Die unpolitisch Politische
Wie geht es eigentlich zusammen, sozialkritisch-politische Arbeit zu machen und gleichzeitig kaum theoretische Standardwerke gelesen zu haben? Über das Dasein als Vermittlerin zwischen den Welten.
Zwei Dinge, die für mich rückblickend nicht zusammengehen, sind das breite Allgemeinwissen meiner Mutter bzw. ihre Beharrlichkeit, mit der sie versuchte, mir anhand historischer Ereignisse wichtige Lektionen beizubringen, und die Tatsache, dass ich bis zu meinem gescheiterten Versuch, Sozialwissenschaften zu studieren, nie in Berührung mit feministischen oder sozialkritischen Standardwerken kam. Gerade in Hinblick darauf, dass meine Mutter immer zumindest den Anschein zeigte, großer Fan von Emanzipation zu sein, waren mir Menschen wie Simone de Beauvoir oder Virginia Woolf bis in meine späten 20er kein Begriff. Von Autor*innen linker Theorie ganz zu schweigen. Dafür, dass meiner Mutter eigenständiges Denken immer wichtig war, war meine Kindheit erstaunlich unpolitisch.
Gerade jetzt, während ich den Versuch wage, in die Sphären sozialkritischer Autor*innen aufzusteigen, wird mir das besonders bewusst. Es hätte genug Gelegenheiten gegeben, mich an entsprechende Literatur heranzuführen. Allem Unterschichten-Dasein zum Trotz haben meine Mutter und ich immer viel gelesen. Weil die Bibliothek mein einziger, richtiger Safe Space war, habe ich mit 12 Jahren „Brave New World“ von Aldous Huxley gelesen. Wenn das kein Opening für entsprechende politische Diskussionen gewesen wäre, dann weiß ich es auch nicht. Aber bis auf die stete Mahnung, dass unreflektiertes Mitlaufen mit Mainstream-Entscheidungen mir nichts, dir nichts zur Wiederholung des Dritten Reichs führen kann, gab es derartige Unterhaltungen bei uns zuhause nicht.
Kein Vorbeikommen am Milieu
Beim darüber Nachdenken stelle ich fest, dass das unsere Milieuzugehörigkeit nur untermauerte. All den Büchern zum Trotz, trotz der Brockhaus-Lexika-Reihe im Wohnzimmerschrank und all den verzweifelten Versuchen meiner Mutter, jemand anderes zu sein, waren wir immer Unterschicht. Wir entkamen diesem Milieu einfach nicht. Entsprechend fehlte es meiner Mutter vielleicht auch an Kapazitäten, ihre Tochter an die Literatur heranzuführen, die mir ermöglicht hätte, TATSÄCHLICH eigenständig zu denken, statt ihre Weltanschauung für bare Münze zu nehmen. Vielleicht war es aber auch ihre eigene Resignation, die dazu führte, dass sie mich nicht mit entsprechendem Wissen fütterte. Denn wie Marlen Hobrack in „Klassenbeste“ schreibt: „Um sich gegen ein System auflehnen zu können, muss man erst einmal Teil davon sein“ (S. 34). Meine Mutter war Vieles, aber kein Teil des Systems.
Das führt unterm Strich dazu, dass all das Wissen und die Denkansätze, die in meine Arbeit fließen, schlussendlich nur halbgar sind. Ich bin eine von denen, der vorgeworfen wird, ihr politische Bildung vor allem von Social-Media-Sharepics zu haben. Am Ende stimmt das auch nur zur Hälfte, denn ich lese weitaus mehr als bloß Instagram-Beiträge - durch meine Unart, im Internet zu wohnen, nehme ich Wissen an unterschiedlichsten Ecken mit. Im zweifachen Versuch eines Studiums habe ich zumindest Auszüge theoretischer Grundlagen gelesen. Aber die Zeit für all die Bücher, die gebildetere, studiertere Autor*innen und Aktivist*innnen alle verschlungen haben, die hatte ich bislang einfach nie. Zwischen Erwerbsarbeit und Carearbeit entkomme ich meiner milieutypischen Sozialisierung eben doch nicht und fülle meinen Feierabend am Ende doch einfacher mit Fanfiction als mit linker Theorie.
Das Paradebeispiel für Sozialisierung
Ist es nicht ein lebender Widerspruch, so politisch und gleichzeitig so unbelesen zu sein? Ich bin im Grunde das Paradebeispiel für das, was soziologische Theorie zur Genüge zu erklären versucht, wenn sie über Klasse, Milieu und soziale Distinktion spricht. Ich bin diejenige, von der man spricht, wenn man versucht zu erklären, welche unbewussten Grenzen Sozialisierung setzt. Denn ich hätte alle Möglichkeiten, aus mir selbst eine Akademikerin zum Schein zu machen und mein Gehirn mit all der Theorie zu füllen, um in den Augen anderer als kompetent und ernstzunehmend wahrgenommen zu werden. Dass ich am Ende doch eher zur Fanfiction greife, ist die ansozialisierte Entscheidung, die aus meinem Großwerden folgt.
