Die Fußfessel der Marine Le Pen, oder: Antifaschismus ist der neue Klimaschutz Teil 2.

02/04/2025
Liebe Leute,
heute ein Text aus dem Zug nach Zürich, wo ich meine Lesereise mit #DasKleineRosaBuch fortsetze: zuerst mit einem Gespräch mit Daniel Strassberg (Si apre in una nuova finestra) für die Republik (Si apre in una nuova finestra), dann folgen zwei Lesung-und-Diskussionsevents mit meiner alten Freundin Payal Parekh, am 3.4. in Basel (Si apre in una nuova finestra), am 4.4. in Bern (Si apre in una nuova finestra), dann noch ein Workshop mit den schweizer Fridays zum Thema “solidarisches Preppen”, und das ganze endet in einem Tag Bergwandern. Ein etwas hektischer Kalender, aber ich freu mich sehr auf das Programm :)
Marine Le Pen und ihr passives Wahlrecht
So, jetzt zur Sache: es geht zuerst mal um die oft skeptischen Reaktionen auf das Urteil gegen Marine Le Pen – die bald im Hausarrest eine Fußfessel tragen könnte, die aber schon jetzt von der Präsidentschaftswahl 2027 ausgeschlossen ist (pending appeal) – in Teilen des deutschen Bürger*innentums, und, daraus abgeleitet, um meine alte Sorge, dass die deutsche Mitte sich zum Antifaschismus ähnlich verhalten wird, wie zum Klimaschutz (Si apre in una nuova finestra): ein Projekt, das formal alle außer den Faschos gut finden, für das aber Dinge getan werden müssen, die der Gesellschaft zu schwierig erscheinen, weshalb man am Antifaschismus scheitern wird, wie zuvor schon beim Klimaschutz, und ihr wisst, wie es derzeit denen ergeht, die an dieses Scheitern erinnern.
Ich wachte nämlich gestern auf, und freute mich erstmal wie Oskar über dieses Urteil: nicht primär über die Fußfessel, die freute mich einfach aus antifaschistischer Boshaftigkeit, sondern über den Ausschluss vom passiven Wahlrecht, eine Freude, die von den Nachrichten aus Brasilien noch verstärkt wurde, weil die Justiz dort ganz offensichtlich die Gefahr erkannt hat, die bei einer Wiederwahl Jair Bolsonaros (Si apre in una nuova finestra) drohen würde, weshalb sie ihm dort jetzt richtig die Hölle heißmachen.
Obrigado Brasil, merci a la France: vielleicht habt Ihr von den USA gelernt, wo die liberalen Eliten so mäßig, so mutlos, so handlungsunfähig und ängstlich waren, dass sie es nicht wagten, Trump den Prozess für Hochverrat zu machen, wie er es spätestens nach dem 6.1.2021 verdient hätte. Dort hatte man die Chance, ihn abzuräumen, hätte dann natürlich mit den wahrscheinlich brutalen Reaktionen seiner fanatischen und bewaffneten Anhänger*innen umgehen müssen, dies aber aus einer Position, wo man (als bürgerliche “Mitte”) noch die Hebel der Exekutive kontrolliert. Man tat es aber nicht, man ließ ganz offensichtliche Rechtsbrüche durch Trump einfach durchgehen, signalisierte den Faschos dadurch, dass sie sich alles erlauben können.
Die Angst der Mitte vor der Realität
Natürlich ist es irgendwie nachvollziehbar, warum die Dems so herumgememmt haben. Erstens, weil sie tatsächlich und nachvollziehbarerweise Angst vor den Gegenschlägen und Racheakten der Faschos hatten, aber der Trick dabei ist halt der: wir, die wir nicht weiße heterosexuelle reiche cis-Männer in der “Mitte der Gesellschaft” sind, müssen dauernd Angst haben vor den Racheakten und Übergriffen und anderen für uns gefährlichen Ausdrücken der menschlichen Unzulänglichkeit der Faschos (Si apre in una nuova finestra).
