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Rammstein: Eine Frage der Haltung

Einige Gedanken zu dem Skandal um Rammstein-Sänger Till Lindemann von einem (eigentlichen) Fan.

Die Geschichte von Rammstein ist eine Geschichte voller Skandale. Die Band hat schon immer nicht nur mit den Grenzen des guten Geschmacks, sondern ganz ausdrücklich auch jenen des Taktgefühls gespielt. Angefangen bei der durchgehenden martialischen Pose und dem teutonischen Brachialsound, die die Band früh dem Verdacht der Faschismusverherrlichung aussetzten, über Hardcore-Pornovideos, bis zur Indizierung des Stückes “Mein Teil”, in dem auf den Fall des Kannibalen Armin Meiwes referenziert wurde. Rammstein waren immer Provokation, Verachtung der bürgerlichen “guten Sitten”, ihre Texte und Themen waren ein Fest für jeden, der gerne in Subtexten herumwühlt. Ich bekenne unumwunden, dass ich das immer großartig fand. Dieses lustvolle Übertreten von Grenzen, dieses Spiel mit Anstand und Kleingeistigkeit, diese wundervolle Mischung aus Pathos und Aggression, mit der ich mich auf seltsame Weise identifizieren konnte. Rammstein stellten alles in Frage, “was man nicht tut”, weil es sich nicht gehört.

Der Aufschrei der Bürgerlichkeit begleitet also zuverlässig beinahe jedes neue Album, jedes neue Video, und meist regt sich dabei nur mein innerer Troll, der sich darüber freut, wie sich Spießbürger aufregen. Meistens lässt sich der öffentliche Furor weglächeln, weil er nur eine Variation von “Dürfen die das?” ist. Das scheint diesmal anders. Und dann noch einmal anders, denn der Skandal hat im Laufe der letzten Tage mehrmals die Richtungen gewechselt, weshalb es zunehmend schwer wurde, den Überblick zu behalten, und ich diesen Artikel dreimal neu beginnen musste.

Ein kurzer Überblick ohne Anspruch auf Vollständigkeit

Die Irin Shelby Lynn hat letzte Woche nach einem Rammstein-Konzert in Vilnius, Litauen, in den Sozialen Medien mehrere Posts geschrieben, in denen sie den Verdacht äußert, auf der exklusiven Aftershow-Party unter Drogen gesetzt worden zu sein. Sie ergänzte ihre Posts mit Fotos (Si apre in una nuova finestra), die diverse Prellungen und Striemen auf ihrem Körper zeigten. Verletzungen, von denen sie keine Ahnung habe, wie und wobei sie entstanden seien. Es waren heftige Bilder, die nach deutlicher Gewalt aussahen, und ihren Post einige Glaubwürdigkeit verliehen. Die Implikation von Post und Bildern war mehr als klar, auch wenn Lynn es nicht aussprach: Jemand aus dem innersten Kreis der Band, womöglich sogar Sänger Till Lindemann selbst, hatte sie mit Drogen ausgeschaltet und dann vergewaltigt.

Die Frau beschrieb detailliert, wie sie auf die Party gelangt war. Eine Frau namens Alena kontaktiert offenbar regelmäßig vor Konzerten aktiv attraktive weibliche Fans, stellt ihnen einige Fragen, etwa nach ihrem Alter, und lädt sie dann in die Row Zero, also den Platz ganz vorne an der Bühne, auf Pre- oder Aftershow-Parties ein. Nachdem der Ursprungspost von Lynn einige Aufmerksamkeit bekam, postete sie Screenshots von anderen Fans, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten. Die Authentizität der Berichte lässt sich nicht so ohne weiteres prüfen, aber die Berichte wirkten durch Stil, Typos und Sprachfehler zumindest glaubwürdig. Bei Instagram postete sie außerdem Videos, die sie im Gespräch mit engen Rammstein-Mitarbeitern zeigten, alles erschien sehr lückenlos, um es vorsichtig zu formulieren, und mir selbst steckte zu dem Zeitpunkt meine Rammstein-Liebe wie eine Gräte im Hals. Auf dem offiziellen Rammstein-Account wurde recht schnell ein Dementi gepostet.

