Über Wahlen und unseren Wunsch nach mehr Wir-Gefühl
Friedrich Merz, so lässt er es gerade landauf, landab plakatieren, tritt an: “Für eine Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können!” Wir fühlen uns mitgemeint und wünschen uns zunächst einmal einen Kanzlerkandidaten, auf den wir, nun ja, nicht unbedingt stolz sein könnten, der aber auf Augenhöhe mit uns kommuniziert. Und wahlkampfrhetorisch sieht das ja gar nicht mal so schlecht, eigentlich richtig gut aus. Im virtuell Gedruckten zumindest[1]:
"Als Kanzlerkandidat der Union werde ich nichts versprechen, was ich nicht halten kann.", verspricht Friedrich Merz auf seiner Homepage unterm Menupunkt “Motivation”[1]: "Nur so können wir das Vertrauen in unsere Demokratie wieder stärken." Das klingt doch schon mal ganz gut und wird noch besser: "Es geht um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.", und weiter im Fettdruck: "Diesen Zusammenhalt wieder herzustellen und die Zukunft für unser Land zu gewinnen, dafür trete ich an."
Wir und Vertrauen und Zukunft und Zusammenhalt …
sollten wir vielleicht doch Friedrich Merz und die CDU wählen? - Absolut nicht,
und zwar weil es auf der Website nur um rhetorische Schönfärberei geht, die nichts mit den tatsächlichen Zielen der CDU zu tun hat. Da fordert Friedrich Merz nämlich, und das ist nur eines der aktuellen Beispiele, Straftätern mit doppelter Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsangehörigkeit wieder zu entziehen[2]. Aha. So sieht der also aus dieser Merz'sche Zusammenhalt und Versuch, das Vertrauen in unsere Demokratie zu stärken, indem er ca. drei Millionen Menschen in Deutschland zu Staatsbürger*innen zweiter Klasse macht?! Und mit wessen Unterstützung möchte er dieses Versprechen (oder ist es kein Versprechen, sondern nur staatsmännische Provokation?) dann bitte umsetzen?
Kleine Randnotiz: Friedrich Merz spricht uns als "liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger" [1] an … die Beidnennung ist eine Form (wenn auch sicher nicht die beste) der geschlechtersensiblen Sprache - also wie war das noch gleich mit diesem ach so fürchterlichen Gendern?!
Jahrzehntelange CDU-Regierung vs. 3,5 Jahre Ampel
Interessant ist, dass Friedrich Merz den Zusammenhalt wieder herstellen möchte, der sei nicht mehr gegeben. In seiner Logik sind daran die aktuellen Regierungsparteien schuld, wer sonst - und allen voran, mal wieder 🙄 die Grünen. Und - Ironie an -, die sind wirklich gefährlich, haben sie doch gerade einmal 3 Jahre dafür gebraucht, dieses Wir, die Zukunft, das Vertrauen und den Zusammenhalt in Deutschland zu zerstören. Denn davor und in den unzähligen Jahrzehnten deutscher Nachkriegsgeschichte, in denen die CDU Kanzler oder Kanzlerin gestellt hat, da war die Welt natürlich in Ordnung, keine Spaltung, kein Populismus, nur blühende Landschaften … - Ironie aus -, nicht euer Ernst!
Zusammenhalt und Vertrauen entstehen jedenfalls nicht durch Politik gegen die verbriefte gesellschaftliche Mehrheit (von Zeitverschiebung, über Tempolimit und Böllerverbot bis §218), indem gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden (von den “kleinen Paschas” über “Sozialtourismus” bis zum Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit), die Zukunft wird nicht rosiger, wenn Klimaziele und soziale, ethische Standards zurückgeschraubt werden, und ein wirkliches Wir ist ganz sicher nicht erreichbar, indem man Frauen von oben herab abkanzelt, wie es Frierich Merz so ausgiebig und gerne tut (die Argumente hierfür versammelt die Kampagne #FrauenGegenMerz [3]).
Wir und die Anderen
In unserer Arbeit beschäftigen wir uns viel mit gruppendynamischen Prozessen und ihren individuellen wie gesellschaftlichen Folgen. Uns interessiert zum Beispiel die Frage, welche Folgen es hat, wenn eine bestehende Gruppe in zwei Teilgruppen unterteilt wird. Das ist für jede*n Alltag und begegnet uns in den unterschiedlichstsen Kontexten, bleibt aber oft unbewusst: Musikgeschmack, Reiseziele, aber auch zwei rivalisierende Stadtteile, getrennte Schulformen, zwei Lager, wenn es um Ernährung geht, Wahlverhalten oder Herkunft, Alter oder Geschlecht … ständig werden Gruppen getrennt, ständig bildet sich ein “Wir” gegen “die Anderen”. Entscheidend dabei ist, ob das gefördert und noch wissentlich verstärkt wird (vergleiche die aktuelle Wahlkampf-Politik und o.g. Beispiele), oder ob es Maßnahmen gibt, die Trennung evtl. aufzuheben oder zumindest ihre Folgen zu mindern. Denn die sind im Kleinen wie im Großen oft fatal und meist unbekannt, dabei sind sie längst wissenschaftlich untersucht [4].
Teile und herrsche
Die grundlegenden sozial-psychologischen Erkenntnisse sind seit den 1970er Jahren erforscht und - eigentlich - hinlänglich bekannt, in ihrem Wesen sind ist die sogenannte Minimalgruppenforschung[4] wie jede Wissenschaft beschreibend, neutral. Die Frage ist nun, wie diese Erkenntnisse genutzt und umgesetzt werden, und da zeigt sich: erstens viel zu selten, und zweitens eben nicht gemeinschaftsstiftend, sondern eher trennend nach dem Motto divide et impera - teile und herrsche. Diese bereits in der römischen Antike erprobte und von Machiavelli dann ausformulierte militär-politische Strategie, die eigene Macht zu vergrößern oder zu erhalten, bestimmt den politischen Diskurs bis heute.