D.h., es ging zweitens um die Verdrängung dessen, was “Faschismusgefahr” real bedeutet. Dass es bedeutet, bedeuten muss, auch die eigenen liebgewordenen Regeln bürgerlicher Höflichkeit und “we're always playing by the rules we set ourselves” aufzugeben. Das ist das, was mit “by any means necessary (Si apre in una nuova finestra)” gemeint ist: es meint nicht, wie manche allzu mittigen Langweiler*innen immer wieder unterstellen, “mit Gewalt”, obwohl natürlich auch diese unter Umständen notwendig sein wird (wir nennen sie dann eher “Militanz”). Es meint genau das, was es sagt, mit allen notwendigen Mitteln, unter anderem auch juristischen, unter anderem auch solchen, die zu massiver Gegenwehr führen könnten. Damit muss man dann halt umgehen. Politik geht nicht ohne Risiken.
Das scheint man in Brasilien und Frankreich (in Teilen) gelernt zu haben, die deutsche Mitte aber, sogar ihre klügsten Vertreter*innen wie zum Beispiel Bernd Ulrich bei der Zeit, haben sich gestern gewunden, fanden irgendwie, dass das doch etwas zu weit ginge, zu “politisch” sei, das mit dem Entzug des passiven Wahlrechts. Es wurde immer wieder betont, dass es aus einer Demokratieperspektive problematisch sei, eine derart populäre Politikerin von der Wahl auszuschließen, wie es auch immer wieder gerne bei der Frage eines möglichen AfD-Verbots argumentiert wird (“Man kann keine 20%-Partei verbieten!” - häh, wieso nicht? Dann wird's umso wichtiger und dringender, sie zu verbieten).
Was macht die Mitte gegen den Faschismus?
Was bei mir die Frage aufwirft: herregud, liebe Mitte, liebe Demokratiefetischist*innen (Demokratiefetisch ist der Irrglaube, dass jedes gesellschaftliche Problem dadurch gelöst werden kann, dass die Mehrheit bestimmt, was damit zu tun sei – dass dem nicht so ist, sollte Deutschland eigentlich irgendwie gelernt haben, hat es dann aber halt wieder verdrängt, weil “die Nazis”, das muss ja jemand anderes gewesen sein, als wir (Si apre in una nuova finestra)), seid ihr wirklich nur gegen den Faschismus, solang er eine gesellschaftliche Minderheit darstellt? Glaubt Ihr, es ist nicht mehr möglich, oder gar notwendig, gegen den Faschismus zu kämpfen, wenn er über 20% gesellschaftliche Zustimmung erhält? Wollt Ihr ihn dann “einbinden und entzaubern”, oder was fürn Scheiß stellt Ihr Euch hier vor?
Was glaubt Ihr eigentlich, wie Antifaschismus aussieht, wenn der Faschismus erstmal an der Macht ist? Glaubt Ihr, dass man dann noch nach den allgemeinen Spielregeln spielen kann? Natürlich nicht, weil die Faschos dann die Regeln schreiben. Und wenn man dann die Regeln brechen werden muss, dann sollte man doch lieber jetzt schon damit anfangen, damit wir später nicht die “Verlegenheit” kommen, in einer Situation agieren zu müssen, in der die Faschos, nicht die “Mitte”, die Hebel des Staates kontrollieren, denn dass das eine einzige Dauerkatastrophe ist, zeigt die Situation unter Trump II.
Ein derartiges Szenario muss also unter allen Umständen von den Demokrat*innen verhindert werden, um die Demokratie zu bewahren: hier komm ich natürlich, sorry, auf das berühmte “Toleranzparadoxon”, wo intolerantes (undemokratisches) Handeln notwendig ist, um Toleranz (Demokratie) zu bewahren. Natürlich war das Urteil gegen Le Len nicht “undemokratisch”, es war aus der Perspektive des französischen Staates ein völlig legitimes Urteil im Rahmen der gegebenen Situation (zumindest, bis ein anderes Gericht das kassiert). Es war aber vor allem auch ein politisch und strategisch richtiges Urteil, weil es den Faschos zeigt, dass sie nicht ständig Gesetze brechen, damit durchkommen, und dann trotzdem noch Wahlen gewinnen können. Es zeigt den Faschos, dass es gegen sie wehrhafte Strukturen gibt, und dass das nicht nur ein paar linksradikale Antifaschist*innen sind.