Den gewalttätigen Rückschluss zogen auch andere User und – wichtiger noch – diverse Medien. Die Worte “Gewalt” und “Vergewaltigung” tauchten in mehreren Artikeln auf und alle stellten die Verbindung zu Till Lindemann her. Shelby Lynn, der Ursprung der Verdächtigungen, verlinkte sie alle unkommentiert in ihren Instagram-Stories. Alles wirkte wie ein weiterer Fall von #MeToo. Zahlreiche Frauen beschließen, nicht länger zu schweigen, und bringen so einen berühmten (meist weißen) Mann mit Macht und Reichweite zu Fall. Entsprechend hoch kochten in den Sozialen Medien die Gefühle – sowohl bei Feministinnen als auch bei Rammstein-Fans. Hüben wurden alte Songtexte und Gedichte aus Lindemanns Feder als Indizien für seine Schuld ins Feld geführt, drüben erschallten die erwartbaren wie ermüdenden Rufe nach Unschuldsvermutung und der Trennung von Kunst und Künstler. Wie oft bei Twitter-Aufregern beschloss ich, erst einmal abzuwarten, bevor ich mich positioniere. Und mir scheint, das war auch ganz gut.

Völlig überraschend schrieb Lynn am 30. Mai (Si apre in una nuova finestra), Lindemann habe sie nicht angefasst, sondern akzeptiert, dass sie keinen Sex mit ihm wolle. Sie habe nie behauptet, er habe ihr Gewalt angetan. Nach den recht eindeutigen Implikationen ihres Ursprungsposts erschien das vielen wie ein Zurückrudern, ihre Tweets und Insta-Stories wie Falschanschuldigungen, der Aufmerksamkeit wegen. Als dann auch noch ein Interview mit einer Konzertbesucherin aufkam, die in Vilnius mehr oder weniger die ganze Zeit mit Shelby Lynn zusammen war, und keine einzige von Lynns Behauptungen bestätigen konnte (Si apre in una nuova finestra), qualmte mir der Kopf. Aussage gegen Aussage, wieder einmal, und ich dachte “Fuck it, I’m out, wer soll da noch durchsteigen?”

Ich bin sicher, dass nicht zuletzt wegen dieses “Jetzt wird es durcheinander, ich halte mich raus!” viele Anklagen von sexuellen Übergriffen oder Ausbeutung verpuffen. Aussage gegen Aussage, ich kann es nicht prüfen, also bleibe ich still. Und Stille, Schweigen hilft am Ende immer nur den Tätern, niemals den Opfern, so viel sollten wir nach fünf Jahren #MeToo gelernt haben. Das Interview mit Lynns Begleiterin erschien auf einem Youtube-Account, der sich mit “MeToo-Hoaxes” beschäftigt, es ging also von vorne herein in dem Interview darum, Lynn als unglaubwürdig vorzuführen. Grund genug für mich, trotz des Durcheinanders dranzubleiben.

Was, wenn es gar nicht um K.O.-Tropfen geht?

Denn ich glaube, das wirklich Skandalöse hier ist nicht die Frage, ob die Irin unter Drogen gesetzt wurde, oder woher die vielen Prellungen an ihrem Körper kamen. Das Skandalöse, das wirklich Hässliche, das mich Till Lindemann in einem anderen Licht sehen lässt, obwohl ich Rammstein seit zwanzig Jahren innig zugetan bin, ist etwas, das vor der Größe von Lynns ursprünglichen Anschuldigungen und den erschreckenden Fotos zunächst etwas unterging, nämlich das systematische Rekrutieren weiblicher Fans durch jene Alena zum einzigen Zweck der sexuellen Befriedigung von Lindemann. Und im Gegensatz zu dem Drogen-Verdacht, bei dem tatsächlich Aussage gegen Aussage steht und der für Außenstehende kaum zu prüfen ist, wird dieses System von unzähligen Frauen unabhängig voneinander in der gleichen Weise beschrieben. Dabei gilt nicht Aussage gegen Aussage, sondern Aussagen gegen Aussage.