Reich gegen Arm, Wirtschaft gegen Care
“Fleiß muss sich wieder lohnen.” lautet zum Beispiel eine weitere Forderung auf den CDU-Plakaten[5]. Und es ist klar, wen Friedrich Merz damit meint und ansprechen möchte. Leider sind es nicht die Erzieher*inne, Pflegekräfte und sonst im Care-Bereich Beschäftigten. - Die Berechnungen zur branchenbedingten Lohnlücke haben ergeben, dass Menschen im Care-Bereich durchschnittlich gut 17% weniger verdienen als Beschäftigte in anderen Branchen [6], und das über alle Hierarchieebenen hinweg. - Und er meint sicher auch nicht all die Frauen, die im Durchschnitt, rechnet man Erwerbsarbeit und private Care-Arbeit zusammen, fast anderthalb Stunden mehr arbeiten Woche für Woche und den angeblichen High Perfomern den Rücken freihalten[7]. Die o.g. CDU-Forderung spielt Menschen mit geringem Lohn und Bürgergeld-Bezieher*innen gegeneinander aus und lenkt ab von
Der Forderung nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen
Der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft
Der Notwendigkeit einer gerechteren Verteilung des Wohlstands
Es ist einfach, andere in Schubladen zu stecken
Warum lassen wir es uns wider besseres Wissen gefallen, gegeneinander ausgespielt zu werden? Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd: wir werden - “Was wird es denn?” - von Geburt an in Gruppen unterteilt, 24/7 und in eigentlich allen Lebensbereichen werden wir aufgefordert, uns zu positionieren: weiblich - männlich - divers? Zugezogen oder autochthon (der Fachbegriff für eingeboren:-)? Abitur -Studium - Ausbildungsberuf? Vegan, vegetarisch oder carnivor? …
Viel wichtiger ist deshalb: wie können wir das ändern? Wie können wir ein neues Wir-Gefühl entwickeln?
Auf dem Weg zum Wir…
… könnte uns die Minimalgruppenforschung wichtige Impulse liefern:
Wie in diesem wunderbaren Spot von TV2 Denmark geht es zunächst einmal darum, unsere (möglicherweise versteckten) Gemeinsamkeiten zu erkennen und wahrnehmen zu wollen. Und da gilt: es ist immer und grundseätzlich mehr, das uns verbindet, als das, was uns trennt. Das fängt bei den Grundbedürfnissen an - Liebe und Geborgenheit, Essen, Wohnraum, Bildung und Teilhabe … - und reicht weit hinein in die am Ende eben doch nicht so individuellen Interessen und Einstellungen.
Die Gefahr jeder Gruppenbildung ist und bleibt, dass sich dieses Wir in der Abgrenzung zu einer Fremdgruppe, einem Ihr manifestiert: wir, die Guten, die Fleißigen, Höflichen, die Normalen … und die irgendwie Anderen, die unsere Werte und Ansichten nicht teilen (in der Regel ist das nur eine Projektion und medial-diskursive Verengung der Perspektive, keine Realität!). Es gibt also ein exklusives, sich abgrenzendes Wir und ein inklusives. Und nur zweiteres ermöglicht Teilhabe und Gemeinschaft.
Um dieses inklusive Wir nachhaltig zu stärken, für Zusammenhalt und Vertrauen, ist es unabdingbar, die Gemeinsamkeiten hervorzuheben und zu fördern, und darüber hinaus: das eigene Ego zurückzunehmen! Anderen den Raum geben, ihre Gedanken und Leistungen anerkennen, Respekt und Rücksichtnahme, Augenhöhe, Selbstreflexion und Ehrlichkeit, gemeinsame Ziele formulieren, Ausgleich schaffen und Teilhabe ermöglichen!
Ein Wir-Gefühl entwickeln durch Kooperation
Die Frage nach dem Wir und dem Zusammenhalt, nach Zukunft und Vertrauen wird uns die kommenden Monate beschäftigen. Wir wollen uns gerne gemeinsam mit euch auf den Weg machen zu einem neuen, inklusiven und wertschätzenden Wir. Dieser Weg muss die gängige und akzeptierte Konkurrenz überwinden, die Herausforderungen sind nur in der Kooperation zu bewältigen.
Vor vielen Jahrtausenden stand die Menschheit schon einmal kurz vor dem Aussterben, es gab nur noch knapp 1.500 Exemplare unserer Spezies. Dass wir trotzdem überlebt haben und heute hier über Gleichberechtigung und Solidarität schreiben können, liegt daran, dass diese wenigen Urmenschen miteinander kooperiert haben, weil sie sich gegenseitig unterstützt haben und nicht bekämpft, weil sie aufeinander achtgegeben haben, rücksichtsvoll waren und die Gemeinschaft über alles gestellt haben[8].
In diesem Sinne freuen wir uns auf den Austausch, gemeinsame Projekte und Kooperationen, auf ein solidarisches Miteinander und ein Wir, das seinen Namen auch verdient!
Bunte Grüße
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Almut & Sascha
F.Merz und viel Motivation (Si apre in una nuova finestra) auf seiner Website
Die Staatbürgerschaft entziehen (Si apre in una nuova finestra), geht das?
Fleiß muss sich lohnen (Si apre in una nuova finestra), sagt die CDU und lenkt damit ab von der Verantwortung der Politik für faire Löhne und soziale Gerechtigkeit
Soziale Berufe werden deutlich schlechter bezahlt (Si apre in una nuova finestra).
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