Ist Nichtstillen eine Sünde? Nicht für Adelige!
Der Arzt Jan Abraham von Gehema (1647-1715) schrieb 1689 ein Buch über die Ammenhaltung. Darin stellt er die Frage, ob eine Christin überhaupt das Stillen ihres Kindes einer Amme überlassen dürfe, oder ob dies eine Sünde sei.
Er kommt zu dem Schluss, dass eine Frau, die von Gott mit gesunden Brüsten ausgestattet worden sei, ihr Kind auch selber stillen müsse. Selbst wenn das Stillen ihr Schmerzen bereite, müsse sie es tun, schließlich soll sie auch unter Schmerzen gebären. So will es Gott.
Dann aber sagt Gehema, dass adelige Frauen von Gott zu Höherem bestimmt seien, und daher ohne Gewissensbisse das Stillen ihrer Kinder den Ammen überlassen könnten.
"Eine gantz andere Beschaffenheit hat es mit Königlichen, Fürstlichen, und Größer Herren Kinder, denn gleichwie Dero hohe Eltern von GOtt dem HErrn zu Göttern und Regenten ihrer Königreiche, Fürstenthümer und Herrschafften, allhie in der Welt gesetzet sind, als ist Ihnen aus erheblichen und sehr wichtigen Ursachen (welche allhie beyzuhühren nicht der Orth ist, viel weniger meine function erfordert) nicht allein erlaubet, sondern kan auch ohne die geringste Beschwehrung des Gewissens wohl geschehen, daß sothane Königliche und Fürstliche Eltern, (sage ich) Dero Hochgebohrene Kinder, von qualificirten, tüchtigen und gesunden Säug-Ammen stillen lassen, wann nur dieses genau observirt werde, daß so viel immermehr müglich ist, die Mütterliche, mit der frembden Milch, an Alter, Geschmack und Fettigkeit überein komme; worzu man dann gar leichtlich gelangen kann, wann erstlich solche Säug-Ammen erwehlet werden, die auf eine Zeit, mit der Königlichen oder Fürstlichen Kindbetterin entbunden sind, und zweytens mit gesunder und dienlicher Speise und Geträncke, (wie hiernechst folgen soll) erhalten werden."
Zitat des Tages aus: Die Sorgfältige und Gewissenhaffte Säug-Amme, Jan Abraham von Gehema, Berlin, 1689
Durch Texte wie diesen wird es deutlich, wie sich das Ständedenken auf die Gesellschaft auswirkte. Wenn eine Gruppe von Menschen denkt, sie sei von Gott auserwählt und somit etwas Besseres und Wichtigeres als alle übrigen Menschen, und ein Großteil dieser übrigen Menschen dasselbe denkt, ist das ein Nährboden für Ungerechtigkeit, Ausnutzung und Leid.
Außerdem …
Auch 200 Jahre später hielten sich adelige Frauen noch für etwas Besseres als die Ammen, die sie beschäftigten. In den Ratschlägen zur Ammenhaltung (Si apre in una nuova finestra) von J. von Wedell (Si apre in una nuova finestra) sehen wir deutlich das gesellschaftliche Gefälle, das dieses Angestelltenverhältnis überschattete.
Aufklärung über die Ursachen gesellschaftlicher Missstände ist unentbehrlicher Bestandteil des Kampfes für eine bessere Welt für unsere Kinder. Hilf mir bei dieser Arbeit. Werde Mitglied.