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Die Zeichenmappe

Über eine geheime Vernissage, Lebensbilder, ein Klapprad und eine mutige Flucht

von Katharina Burkhardt

Mein Vater hat zeitlebens gern gemalt und gezeichnet. In jungen Jahren porträtierte er Freunde und Verwandte, teils realistisch, teils karikaturistisch. Er entwarf Werbeplakete für Veranstaltungen in seiner Kirchengemeinde, Hochzeitszeitungen und Grußkarten. Später verlegte er sich auf Landschaftsmalerei. In beinahe jedem Urlaub entstanden Aquarelle, die Staffelei war immer mit im Gepäck.

Zu seinem 65. Geburtstag überraschte meine Mutter ihn mit einer Ausstellung seiner Werke. Zum ersten Mal sichteten wir seine Zeichenmappe komplett, viele Arbeiten hatten wir noch nie gesehen. Sie waren Zeugnis eines bewegten Lebens. Die schönsten Bilder hängten wir in unserem Haus an Treppengeländern, Schränken und Wänden auf. Meine Mutter spannte Wäscheleinen quer durchs Wohnzimmer, an denen sie Zeichenkarton und Aquarellpapier mit Klammern befestigte. Heimlich lud sie Freunde und Nachbarn ein, die halbe Kirchengemeinde rückte an. Mein Vater bekam von den Vorbereitungen nichts mit, meine Mutter schickte ihn unter einem Vorwand fort. Als er zurückkehrte, hing an der Haustür ein Schild mit der Aufschrift »Rudis Galerie«, die ersten Gäste waren schon eingetrudelt. Ich hielt eine Rede mit einer Rückschau auf Leben und Werk meines Vaters, wie man das auf Vernissagen so macht.

Zeichnungen und Aquarelle hängen an Wäscheleinen in einem Wohnzimmer.

Mein Vater wurde 1930 in Leipzig geboren, als zweites von drei Kindern. Er war neun, als der Krieg ausbrach, alt genug, um vieles zu sehen und zu verstehen und zu jung, um es wirklich begreifen und einordnen zu können. Mit dem Pinsel hielt er die Luftangriffe auf Leipzig fest, malte mit viel Schwarz die Silhouette der Stadt, darüber die breiten Lichtstrahlen der Flakscheinwerfer, die britische Flugzeuge am Himmel ausfindig machten. Er zeichnete und konstruierte Schiffe und Flugzeuge und spielte zuhause den Krieg nach, wie wohl alle Kinder seiner Generation. Dabei war mein Vater alles andere als kriegerisch veranlagt, im Gegenteil. Er war der friedfertigste und gütigste Mann, den ich kannte. Das Wort gütig ist etwas aus der Mode gekommen, aber mein Vater war auch altmodisch.

Wenn ich an ihn denke, sehe ich stets ein Lachen in seinem Gesicht, er war freundlich zu allen Menschen und Tieren, wenngleich er mit letzteren nicht viel anfangen konnte. Mit unserem Hund freundete er sich erst an, als er herausfand, was für ein geduldiger Begleiter Moritz bei ausgedehnten Spaziergängen zum Segelflugplatz in unserer Nachbarschaft war, wo Mann und Hund stundenlang den Fliegern zusahen - mein Vater mit großer Begeisterung, was der Hund davon hielt, ist nicht überliefert.

In meiner Kindheit behaupteten alle Leute, ich sei ein Vaterkind. »Diese Ähnlichkeit! Ganz der Papa!« Es waren aber wohl nicht nur Äußerlichkeiten, die dieses Vater-Tochter-Verhältnis deutlich machten. Ich ziehe mich genau wie mein Vater gern zurück in meine eigenen Gedankenwelten und bin ähnlich sensibel und feinsinnig. Auch ich brauche keinen Trubel um mich herum, oft genüge ich mir selbst. Es hat schon seine Gründe, warum ich Schriftstellerin geworden bin.

In meiner Kindheit war es das Allergrößte für mich, wenn mein Vater Zeit mit mir und meinen Geschwistern verbrachte. Er zeichnete und bastelte mit uns, dichtete lustige Verse und erzählte spannende Geschichten. Diese Geschichten handelten oft von Wichteln, die in Baumhöhlen lebten. Noch heute denke ich beim Spazierengehen manchmal: »Ah, da unter dieser Wurzel wohnt bestimmt ein Wichtel.« Manchmal ließ mein Vater auch eine Idylle längst vergangener Zeiten aufleben und erzählte von frischgebackenem Pflaumenkuchen in der Bäckerei seines Onkels, Zuckerstangen auf der Kirmes, Schlittschuhlaufen auf zugefrorenen Teichen, der Lust auf Schabernack, wenn er mit seinen Schulkameraden im Laden »für einen Fünfer Luft in der Tüte« verlangte.

