Der grausame Optimismus persönlicher Produktivität
Als Peter Drucker 1959 den Begriff der Wissensarbeit prägte erkannte er, dass Wissensarbeiter ihre Arbeitsmittel zwischen den Ohren tragen und sich dadurch die Machtverhältnisse des Taylorismus umkehrten. Waren die ungelernten Fließbandarbeiter offensichtlich auf die Fabrik mit ihren Fließbändern angewiesen, ist nun zunehmend die Organisation auf die Wissensarbeiter angewiesen und in gewisser Weise von deren Wohlwollen abhängig.
Wissensarbeiter sind mobil und das verschafft ihnen Macht.
Richtigerweise folgerte Drucker: „Sobald sie über das Lehrlingsstadium hinaus sind, müssen Wissensarbeiter mehr über ihren Job wissen als ihr Chef – sonst eignen sie sich überhaupt nicht.“ Wissensarbeiter müssen folglich auf Augenhöhe geführt werden. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein hohes Maß an individueller Autonomie in der Ausgestaltung der eigenen Wissensarbeit.
Und damit begannen die Probleme.
Der Taylorismus war von einer klaren Trennung von Denken und Arbeiten gekennzeichnet: Der Manager definierte und optimierte die Abläufe und der Arbeiter führte sie dann aus. Das geringe Maß an Autonomie für den einzelnen Arbeiter war zwar wenig motivierend, aber mit dem klassischen Manager war wenigstens jemand für die optimale Gestaltung der Abläufe verantwortlich. Mit der Autonomie der Wissensarbeit wurde auch Produktivität zur individuellen Angelegenheit. Das ganze Feld der persönlichen Produktivität, das heute viele Regalmeter an Büchern füllt und Thema von so vielen Podcasts und Artikeln ist, macht überhaupt erst im Kontext von autonom gestaltbarer Wissensarbeit Sinn.
Natürlich ist es kein Fehler sich selbst und seine Arbeit gut zu organisieren. Im Gegenteil, gute Organisation kennzeichnet Professionalität und Exzellenz aus. Doch es greift eben auch zu kurz, wenn Produktivität hauptsächlich als individuelle Angelegenheit behandelt wird ohne gleichzeitig an den systemischen Ursachen zu arbeiten. Die Historikerin Lauren Berlat prägte dafür den Begriff des grausamen Optimismus, den Johann Hari so beschreibt: "Man nimmt ein wirklich großes Problem mit tiefgreifenden Ursachen in unserer Kultur (…) und bietet den Menschen in optimistischer Sprache eine einfache individuelle Lösung an."
Wenn in der Organisation zu viele Projekte gleichzeitig laufen und wenn darüberhinaus die dafür notwendige Zusammenarbeit im Wesentlichen auf Zuruf passiert, sei es physisch über den Schreibtisch im Büro, durch Besprechungen, E‑Mails oder Chat-Nachrichten, lindert die individuelle Produktivität nur die Symptome. Von „Getting Things Done“ und „Mind like Water“ kann der einzelne Wissensarbeiter in einer solchen unorganisierten Organisation nur träumen. Stattdessen erlebt er täglich den ganzen Wahnsinn dieses „hyperaktiven Schwarmbewusstseins“ in einer auf „Pseudo-Produktivität“ optimierten Kultur, wo Betriebsamkeit systematisch als Produktivität fehlinterpretiert wird.
Den ausführlichen Artikel mit Links und Literatur findest du im Blog (Si apre in una nuova finestra).
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Marcus
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