Dieser Aspekt wurde mittlerweile auch von der Süddeutschen Zeitung (Si apre in una nuova finestra) aufgegriffen, die mit vielen der Frauen gesprochen hat. Die beschriebene Praktik ist weit entfernt von zufälligen Sex-Begegnungen zwischen Star und Groupie, wie es sie vermutlich seit Anbeginn der Musik gibt. Bei Rammstein werden weibliche Fans ganz offensichtlich im Vorfeld von Konzerten gezielt von Alena M. und Joe L., einem weiteren engen Band-Mitarbeiter, nicht nur nach Sexyness, sondern auch nach Willigkeit gecastet. In zahlreichen Screenshots von Unterhaltungen mit den beiden wird teilweise explizit danach gefragt, ob die jeweiligen Fans bereit wären, mit Lindemann Sex zu haben. Auch Shelby Lynn, die den ganzen Skandal in Rollen gebracht hatte, berichtete davon, dass Lindemann sie in der Erwartung von Sex in einem kleinen Kabuff unter der Bühe getroffen habe. Als sie sich weigerte, habe er das zwar akzeptiert, war jedoch höchst aufgebracht, denn “Joe hat mir gesagt, Du würdest Sex mit mir haben!”

Weibliche Fans, das wird an diesem ganzen Aufruhr mehr als deutlich, sind für Lindemann Gebrauchsgegenstände. Dazu da, ihn vor, während und nach den Konzerten zu befriedigen. Der Wutausbruch darüber, dass Lynn keinen Sex mit ihm wollte, entlarvt Lindemann nicht nur als fragiles Ego, sondern auch als Mann, der Frauen gegenüber eine gewisse Konsumhaltung an den Tag legt. Der Anspruch solcher Männer: Du bist hier, um mich zu befriedigen. Frauen, die diesen Anspruch nicht erfüllen, haben das Recht auf Respekt und Hinwendung augenblicklich verwirkt. Welche Frau könnte nicht stundenlang Geschichten erzählen von den Ottonormalverbrauchern, die nur solange freundlich sind, solange sie Hoffnung auf sexuelle Befriedigung haben, um nach einem Korb – egal wie freundlich vorgetragen – auf aggressive Ausbrüche umzusteigen? Es liegt etwas zutiefst Unreifes, ja, Kindliches in dieser Reaktion. Wut, weil man etwas nicht bekommt, was man möchte, erinnert einfach zu sehr an Kinder, die sich im Supermarkt vor dem Quengelregal auf der Erde wälzen.

Was ist normal? Wo beginnt Machtmissbrauch?

Männer, die derart unreif sind, sind immer unangenehm. Aber wirklich unangenehm werden sie, wenn sie zu Macht kommen. Wenn sie in Positionen geraten, in denen sie manipulative Netze auswerfen können, um zu bekommen, was sie wollen. Till Lindemann steckt unzweifelhaft in einer solchen Position. Er ist ein Star, seine weiblichen Fans nicht. Er hat Reichweite, seine weiblichen Fans nicht. Er hat Geld und Einfluss, seine weiblichen Fans eher nicht.

Eine prominente Position bringt immer Privilegien mit sich, das weiß ich als “Ex-Frau von” durchaus und ich finde es nicht schlimm, in einem gewissen Rahmen von diesen Privilegien zu profitieren. Der Rahmen besteht nicht nur aus Legalität, sondern auch Anstand und Respekt vor anderen Menschen. In dem Moment, in dem jemand die Privilegien gezielt nutzt, um andere materiell, sexuell oder in sonst einer Weise auszubeuten, entsteht nach meinem Verständnis Machtmissbrauch. Eine Art Casting-System zu schaffen, in dem Sex mit einem weiblichen Fan nicht mehr abhängig ist von einer situativen Chemie, einem guten, gemeinsamen Vibe, sondern sichere Sache und Grundvoraussetzung für ein “Meet & Greet” mit dem großen Till Lindemann, ist Machtmissbrauch. Wo gezielt darauf geachtet wird, dass keine männlichen Fans und keine Smartphones anwesend sind, da steckt System hinter diesem Zuführen von “Fickmaterial”.

