Wie Armut die Selbstkontrolle schwächt
Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über die Auswirkung von Armut auf unser Gehirn.
Ich hatte Glück: meine Eltern waren beide Schulleiter:in. Okay, das kann man auch als Pech betrachten. Was ich meine: Ich bin aufgewachsen in finanzieller Sicherheit. Ich habe drei ältere Geschwister, aber meine Eltern konnten mich während des Studiums finanziell unterstützen. Ich musste mich nicht von Nebenjob zu Nebenjob hangeln, sondern konnte mich auf die Dinge stürzen, die mir Spaß machten (erst studieren, dann als Basketballtrainer arbeiten, dann für die Neue Osnabrücker Zeitung schreiben, ins Ausland gehen). Ich hatte alle Möglichkeiten der Welt. Ich konnte sogar einen zugesagten Master in Kopenhagen wieder absagen, nur um ein schlechtbezahltes Praktikum bei einem Berliner Onlinemagazin (Si apre in una nuova finestra) zu machen, für das ich fünf Jahre später immer noch arbeite.
Nun gehört zur Wahrheit, dass es unfassbar vielen Menschen in Deutschland nicht so geht. Laut dem Paritätischem Armutsbericht 2022 leben heute mehr Menschen in Armut als noch vor der Pandemie: 16,6 Prozent der Bevölkerung. Das sind 13,8 Millionen Menschen, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Und: Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Das sind 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Hirnforscher:innen beschäftigen sich seit Längerem damit, welche Auswirkungen Armut auf das menschliche Gehirn haben kann. Darum geht es heute in Das Leben des Brain. Es ist kein Zufall, dass ich dieses Thema als vierte Folge meiner Serie zu Selbstkontrolle schreibe.
Kinder aus ärmeren Familien können ihre Impulse schlechter unterdrücken
Denn eine von vielen Auswirkungen, die Armut haben kann, bekam Ausmerksamkeit, als der Marshmallow-Test wiederholt wurde. Als Leser:in dieses Newsletters kennst du diesen Test. Man gab Kindern einen Marshmallow und versprach einen zweiten, wenn sie den ersten 15 Minuten lang nicht aßen. Dann verließen die Forscher:innen den Raum. Der Test war berühmt, weil man lange Zeit davon ausging, durch diesen Test der kindlichen Selbstkontrolle voraussagen zu können, wie intelligent oder erfolgreich man als erwachsene Person mal werden würde.
Bis unter anderem der Psychologe Tyler Watts von der New York University das Experiment wiederholte und feststellte: So einfach ist das nicht (Si apre in una nuova finestra).
Zum Glück waren Tyler Watts und seine Kolleg:innen so vorausschauend, bei der Wiederholung des Marshmallow-Experiments auch die familiären Hintergründe, die häusliche Situation und das Verhalten der mehr als 900 getesteten Kinder zu betrachten. Denn wie sich herausstellte, konnten Kinder aus reichem Elternhaus besser auf die Marshmallows warten als Kinder mit armen Eltern. Die Erklärung schien simpel: Arme Menschen haben gelernt, mit Knappheit umzugehen. Sie nehmen das, was sie können, bevor es zu spät ist – oder?
Das scheint aber nur die Hälfte der Wahrheit zu sein. Die andere Hälfte könnte Stress heißen. Denn Armut ist Stress. Das stimmt nicht nur intuitiv, sondern auch aus Sicht der Hirnforschung. Und Stress verändert unser Gehirn, auf vielfältige Art und Weise. Eine Auswirkung könnte sein, dass unser präfrontaler Kortex schlechter arbeitet (Si apre in una nuova finestra).
Oft wird der präfrontale Kortex als das Kontrollzentrum des Gehirns bezeichnet. Eine Hauptaufgabe des präfrontalen Kortex scheint darin zu bestehen (Si apre in una nuova finestra), unsere emotionalen Reaktionen auf Stress zu kontrollieren. Er spielt auch eine wichtige Rolle beim Lernen und für unser Gedächtnis. Und er ist laut Studien auch dann besonders aktiv, wenn wir unsere Impulse oder persönlichen Gelüste unterdrücken, um ein größeres Ziel zu erreichen. Stress sorgt dafür, dass wir schlechter darin werden. Und könnte so auch unsere Fähigkeit der Selbstkontrolle beeinflussen.