Doch es gab auch andere Geschichten, von Fliegeralarm und Fenstern, in denen sich Pappe statt Glas befand, Spielen zwischen Trümmern, der zerbombten Schule und dem Bruder, der mit sechzehn kurz vor Kriegsende noch eingezogen wurde. Einmal, da war der Krieg schon vorüber, wurde mein Vater von einem russischen Soldaten mit vorgehaltenem Maschinengewehr auf der Straße gestoppt und in einen Hinterhof geführt. Er war sechzehn oder siebzehn, seine Angst mag ich mir kaum vorstellen. In dem Hof musste er zusammen mit anderen Leuten einen riesigen Berg Kartoffeln für die russischen Soldaten schälen. Es war die Zeit der großen Hungersnot, ein Mann steckte sich heimlich ein paar Kartoffeln in die Jackentasche. Mein Vater bekam noch mehr Angst. Was, wenn sie dafür alle erschossen würden? Doch er hatte Glück und kam mit dem Schrecken davon.

Vor geraumer Zeit fragte mich einmal eine meiner Nichten, ob meine Eltern als Kinder viele Tote gesehen hätten. Die Frage verblüffte mich. Ich musste gestehen, dass ich das nicht wusste. Ich war nie auf die Idee gekommen, meine Eltern danach zu fragen. Und sie hatten es selbst nicht erwähnt. Einen Krieg ohne Tote gibt es nicht. Mit Sicherheit hat auch mein Vater Entsetzliches gesehen. Dieses Grauen verpackte er in Abenteuergeschichten, denen wir Kinder fasziniert lauschten. Was er wirklich dachte und fühlte, war schwer auszumachen.

Er war ein in sich gekehrter Mann, der in seiner eigenen kleinen Welt lebte, manchmal erschütternd weit weg von der Realität. Beruflich stark und engagiert, privat ein Träumer, oft heillos überfordert mit banalen Alltagsdingen und, gemessen an seinem beruflichen Hintergrund, erstaunlich gehemmt im Kontakt zu Fremden. Er nahm sich Zeit für uns Kinder, half uns bei den Hausaufgaben, ertrug geduldig schlechte Noten, Versetzungsgefährdungen und pubertäre Launen. Mit den Jahren schien er sich innerlich immer mehr von uns zu entfernen und wirkte zunehmend hilfloser im Umgang mit seinen erwachsen werdenden Kindern. Er blieb irgendwo in den sechziger Jahren stecken, alles Moderne ging an ihm vorbei, Mode, Kunst und Kultur, gesellschaftliche Veränderungen schien er nicht mitzubekommen. Sein Leben lang trug er Schlips und Anzug, einziges Zugeständnis war eine Strickjacke, die er daheim gegen die Anzugjacke tauschte.

Ich schämte mich, wenn wir im Supermarkt an der Kasse standen, den Wocheneinkauf im Wagen, und er feststellte, dass er mal wieder sein Portemonnaie vergessen hatte. Es war uns Kindern auch peinlich, dass er mit einem alten Klapprad zum Dienst fuhr, auf dem Gepäckträger die Aktentasche, auf dem Kopf eine Baskenmütze. Das war selbst in den Siebzigern alles andere als cool. Aber meinem Vater war nicht wichtig, was andere von ihm dachten, solange er sich wohlfühlte. Damals verstand ich das nicht, heute bewundere ich ihn dafür. Noch als Chefarzt fuhr er mit dem Rad zum Dienst. Da lebten wir bereits in Hamburg, der Weg über die Harburger Berge war weit und anstrengend, das alte Klapprad wich einem modernen Trekkingrad. Immerhin. Dass andere Männer in seiner Position mit einem Porsche zur Arbeit fuhren, interessierte ihn nicht. Statussymbole waren nie sein Ding, wenn Bekannte ihn förmlich ansprachen, bat er stets darum, den »Doktor« wegzulassen.

