VON ERSCHÖPFUNG UND SEHNSUCHT

MÜDIGKEIT HOLT MICH EIN
Ich schreibe diese Zeilen vor der Arbeit. Ja, ich wache an meinen Bürotagen immer zu früh auf, die innere Unruhe scharrt mit den Hufen, steht um 4 Uhr in den Startlöchern. Zu früh, denke ich frustriert, drehe mich nochmal um, kann nicht mehr einschlafen.
Meine KollegInnen kennen das mittlerweile: Ich bin die Frau, die Stunden vor ihnen am PC sitzt und die lange vor ihnen in den Feierabend startet. Auch nicht schlecht. Außerdem haben wir einen Ruheraum, in den ich mich ab und zu verziehe, mir ein paar Alpha-Wellen auf die Ohren lege und eine halbe Stunde im Liegestuhl schlafe (Ja, ich weiß, ich habe verdammtes Glück mit meinem Arbeitsplatz).
Hinter mir liegt ein stilles Wochenende. Ich habe es gebraucht. Das Handy lag meist arbeitslos und beleidigt in der Ecke. Ein bisschen Regen kam zu Besuch, aber wie mein Schlaf verzog er sich zu früh. Die Schattenecken meines Gartens gingen leer aus. Ich goss die Erdbeeren, während es nieselte, und die Nachbarn grüßten und warfen mir verwunderte Blicke zu. Ich kam mir vor wie Pippi Langstrumpf, die im strömenden Regen ihre Blumen gießt.


Seit einem Jahr lebe ich nun als Single-Frau. Und seit einigen Wochen erlebe ich zum ersten Mal Erschöpfung. Sie schleicht sich bei mir immer von hinten an. Zuerst erlahmt meine Lust an Dingen, die mir eigentlich Freude machen. Das Strickzeug liegt seit Wochen unangetastet im Korb. Zeitschriften stapeln sich ungelesen auf dem Wohnzimmertisch. Mein Kunst-Studio ist verwaist. Ideen verwelken wie die Schattenpflanzen im Garten. Es bräuchte dringend Regen. Eine Art Wiederbelebung. Ich sehne mich nach Urlaub, einem Liegestuhl im Schatten, auf dem ich zwei Wochen lang liegen darf, ohne einen Finger rühren zu müssen.
SEHNSÜCHTIGER MENSCH BLEIBEN

Wenn ich Erholung brauche, gehe ich in den Garten, wo der Fingerhut im Schatten blüht und die Ramblerrosen die Herrschaft übernehmen. Unter dem Dachfirst quillt ein hektisches Piep-Piep-Piep hervor. Babymeisen. Ewig hungrig. Ihre Schnäbel so weit aufgerissen, dass man bis in ihr Innerstes sehen kann. Die Meiseneltern sind im Dauereinsatz. Sie hopsen durch meinen Vorgarten, picken lästige Insekten auf, befreien meine Rosen von Blättläusen. Sie haben meinen höchsten Respekt. Also die Meiseneltern, nicht die Blättläuse.
Eine andere Art der Erholung ist mein kleiner, feiner Buchklub. Ich treffe mich regelmäßig mit zwei Freundinnen und wir diskutieren über Literatur, Zitate, Persönliches, Gott.
Gestern Abend sprachen wir über Sehnsucht. Da sagte die eine: „Wisst ihr, dass das hebräische Wort für Lebensgeist übersetzt ‚Kehle‘ bedeutet? Und dass in der Bibel die Kehle für Durst steht?“
Der Geist in uns ist durstig. Voller Sehnsucht. Er reißt den Schnabel weit auf, die Kehle liegt nackt und verletzlich bloß. Wie ein Vogeljunges. Und wir Menschen, wir versuchen alles, um diesen Durst nicht zu spüren. Wir stopfen Brownies und Aperols, Karriereleitern und Selfcare-Coachings, Likes und Doomscrolling in unsere Kehlen.
Dabei ist Gott doch gerade unterwegs, um Futter zu holen.
Ich kann die Furcht nicht abschütteln, dass er nicht mehr zurückkommt. Ich leide an einer Art von Amnesie und vielleicht tun dies alle Menschen. Wir vergessen, was uns schon Gutes widerfahren ist. Wir vergessen die Hoffnung wie diese Vogelbabys ihr Versorgtsein vergessen, sobald die Eltern außer Sicht sind.
Bei den Vögeln ist der weit geöffnete Schnabel ein angeborener Schlüsselreiz, um die Eltern zum Füttern zu animieren.
So gehört auch der Durst unserer Kehlen – der Geist – zu unserem Menschsein. Er ist der Schlüssel zu einer Wechselbeziehung zu unserem Schöpfer.
Je mehr ich meine, dieses Geheimnis zu verstehen, desto klarer wird mir, dass es nicht in erster Linie darum geht, diesen Durst zu unterdrücken, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Es geht nicht darum, alle Sehnsüchte zu befriedigen.
Sondern sehnsüchtiger Mensch zu bleiben.
Und zu warten. Mit brüchigem, misstrauischem Vertrauen.

MIT PFEFFERMINZEIS FÜR HOFFNUNG SORGEN
Gestern fiel endlich Regen. Im Garten regt sich Wachstum, ich werde die nächsten Tage viel zu tun haben, das Unkraut in Schach zu halten, die reifen Erdbeeren zu ernten, überhängende Zweige zu kürzen, Verwelktes abzuschneiden, die Stauden zu stützen.
Im Haus sammelt sich Staub auf den Schränken, in meiner Inbox tummeln sich unbeantwortete Mails, die Katze hat Zecken, das Zimmer der großen Tochter braucht eine Generalüberholung vor ihrer baldigen Rückkehr aus den USA.
Ich könnte eine To-Do-Liste schreiben, die von hier bis Bukarest reicht.
Ich vergesse mein Vertrauen in meinen Schöpfer, dass ich wieder satt werde. Immer und immer wieder passiert mir dies. Auch das gehört zu meinem Menschsein. Das Vergessen. Und das erneute, staunende Erleben: Ich werde satt. Ich werde mich erholen. Ich werde getröstet. Ich werde lachen.
Heute morgen habe ich ein Schraubglas mit Pfefferminzsirup aus dem Kühlschrank geholt (im Garten wächst eine obszöne Menge an Minze). Ich mischte Sahne, Milch und Sirup, gab alles in die Eismaschine und als das Eis langsam fest wurde, mischte ich Browniestückchen darunter. Ich schabte alles in einen Behälter, verschloss ihn und stellte ihn in die Gefriertruhe.
Ich träumte: In ein paar Wochen sitzen meine beiden Töchter und Freundinnen im Garten. Der Hochsommer macht uns träge. Die Jungmeisen machen erste Flugübungen. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, die Arbeit ist noch lange nicht zu Ende. Aber dann erinnere mich an das Eis in der Gefriertruhe. Ich hole die schönen Eisgläser aus dem Schrank, fülle sie mit der kalten Köstlichkeit, wir sitzen im Schatten der Kiefer und löffeln Brownie-Minz-Eis.
Wir werden satt. Wir werden uns erholen. Wir werden getröstet. Wir werden lachen.