Armut lenkt ab
In einer Studie (Si apre in una nuova finestra) baten Jiaying Zhao, Professor für Psychologie an der Universität von British Columbia und Co-Autor Brandon Tomm, Teilnehmer:innen, Essen von einer Speisekarte zu bestellen. Sie wiesen ihnen nach dem Zufallsprinzip Budgets von entweder 20 oder 100 Dollar zu. Die Speisekarte enthielt auch Kalorienangaben und die Möglichkeit eines 18-prozentigen Rabatts, der am unteren Rand der Karte beworben wurde.
Die Forscher maßen die Aufmerksamkeit der Teilnehmer:innen mit Hilfe von Eye-Tracking. Eine Methode, bei der gemessen wird, wo genau wir mit unseren Augen hinsehen, in diesem Fall: Welche Sätzen, Angaben, Wörter auf der Speisekarte die Teilnehmer:innen lasen.
Zhao stellte fest, dass die Teilnehmer:innen, die nur 20 Dollar bekamen, auf praktisch nichts anderes achteten als auf die Preise der Gerichte. Sie schauten kaum auf die Kalorienabgaben, und übersahen sogar das Rabatt-Angebot öfter. "Die Ironie der Knappheit ist, dass man sich so sehr auf Preise und Budgets konzentriert, dass man Dinge vernachlässigt, die einem eigentlich helfen könnten", sagte Zhao VICE (Si apre in una nuova finestra).
Wenn wir unter finanziellem Stress stehen und uns auf die Lösung eines Geldproblems konzentrieren, so Zhao, neige unser Gehirn dazu, andere Informationen auszublenden. Unsere Fähigkeit, andere Aufgaben zu erledigen, werde schlechter. Nicht, weil arme Menschen weniger intelligent sind, sondern weil Armut ablenkt.
333 Dollar für ein besser entwickeltes Gehirn?
Wie der Marshmallow-Test gezeigt hat, hat Armut schon bei Kindern Auswirkungen. Das zeigen auch weitere Studien. Zum Beispiel diese hier (Si apre in una nuova finestra), bei der magnetresonanztomographische Aufnahmen der Gehirne von 145 Sechs- bis Zwölfjährigen angefertigt wurden. Das Ergebnis: Kindern aus armen Familien wiesen weniger graue und weiße Substanz auf; zudem waren Hippocampus und Amygdala kleiner.
Kinderarmut zu bekämpfen könnte wiederum direkte Auswirkungen auf die Gehirne von Kindern haben. Das zeigt eine Studie (Si apre in una nuova finestra), für die Forscher:innen Daten von 1.000 Müttern mit niedrigem Einkommen und deren Neugeborenen auswerteten. Die Mutter-Kind-Paare wurden per Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe bekam monatlich 20 Dollar, die andere 333 Dollar.
Vielleicht ist es dir schon aufgefallen: Diese Ausgabe von Das Leben des Brain hat keine Paywall. Mir kam es bei diesem Thema falsch vor, Geld fürs Lesen zu verlangen. Wer mich trotzdem unterstützen möchte, kann das hier tun:
Nach einem Jahr zeigten sich Unterschiede. Die Kleinkinder, deren Mütter monatlich 333 Dollar zusätzlich zu ihrem Einkommen erhielten, zeigten eine verstärkte Hirnaktivität. "Dies ist die erste Studie, die zeigt, dass Geld einen kausalen Einfluss auf die Gehirnentwicklung hat", sagte die an der Studie beteiligte Neurowissenschaftlerin Kimberly G. Noble der New York Times.
Warum genau mehr Geld für die Mutter Auswirkungen auf das Gehirn ihres Kindes haben könnte, wissen die Forscher:innen aber noch nicht. Es könnte sein, dass die Mütter mit dem zusätzlichen Geld bessere Nahrung kaufen oder mehr für Gesundheitsversorgung ausgeben. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Mütter weniger Stress an die Kinder weitergeben oder dass sie weniger arbeiten müssen und so mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können.
Eines zeigt die Studie aber erneut: Armut scheint sich schon ab der Geburt auf uns Menschen auszuwirken. Auch auf unsere Gehirne.
Diese Ausgabe zeigt natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der Auswirkungen von Armut und Stress auf das Gehirn. Beiden Themen werde ich mich nochmal ausführlicher in eigenen Serien widmen. Bis nächste Woche! Euer Bent 🧠✌️