Mein Vater besaß viele Begabungen und Interessen. Zunächst wollte er Zeichenlehrer werden. Dann entschied er sich für Medizin, sein Vorbild war Albert Schweitzer. Doch in seiner sächsischen Heimat wurden nach den braunen mittlerweile die roten Flaggen gehisst, ein Medizinstudium war ohne Parteizugehörigkeit undenkbar. Also orientiere er sich um und studierte in Leipzig Theologie. Seine Kommilitonen und Professoren hielt er in zahlreichen Skizzen fest. In dieser Zeit entstanden seine besten Zeichnungen.

Mann im Profil mit Pinsel und Zeichenpapier sitzt in einer weiten Landschaft.

Die Geschichten aus den Anfängen seiner Berufstätigkeit sind spannend und skurril. Er landete als Vikar in Thalheim im Erzgebirge, in dem schäbigen Zimmer, das er gemietet hatte, knabberten nachts Mäuse an seinen Vorräten. Als Großstadtmensch waren ihm Tiere jeder Art suspekt, mit Mäusen das Zimmer teilen zu müssen, war vermutlich der blanke Horror für ihn. Im Winter fuhr er mit Skiern ins Nachbardorf, um dort den Gottesdienst zu halten. Die ländliche Bevölkerung war recht eigen. Einmal wäre ein Kollege auf dem vereisten Boden bei einer Beerdigung fast in das offene Grab gestürzt, er konnte sich nur mit einem beherzten Sprung über die Grube retten. Nach der nächsten Beerdigung fragten die Trauergäste enttäuscht, warum der Pastor nicht wieder über das Grab gesprungen sei, mit dem wehenden Talar hätte das so elegant ausgesehen.

Mein Vater ließ sich von alldem nicht erschüttern. Dennoch war er vermutlich erleichtert, als er nach Rochlitz, eine andere Kleinstadt in Sachsen, versetzt wurde, wo er bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen hatte. Vor allem aber natürlich, weil er dort seine zukünftige Frau kennenlernte. Im Sommer 1960 machte er als Pastor einen Pflichtbesuch bei einer alten Dame, die ihren 90. Geburtstag feierte. Unter den Gästen befand sich ihre Enkelin, meine Mutter, die damals bereits im Westen lebte.

Die Liebesgeschichte meiner Eltern erstaunt mich bis heute. Sie waren zwei grundverschiedene Menschen, meine Mutter bodenständig und pragmatisch, mein Vater der philosophische Traumtänzer. Vor ihrer Hochzeit sahen sie sich nur wenige Male. Nach dem ersten Kennenlernen gab es ein paar Tage später eine Verabredung zum Rudern auf einem Stausee, zusammen mit den Geschwistern meiner Mutter. Das nächste Mal sahen sie sich in der Weihnachtszeit, als meine Mutter erneut zu Besuch bei ihrer Familie war. Diese Tage gipfelten darin, dass mein Vater, ganz alte Schule, bei meinem Großvater um ihre Hand anhielt. Es folgte ein reger Briefwechsel, sie schrieben sich beinahe täglich, sahen sich um Ostern herum noch einmal und heirateten im Mai 1961. Dieses bedingungslose Einlassen auf einen völlig fremden Menschen wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Aber so lief das ja früher oft und erstaunlicherweise funktionierte es in vielen Fällen auch. Heute sind wir vielleicht oft zu zögerlich und wählerisch und bleiben am Ende allein.

Der Start in die Ehe begann mit einem Schock. Meine Mutter musste nach der Hochzeit allein nach Freiburg im Breisgau zurückreisen, mein Vater hatte keine Ausreisegenehmigung erhalten. Der Mauerbau stand kurz bevor, das DDR-Regime wollte größere Abwanderungen verhindern. Die Ablehnung des Bescheids erwischte meine Eltern vermutlich eiskalt, in ihren Briefen klingen beide optimistisch bezüglich ihrer Zukunftsplanung. Überhaupt zeugen diese Briefe von großem Vertrauen in einen wildfremden Menschen, aber auch in das Leben an sich. Mein Vater packte sein Hab und Gut zusammen, meine Mutter suchte eine Wohnung für sie beide und schrieb meinem Vater, wie sehr sie sich auf ihn und all seine Bücher freue, er solle nur möglichst viele mitbringen.