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Keine Lust auf anstrengenden Antifaschismus
Und genau darin liegt das Problem der Mitte: die mag ihren Antifaschismus nämlich so, wie sie ihren Klimaschutz mag: “auf eine Art und Weise, die uns nichts kostet, die nichts grundlegendes verändert, und die uns vor allem auf keine Art und Weise überfordert, denn wir sind ja alle schon so wahnsinnig überfordert, da geht einfach nicht mehr. (Si apre in una nuova finestra)” Genau deshalb hat sie Angst davor, die Faschos wirklich zu konfrontieren, weil das bedeuten würde, gleich mehreres anzuerkennen:
dass es durchaus möglich ist, dass der Faschismus in Deutschland wieder die stärkste Kraft werden könnte, und dass darf ja nicht nochmal passieren (wird es aber wahrscheinlich bald (Si apre in una nuova finestra));
dass es die Politiken “der Mitte” sind, die die Faschisierung vorantreiben;
dass also richtig, richtig viel geändert werden müsste, um effektiv gegen die Faschos vorzugehen, unter anderem der allzu... gehorsame politische Habitus der Mitte.
Um es direkt zu sagen: gegen den Faschismus zu kämpfen ist auch und gerade dann notwendig, wenn er gesellschaftliche Mehrheiten organisiert hat, oder kurz davor ist, das zu tun. Dieser Kampf kann sich an Regeln halten, wenn das taktisch geboten ist, er muss Regeln brechen können, wenn notwendig. Er muss ein Kampf sein, in dem wir Antifaschist*innen verstehen, dass ALLES auf dem Spiel steht, und deswegen auch alles in die Wagschaale geworfen werden muss. Dass der Aufstieg des Faschismus das Ende unserer Welt bedeutet.
Und genau deshalb reagiert die dt. Mitte so dämlich auf das Le Pen-Urteil: denn das Urteil belegt genau das, was in Deutschland so gerne verdrängt wird – dass die Zeitenwende real ist, und zwar in (fast) jedem Politikfeld. Dass die alte Welt gestorben, und die neue noch nicht wirklich entstanden ist. Dass auch bürgerliche Antifaschist*innen vielleicht irgendwann aus dem Land fliehen, vor den Bullen wegrennen, oder mit dem Molli in der Hand eine Geflüchtetenunterkunft gegen ein Mob von Nazis und Bullen verteidigen müssen.
Und wisst ihr, was für die Bürgis das schlimmste ist? Sie wissen ganz genau, dass sie das natürlich nicht tun werden. Dass sie hundertprozentig der Sequenz aus dem Niemöller-Spruch folgen und zuschauen werden, wie zuerst Migrant*innen und trans, dann Queers und Kommunist*innen, dann Linksliberale usw abgeräumt werden, und je privilegierter der Mittemensch, der weiß, dass er zuschauen wird, wenn wir in die Lager gekarrt werden, desto schlechter sein Gewissen, desto intensiver die Verdrängung.
Und wehe, ich sage Euch...
Es wird also gar nicht mehr so lang dauern, bis die Mitte sich vom Antifaschismus so abwendet, wie sie sich vom Klimaschutz abgewendet hat. Klar, dass können wir radikaleren Antifaschist*innen beweinen, aber es wird passieren, so let's deal with it. Das beste, was wir bis dahin machen können, ist die noch auf dem Thema liegende Aufmerksamkeit der Mitte ausnutzen, und dieses Jahr dafür sorgen, dass radikaler Antifaschismus und die Selbstverteidigung der “offenen Gesellschaft” in eins fallen: bei ganz, ganz vielen von bürgerlichen und nicht-queeren Allies geschützten CSDs und Pride Märschen (Si apre in una nuova finestra).
Dieses Jahr wird Antifaschismus noch cool sein. Lasst Euch von einem Klimaaktivisten warnen: der Moment, wo diese Coolness in Ablehnung umschlägt, ist ziemlich hart, wir müssen auf ihn vorbereitet sein. Weil: kommen wird er genau so sicher, wie das Amen in der Kirche, und das “ich bin nicht schuld!” im bürgerlichen politischen Diskurs.
Mit antifaschistischen Grüßen,
Euer Tadzio