Trotz alledem
Von der Ohnmacht, wenn uns das Zeitgeschehen eine Katastrophe nach der anderen vor die Füße wirft und linke Stimmen im Internet einander zerfleischen.
Nie wieder!?
Im Internet zu wohnen ist gerade wirklich nicht so einfach. Quasi in Echtzeit mitzuverfolgen, wie wir einen Zivilisationsbruch nach dem anderen erleben, reicht eigentlich schon, um die eigene mentale Gesundheit ernsthaft auf die Probe zu stellen. Wie schrieb ich anlässlich der Eskalation in der Ukraine schon? Die Gleichzeitigkeit der Dinge ist schwer zu ertragen.
Doch mit dem offen antisemitischen Terror durch die Hamas bekommt der Schrecken auf Social Media eine ganz neue Dimension. Denn wo in der Ukraine-Frage mehrheitlicher Konsens war, wer Aggressor und wer Opfer war, und die wenigen linken Pro-Putin-Stimmen relativ schnell als Randerscheinung entlarvt wurden, entbrennt über den antisemitischen Terror innerhalb deutschsprachiger linker Lager ein ideologischer Kampf. Mein Instagram-Feed ist dieser Tage voll mit passiv-aggressiven Provokationen von beiden Seiten. Da, wo wir mit einer Stimme laut "Nie wieder!" rufen sollten, werden die gemeinsamen Linien des antifaschistischen Konsens plötzlich verwischt. Die Grenzen zwischen richtig und falsch werden unscharf und plötzlich dient die Erkenntnis, dass die meisten Sachverhalte in der Regel zu komplex für Sharepics sind, als Schutzschild für die Verbreitung von Kriegspropaganda auf der einen und wütende Anklagen auf der anderen Seite.
Das Ordnungssystem hat Risse
Dazwischen bleiben all diejenigen zurück, die den antifaschistischen Konsens des Nie wieder eigentlich von Herzen teilen, aber von all den Konfliktlinien im analogen und digitalen Leben völlig überfordert sind. Und wir bleiben voller Angst und Unsicherheit und mit gebrochenem Herzen zurück. Nicht nur, weil diese Welt uns eine Katastrophe nach der anderen vor die Füße wirft und wir uns gleichzeitig schuldig fühlen angesichts unserer ja doch so sicheren, privilegierten Situation. Sondern auch, weil die Ordnungssysteme, denen wir bislang vertraut haben, nicht mehr zu funktionieren scheinen. Das Versprechen einer sorglosen Zukunft geht für uns schon lange nicht mehr auf und nun können wir selbst den Stimmen auf Instagram, die sonst so viel Kluges sagen, nicht mehr trauen.
Diese Art von Verunsicherung erscheint erst einmal wie ein Luxusproblem. Doch für diejenigen, die um Reflexion und Ausgewogenheit bemüht sind und sich ihres eigenen Wissenstands unsicher sind, ist diese Art von emotional aufgeladenem Konflikt in ihrer eigenen Bubble zutiefst verunsichernd. Gerade dann, wenn diejenigen Personen, die sonst als geeinte Front in feministischen und Klassenfragen wahrgenommen wurden, anfangen einander in ihren Stories immer wieder falsche Einordnung und ideologische Propaganda vorzuwerfen, zerbricht ein Stück des Ordnungsrahmens, der uns im Zeitalter unbegrenzter Informationsflut sonst Sicherheit gegeben hat.
Genau das macht die Art und Weise, wie mit diesen Konflikten auf Social Media umgegangen wird, so unerträglich. Denn natürlich soll uns niemand beim Denken betreuen und natürlich müssen wir uns abseits von Social Media, bei ernstzunehmenden Quellen, über die Geschehnisse in dieser Welt informieren. Doch in einer Zeit, in der Informationen ungefiltert und ungebremst auf uns einprasseln, kann uns niemand vorwerfen, Hilfe bei der Einordnung derselben zu brauchen. Es ist kein Versagen, Menschen zu vertrauen, deren Stimmen wir sonst als differenziert und kompetent wahrgenommen haben. Wir sind nämlich immer zuerst einmal Menschen und als solche suchen wir immer erst einmal die Sicherheit zwischenmenschlicher Beziehung bei dem Versuch, mit all den überfordernden Ereignisse dieser Welt zurecht zu kommen. Auch wenn es sich um nicht wirklich gleichwertige, gegenseitige Beziehungen handelt, sondern um Schlüssellochbeziehungen, bei denen wir von unserem Gegenüber viel mehr wissen als diese Person von uns.
Zwischen Fake News und Ohnmacht
Problematisch wird es erst, wenn wir die Dinge, die uns vorgetragen werden, nicht hin und wieder prüfen. Und wenn wir dann feststellen müssen, dass Stimmen, denen wir vertrau(t)en, plötzlich im krassen Widerspruch zueinander stehen. Denn entweder fallen wir sonst Fake News und Propaganda anheim oder unser Ordnungssystem bekommt solche Risse, dass wir anfangen, Fakten grundsätzlich zu misstrauen. Beides macht uns verwundbar für Radikalisierung auf der einen und überforderten Abschottung allem gegenüber auf der anderen Seite.
Ich merke, wie dieses Zusammenspiel aus Weltschmerz und Mitansehen eines Konfliktes verschiedener Insta-Aktivist*innen vor allem das Gefühl der Ohnmacht in mir hinterlässt. Denn diese teils offen, teils passiv-aggressiv ausgetragenen Konflikte führen bei all ihren Zuschauenden vor allem zu dem Gefühl, es sowieso nur falsch machen zu können. Im Endergebnis habe ich mir in den letzten Wochen nicht nur einmal die Frage gestellt: Wenn selbst die, auf deren Kameradschaft ich in Vergangenheit gesetzt habe, einander derart zerfleischen, woher soll die Veränderung dann kommen?
Trotz alledem
Ich werde oft gefragt, wie ich es schaffe, in Anbetracht all dieser Ungerechtigkeiten die Hoffnung nicht zu verlieren und mich immer weiter zu engagieren. Es ist nicht leicht. Manchmal gelingt es mir auch gar nicht und ich gerate - wie zuletzt - mit dem Kopf zuerst in eine depressive Spirale, die mich über Tage hinweg in tiefste Dunkelheit stößt. Aber am Ende halte ich es dann doch immer wieder mit dem WhatsApp-Status meiner Freundin Anne. Dort stehen zwei unscheinbare, aber so unfassbar kraftvolle Worte: Trotz alledem.
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