Am Ende kam er mit leeren Händen bei ihr an. Buchstäblich in letzter Sekunde vor Schließung der Grenzen gelang ihm die Flucht über Berlin. Dort waren die U-Bahnstrecken noch offen, er hatte nichts dabei als eine Aktenmappe, in der sich Prospekte für eine Ausstellung befanden, die er angeblich in Westberlin besuchen wollte. Er hatte Glück, die Polizisten an der Sektorengrenze winkten ihn durch. All seinen Besitz ließ er zurück, von seiner Familie verabschiedete er sich nicht, er wollte niemanden gefährden. Als Republikflüchtling wurde ihm die Einreise in die DDR verwehrt, er sah seine Eltern und Geschwister viele Jahre nicht mehr.

Noch heute denke ich, dass mein Vater nie wieder etwas so Mutiges getan hat. Er liebte meine Mutter wirklich sehr, von der ersten Begegnung an. Er sprach immer mit großem Respekt von ihr, ich erinnere mich nicht, dass er jemals Kritik an ihr äußerte oder Streit mit ihr anfing. Zu jedem Hochzeitstag schenkte er ihr Blumen, zu jedem Geburtstag schmückte er liebevoll einen Tisch für sie, oft mit einer selbstgemalten Karte. Einmal verbrachten sie ihren Hochzeitstag in einem Kurhotel in Italien. Mein Vater stellte das Hochzeitsbild auf ihren Tisch im Speisesaal, die italienischen Kellner flippten aus vor Begeisterung. »Amore, amore!« Meine Mutter war seine Stütze, sein Motor, alles, wofür er lebte. Ich bin sicher, dass er ihr selbst in seinen geheimsten Gedanken nie auch nur eine Sekunde untreu war.

Angekommen im Westen hatte er nichts Besseres vor, als sich seinen Lebenstraum zu erfüllen. Er studierte Medizin. Das war nicht leicht, er war viel älter als die meisten anderen Studierenden und musste sich um seine Familie kümmern, das erste Kind kam schnell, die nächsten drei ein paar Jahre später. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Vater mit dem Fahrrad in die Bibliothek fuhr, wo er Material für seine Doktorarbeit zusammensuchte. Da war ich vielleicht drei oder vier Jahre alt. Die Atmosphäre in den ruhigen Räumen mit den endlos langen Regalen voller Bücher, den Karteikästen und Lochkarten beeindruckte mich nachhaltig. Ich schätze, damals entstand meine Liebe zu Bibliotheken, die bis heute andauert.

Das Leben meiner Eltern verlief nach dem abenteuerlichen Start ihrer Ehe vergleichsweise brav. Die Beatles und Stones gingen ebenso an ihnen vorbei wie Studentenunruhen und die Hippie-Bewegung. Vermutlich hatten sie schlichtweg keine Zeit dafür. Vier Kinder und das späte Ausbildungsende meines Vaters nach zwei Mammut-Studiengängen sorgten für genug Trubel. Selbst die Malerei lag irgendwann auf Eis. Zwischen Windeln wechseln und Anatomie-Büffeln blieb wohl keine Zeit für Kreativität. Wir zogen von Freiburg nach Bielefeld und schließlich nach Hamburg. Mal fanden meine Eltern keinen bezahlbaren Wohnraum für die große Familie, mal wollte mein Vater sich beruflich neu orientieren. Meine Mutter, ganz brave Ehefrau, bestärkte ihn in allen Entwicklungen und hielt ihm den Rücken frei.

Meine Eltern waren beide sehr gläubig, kirchliche Gemeinschaft spielte eine große Rolle für sie. Nächstenliebe und Fürsorge waren für sie keine leeren Hülsen, sondern spürbar bei allem, was sie taten. Mein Vater arbeitete ausschließlich in Kliniken, deren Träger die evangelische Kirche war. Reich wurde er dabei selbst als Chefarzt nicht, aber das war ihm nicht so wichtig wie seine inneren Überzeugungen. Fünfzehn Jahre arbeitete er in den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (heute Stiftung Bethel), wo wir auch lebten, Tür an Tür mit pflegebedürftigen Menschen. Bethel war für uns Kinder wie ein Leben auf einer Insel, weit weg von der »echten« Welt. Für die Erwachsenen war es hauptsächlich ein endloses Dienen im Namen der Kirche. Oft genug suchten Patienten meinen Vater nach Feierabend oder am Wochenende auf, sie standen einfach vor der Tür und er mochte sie nicht abwimmeln.

