gemeinsamen Spielen ergibt. Das findet man bei diesen Drei-Minuten-zwanzig-Nummern, die wir heute im Radio hören, nicht. Klar, es hat auch damals Lieder gegeben, die 3 Minuten 20 gedauert haben, aber auf den großen Bühnen war die Nähe zu dieser wilden Spielfreude noch mehr zu finden.
Gofi: Ich bilde mir ein- aber vielleicht sehe ich das jetzt auch ein bisschen zu romantisch - , dass die Leute früher mehr Geduld gehabt haben, um zuzuhören. Die haben vielleicht öfter gesagt: "Zeig mir mal was Neues!" Und dann hat man dem Neuen den Raum zugestanden. Die heutige Pop Kultur traut sich das gar nicht, weil die Menschen so konditioniert sind, dass sie dir niemals die Zeit dafür geben. Niemand sagt: "Okay, jetzt warte ich einfach mal 10 Minuten, mal sehen, wo es uns hinverschlägt." Ich bin neulich mal wieder Zug gefahren und habe die Leute beobachtet. Die stehen ja wirklich im dichtesten Gedränge und schauen TikTok-Videos. Und dann geht das in einer unglaublichen Geschwindigkeit: 10 Sekunden anschauen, Wischbewegung mit dem Daumen nach oben. 10 Sekunden gucken, Daumenwisch. 10 Sekunden gucken, Daumenwisch. Was mich nicht sofort auf den Punkt triggert, interessiert mich nicht!
Jay: Das ist so frustrierend, wenn du mal hinter jemandem sitzt, der seinen Instagram Account durchscrollt. Das ist so ernüchternd, wenn du dich darüber freust, 100 Likes für ein Bild bekommen zu haben. Schau dir mal an, wie lange Leute auf ein Bild gucken und dann mit dem Daumen doppelt drauftippen. Das geht immer nur so: Tipp Tipp, weiter. Tipp Tipp, weiter. Tipp Tipp, weiter. Du hast für ein Bild richtig was getan: Du hast es ausgesucht, hochgeladen, du hast die passenden Filter ausgesucht, du hast einen Text geschrieben. Und diese Likes, über die du dich so freust, die sind gar nichts. Das ist eine Sache von wenigen Sekunden! Ich sehe das bei mir selbst natürlich auch. Das ist total selten, dass ich mir wirklich mal Zeit nehme, um ein Bild zu betrachten. Das muss mich dann schon besonders ansprechen.
Gofi: Da haben sich die Formen der Präsentation von Kunst ja auch verändert. Du hast jetzt so einen Mini-Computer in der Hand. Das ist vielleicht wirklich nicht das richtige Medium, um Kunst lange zu genießen. Gott sei Dank gibt es ja auch immer noch Leute, die gerne Konzerte besuchen. Dann nehmen die sich schon 90-120 Minuten Zeit dafür. Oder Lesungen. Ich erinnere mich sehr gerne an eine Lesung zurück, bei der ich aus 'Huchting' vorgelesen habe. Die Leute haben wirklich sehr gerne zugehört. Die haben das total toll gefunden. Allerdings hat anschließend niemand auch nur ein einziges Buch gekauft! Das war einfach nicht das, was sie wollten. Die wollten das Event, die Performance. Aber nicht das Produkt. Für die Performance allerdings haben sie mir die Zeit eingeräumt. Immerhin. Das war ein sehr, sehr schöner Moment. Jemand hat mir durch seine Anwesenheit gezeigt: Das würdige ich. Ich finde das gut, was du hier machst. Es gibt diese Momente also immer noch.
Jay: Das ist mit den CD-Verkäufen ja genau dasselbe. Wir haben als Band in den neunziger Jahren noch viel mehr CDs verkauft als heute. Heute kannst du froh sein, wenn dich jemand in seine Playlist aufnimmt. Das war früher irgendwie anders. Da hat man sich noch hingesetzt und ein ganzes Album durchgehört. Aber okay, vielleicht sind wir jetzt ein bisschen vom Thema abgekommen.
Gofi: Ich finde eigentlich nicht. Denn wir sprechen ja über Wahrnehmung. Darüber, wie wir Kunst wahrnehmen. Es werden heute eigentlich keine Musikalben mehr produziert, aber vor einigen Jahren wurde das eben noch gemacht. Und so ein Album war ein Kunstwerk. Und dafür braucht es Leute, denen man das zeigen kann und die dann sagen: Okay, zeige es mir. Ich denke, das gibt es auch noch. Die meisten werden wohl sagen, dass sie manchmal eben den kurzen, glatten Scheiß brauchen für ganz bestimmte Situationen, und dass sie sich in anderen Situationen dann Zeit nehmen, um sich Kunstwerken, Filmen, Musik richtig zu widmen. Man sagt sich halt: Manchmal gebe ich mir das. Dann widme ich mich einem Kunsterlebnis total. Aber manchmal will ich eben einfach nur mein Auto waschen und dann brauche ich eine geile Playlist.
Jay: Ja klar, so geht es mir ja auch. Wenn ich Radio höre, dann bin ich auch froh, wenn nicht jeder Song so krasses Zeug ist. Jetzt sind wir natürlich schon ziemlich von den Künstlerpersönlichkeiten abgekommen. Aber gut, vielleicht haben wir auch gesagt, was es dazu zu sagen gibt.
Gofi: Ja, kann sein. Ich möchte hier gerne einfach nur im Protokoll festhalten, dass ich für das Recht des Andersseins plädiere. Das ist mir wichtig. Natürlich bleibt es extrem, wenn sich Amy Whinehouse totsäuft oder wenn sich Jean Michel Basquiat eine Überdosis verpasst oder sich Kurt Cobain die Birne wegbläst. Das ist extrem, da muss man nicht drüber sprechen. Aber ich denke jetzt auch an die depressiven Leute, die die Welt vielleicht ein bisschen anders sehen, und an diesem Anderssein auch scheitern. Ich wünsche mir, dass es für solche Leute einen Raum gibt, für die Kunst, die dadurch entsteht. Ihr Wert steht natürlich außer Frage. Aber manchmal gerät er ein bisschen in Vergessenheit.
Jay: Auf der anderen Seite würde ich sagen, dass im Kunstraum schon Platz ist für das Anderssein. Man macht zwar vielleicht seine Witze über Klaus Kinski, über seine cholerische Art, guckt sich extra die Videos an, wo er ausrastet, und gleichzeitig siehst du ihn dann in irgendeinem Werner-Herzog-Film und denkst: Was ist das für eine intensive Performance, die dieser Wahnsinnige hier abliefert? Und das rechne ich unserer Gesellschaft schon hoch an, dass in der Kunst so ein Anderssein möglich ist, trotz aller Likes und TikTok-Videos. Künstler*innen haben bei uns die Möglichkeit, dieses Anderssein auch auszuleben. Man versteht sie vielleicht nicht immer. Aber es ist möglich. Ich fände es nur toll, wenn wir diesen Anders-Menschen nicht nur erlauben, ihre Kunst zu machen, sondern ihren anderen Blick auch mehr an uns heranlassen würden. Damit der unsere Welt erweitert und sie größer und schöner werden lässt. Damit wir vielleicht auf Dinge gestoßen werden, die wir ohne diese Menschen nicht entdeckt hätten.
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