Das hat mit einem unschuldig-frivolen Groupietum nichts zu tun, denn hier enteteht Druck auf die Frauen. Entweder im Vorfeld oder eben in dem unangenehmen Moment, in dem man sich plötzlich mit der Wut eines physisch durchaus einschüchternden Mannes wie Till Lindemann auseinandersetzen muss. Das Victim-Blaming, das in den letzten Tagen immer wieder zu lesen war, kann deshalb nicht greifen. Denn wo Druck ausgeübt wird, wo das Kennenlernen des Idols als Belohnung für sexuelle Verfügbarkeit dient, wo ganz allgemein gesprochen Der Große auf Die Kleine trifft, da sind Sexpartner niemals ebenbürtig. Sie können es wegen des dramatischen Machtungleichgewichtes auch gar nicht sein.

Was bei Rammstein geschieht, ist – oder scheint bis jetzt – nicht strafbar zu sein, klar. Aber – und auch das sollten wir aus #MeToo gelernt haben – justiziable Übergriffe sind nicht der einzige Maßstab für männlichen Machtmissbrauch und sexuelle Ausbeutung von Frauen. Und das ist auch gut so. Denn zu dem Ende eines ungerechten Systems gehört immer auch ein Neuverhandeln von Moral und Ethik. Die Entkoppelung dieser beiden Faktoren von der Justiz ist in meinen Augen ohnehin ein kapitaler Fehler dieser männlichen Zivilisation. Sie ermöglicht Arschlöchern, ihre Macht vollkommen unbehelligt zu missbrauchen, solange sie bestimmte justiziable Grenzen nicht überschreiten. Viele Menschen sehen es als Vorteil der freiheitlichen Welt, dass sie auch Arschlöcher aushalten muss, und bis zu einem gewissen Grad gebe ich diesen Menschen recht. Aber da, wo in den Händen von Arschlöchern Macht zusammenläuft, da, wo Arschlochverhalten sogar mit Ruhm und Reichtum belohnt wird, stimmt etwas ganz grundsätzlich nicht, da muss das System nachgebessert werden. Man kann in meinen Augen die weltweite #MeToo-Welle nicht genug dafür feiern, dass sie gezeigt hat, dass zumindest Frauen nicht mehr länger bereit sind, männliches Arschlochverhalten hinzunehmen.

Ich finde, dass Kunst eine ganze Menge darf. Zum Beispiel sich über gesellschaftliche Regeln und Tabus hinwegsetzen. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, mich an Empörungsstürmen über Frauen objektivierende Gedichte und Liedtexte zu beteiligen. Egal, ob sie von Rammstein oder von Eugen Gomringer stammen. Kunst darf das. Das fand ich damals und das finde ich heute. Kunst spiegelt immer Innenwelten wider, immer. Und ich denke ganz im Sinne von “Die Gedanken sind frei”, dass Innenwelten verstörend sein können, dürfen, meine eigene Innenwelt ist verstörend. Innenwelten, die nicht verstören, interessieren mich nicht.

Was ich nicht finde: Dass Männer mit Macht sich weiter ungestraft wie Arschlöcher verhalten dürfen sollten – unabhängig davon, ob ihr Verhalten justiziabel ist oder nicht. Statt sich also auf juristische Feinheiten zu konzentrieren, sollte man sich vielleicht viel öfter fragen, ob es in der Situation, die es zu bewerten gilt, ein Arschloch gibt.

Und nach Sichtung von zig Screenshots, Insta-Stories und Gesprächsverläufen, gibt es meiner Meinung nach hier nicht nur ein Arschloch, sondern ein ganzes Arschlochsystem. Ein System, das demaskiert gehört. Ins Licht gezerrt. Angeklagt. Vielleicht nicht juristisch, aber moralisch. Und das alles sage ich mit dem Bedauern eines Fans, der die Kunst dieser Band zwanzig Jahre lang von ganzem Herzen bewundert hat.

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Argomento Feminismus & Patriarchat

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