Als ich diesen Text angefangen habe, wollte ich vor allem über das Gefühl des Ungenügens schreiben, das meine sehr widersprüchliche und halbgare Biografie mit sich bringt. Denn während ich für mein eigenes Buch recherchiere, lese ich die klugen Bücher anderer Autor*innen, die scheinbar nonchalant mit den Titeln vermeintlicher Standardwerke um sich werfen. Deutlicher könnte ich gar nicht vor Augen haben, dass all die Dinge, die ich zu erklären versuche, schon einmal so viel klüger, so viel fundierter aufgeschrieben wurden. Dass ich an die Grenzen meiner Sprachfähigkeit gerate, weil ich an vielen Stellen vor allem die gelebte Realität anbieten kann, statt des fundierten, theoretischen Unterbaus. Bewegt man sich in einer digitalen Bubble, in der so viele kluge Menschen noch klügere Theorien erklären können, sorgt das schnell für den Impuls, einfach zu verstummen. Ich fühle mich wieder einmal in meinem Leben fehl am Platze.
Vermittlerin zwischen den Welten
Doch ich komme, während ich diese Zeilen schreibe, nicht umhin, anzuerkennen: Meine eigene Sozialisierung zu umgehen ist einfach auch verdammt harte Arbeit. Den erlernten Reflex zu umgehen, zur Unterhaltungsliteratur statt zu theoretischen Standardwerken zu greifen, ist nichts, was man mal eben so im Vorbeigehen erlernt. Ich muss Jahrzehnte an gelebter Realität, an Vorgelebtem und Erlerntem zur Seite schieben, um mir die Handlungsmuster und die gelebte Realität eines anderen Milieus anzueignen, wenn ich ernstgenommen werden will. Denn das ist es, was Sozialisierung meint: Jahrzehntelang verinnerlichte Handlungsweisen, gelebte Realität, Vorgelebtes und Erlerntes. In einem Haushalt, in dem massenweise Fantasyliteratur im Schrank stand und, außer dem Brockhaus, kaum akademisches Wissen, lernt man nicht, sozialkritische Theorie als Zeitvertreib zu lesen.
Vielleicht ist es das, was mich so viel offener sein lässt für Menschen, die zwar ein Unrechtsgefühl benennen können, aber keine catchy Theoriebegriffe fallen lassen können, wenn sie versuchen, ein Problem zu benennen. Ich verurteile diesen Mangel an theoretischem Wissen nicht und sehe es niemandem nach, dass die Lektüre der Standardwerke nicht „nachgeholt“ wird. Denn im Gegensatz zu vielen Kolleg*innen von mir habe ich diese Habitustransformation, die ein geisteswissenschaftliches Studium mit sich bringen kann, nie erlebt. Ich habe keine Erwartungen, weil ich selbst weiß, wie schwer diese milieuübergreifende Existenz ist. Ich hänge gewissermaßen auf meiner gelebten Realität fest und versuche, sie über all die Fetzen, die ich an Wissen aufschnappe, irgendwie in den Kontext des großen Ganzen zu setzen.
Ich glaube, das ist es, was mir vor allem das Gefühl gibt, nicht gut genug zu sein für den Beruf, den ich zu leben versuche: Ich bin eine derjenigen, die auf Social Media von vielen Autor*innen des Diskurses offen abgelehnt werden, weil wir unser Wissen vor allem an den für uns niedrigschwelligsten Orten aufsammeln. Gleichzeitig bin ich zu analytisch und mittlerweile zu belesen, um an den Unrechtsgefühlen, die ich habe, vorbeizulaufen. Mein Gerechtigkeitssinn verlangt, das, was ich habe, zu nutzen, um es irgendwie für alle besser zu machen. Also sitze ich zwischen den Stühlen derer, die mich nicht verstehen, weil ich die Theorie nicht beherrsche, und derer, die mich nicht verstehen, weil sie nur die gelebte Realität kennen, aber nicht die Begriffe, die ich nutze. Alles, was ich anbieten kann, ist, Vermittlerin zwischen den Welten zu sein.
Vielleicht ist zwischen den Stühlen genau mein Platz.
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Foto von Annie Spratt (Si apre in una nuova finestra) auf Unsplash (Si apre in una nuova finestra)