Er arbeitete in psychiatrischen Kliniken, in denen die Patienten anfangs nur verwahrt und weggesperrt wurden wie Gefangene. Mein Vater suchte nach Wegen, wie er ihnen helfen konnte, ohne sie mit Medikamenten ruhigzustellen, und begann mit Mal- und Musiktherapie. Das war Anfang der siebziger Jahre absolut innovativ. Die Erfolge faszinierten ihn, er entwickelte eine eigene Form des Musikmalens, war Mitbegründer eines Fördervereins für Musiktherapie und Dozent für Musik- und Tanztherapie. Wie mein Vater auf Kollegen und Mitarbeiter wirkte, weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass die einen ihm für seine Beharrlichkeit, sein Festhalten an Werten und Traditionen und seine Hingabe für die Sache Respekt zollten, während andere ihn für stur und eigensinnig hielten.

Meine Eltern schauen Zeichnungen meines Vaters an, die im Wohnzimmer hängen.

Meine Rede anlässlich seines 65. Geburtstags schloss ich mit den Wünschen, dass er nun, im Ruhestand, endlich wieder mehr Zeit für seine eigene Malerei haben möge. Meine Eltern waren beide vital, sie standen mitten im Leben und hatten viele Pläne für ihre Zeit als Rentner. Doch alles kam anders. Nur zweieinhalb Jahre nach diesem Jubiläum erkrankte meine Mutter unheilbar an Krebs. Weitere anderthalb Jahre später wurde auch mein Vater krank. Er hatte einen bösartigen Hirntumor, als Neurologe und Psychiater wusste er vermutlich lange vor der offiziellen Diagnose, was los war. Er wurde operiert, es folgten Bestrahlungen, dann ein kurzes Verschnaufen - bis im Januar 2000 meine Mutter starb, mit nur sechsundsechzig Jahren.

Danach zerfiel mein Vater buchstäblich vor unseren Augen. In wenigen Monaten wurde aus diesem so belesenen, eleganten Mann ein hilfloses Häuflein. Einmal sagte er zu mir: »Warum sollte es mir anders ergehen als Mutti?« Er, der sein Leben lang anderen Menschen in seelischer und körperlicher Not beigestanden hatte, wusste sich selbst nicht zu helfen und ging am Leiden und Sterben seiner geliebten Frau mit zugrunde.

Der Tumor wuchs schnell nach und verursachte eine Demenz, die rasant voranschritt. Mein Vater wurde orientierungslos, verlernte zu laufen, zu sprechen, Dinge zu überblicken. Er bildete sich ein, meine Mutter sei noch bei ihm und bereitete Brote für sie zu, die er statt mit Butter mit Senf bestrich. In den letzten Wochen war er kaum noch bei Bewusstsein. Er starb allein an einem frühen Morgen Anfang Januar 2001, ein knappes Jahr nach meiner Mutter. Es war wohl das einsamste Jahr seines Lebens. Meine Schwester bedauert, dass sie in seiner Todesstunde nicht bei ihm war. Ich hingegen denke, dass er nur allein gehen konnte. Mein Vater, der zeitlebens seine tiefsten Gefühle und Gedanken verbarg und höchstens unsere Mutter daran teilhaben ließ, ging so, wie er gelebt hat. Ganz für sich und sehr still. Er wurde siebzig Jahre alt.

Meine Eltern schauen Zeichnungen meines Vaters an, die in ihrem Wohnzimmer hängen.

Als ich vor zwei Jahren meine Wohnung entrümpelte, nahm ich viele Dinge noch einmal in die Hand, die meinen Eltern gehört hatten. Das meiste ließ ich los, es war an der Zeit. Zu den wenigen Sachen, die ich behielt, gehörte eine große Schachtel mit den Zeichnungen und Aquarellen meines Vaters. Ich zeigte sie meinen Nichten, die ihren Großvater nicht mehr kennenlernten. Mit großer Begeisterung wühlten sie in den alten Zeichenblättern und nahmen sich besonders schöne heraus, die sie in ihren Studentenwohnungen aufhängen wollten. Eine Nichte, die selbst viel zeichnet, sagte angesichts eines Heftchens mit Gesichtsstudien: »Genauso mache ich das auch.« Da schloss sich ein Kreis.

Menschen, die meine Eltern noch kannten, behaupten heute übrigens, ich würde mit zunehmendem Alter meiner Mutter immer ähnlicher sehen. Wenn ich in den Spiegel schaue, muss ich ihnen recht geben, manchmal denke ich, dass ich sogar meiner Großmutter ähnele. Irgendwie haben die Frauen in meiner Familie sich am Ende immer durchgesetzt. Doch das ist eine andere Geschichte.

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