Wenn alles gut läuft,
werde ich morgen mal wieder einen freien Tag haben. Meine „Urlaubswoche“, die ich letzte Woche nehmen wollte, habe ich mit der Beseitigung einer hartnäckigen Internetstörung, Papierkram und einer Sehnenscheidenentzündung verbracht. Gearbeitet habe ich irgendwie auch zwischendurch. Beim nächsten Mal klappt es hoffentlich besser, wahrscheinlich sollte ich wegfahren.
Bisher war die Zahl meiner freien Tage in diesem Jahr rar gesät, und ich spüre das. Ich befinde mich permanent im Erledigungsmodus. Ab einem gewissen Zeitpunkt bedeutet das, dass ich insbesondere die Dinge, die wichtig für mich sind, nicht mehr erledige. Meine Pausen werden kürzer, mein Rückentraining fällt aus, die Zeitung bleibt ungelesen liegen und meinen guten Freund, den Teutoburger Wald, besuche ich auch immer seltener. Von menschlichen Begegnungen mit Freundinnen und Freunden oder gemeinsamen Unternehmungen mit meiner Frau ganz zu schweigen.
Als ich mir vor einigen Wochen einen freien Tag verordnete, fuhr ich weg und besuchte eine Freundin. Wir gingen essen, liefen ein wenig durch den Stadtpark und setzten uns anschließend in eine Kirche. Ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell die Ruhe einer Kirche oder einer Kapelle auf mich wirkt. Wir saßen einige Momente auf der Kirchenbank und schwiegen. Auf dem Weg zurück verglichen wir unsere Meditationsbilanz der letzten Wochen in unseren 7 Mind Apps und stellten wie immer ernüchtert fest, dass uns Zeit und Ruhe fehlten.
Wenig später fuhr ich nach Hause. Ich wusste, dass dieser eine freie Tag nicht ausreichte, um mich von dem anstrengenden Jahresbeginn zu erholen. Es war ein glücklicher Tag, aber es wäre gut, wenn ich wieder mehr davon hätte. Zum Glück kommt diese Einsicht bei mir heute früher als noch vor einigen Jahren, als ich häufig bis zur völligen Erschöpfung gearbeitet und Warnzeichen lange ignoriert habe.
"Unsere Alltagssprache verrät, dass der Umgang mit Zeit zu einer allgegenwärtigen Konflikterfahrung geworden ist."
Nun kommt schon der April, und ich würde sagen, dass die Zeit rast, wäre ich nicht vor Kurzem darauf hingewiesen worden, dass diese Art, über Zeit zu sprechen, vielleicht nicht ganz glücklich ist. „Unsere Alltagssprache verrät, dass der Umgang mit Zeit zu einer allgegenwärtigen Konflikterfahrung geworden ist: Die Zeit scheint uns davonzurennen, sie soll nicht verschwendet, sondern bis ins Letzte ausgenutzt werden und doch wird zuweilen nicht davor zurückgeschreckt, sie einfach totzuschlagen“, schreibt die Soziologin Anne-Kathrin Hoklas in dem Buch Metaphern und Gesellschaft. Nur über Metaphern könne Zeit erfahren und begriffen werden, nur durch sie werde das soziale Konstrukt der Zeit für uns Wirklichkeit. „Zeitmetaphern orientieren alltägliches Handeln, sie konstituieren und legitimieren die abstrakt-lineare Zeitvorstellung der westlichen Gesellschaft, die den Zeitnutzungsimperativ schon in sich trägt“, so Hoklas.
Ich möchte das Gefühl rasender Zeit vermeiden, so oft es geht. Es stellt sich bei mir meistens dann ein, wenn ich es nicht schaffe, genügend Aufmerksamkeit auf die Dinge zu richten, die ich erlebe und die um mich herum passieren. Es findet eine Desynchronisation statt: Ich erledige Aufgaben, aber erlebe diese Zeit gar nicht mehr. Die Zeit vergeht im Fluge, weil es so viele Aufgaben sind, aber ohne dass ich es richtig bemerke. Schon ist wieder ein Tag um, eine Woche, ein Monat. Die Zeit rast, oder rase ich?
Titelbild: Lena Nikcevic
Wenn das zu oft und zu lange passiert und die Desynchronisation von eigener und äußerer Geschwindigkeit anhält, führt das zu Erfahrungen der Entfremdung. Die Formulierungen, dass man nur noch funktioniert oder sich im Hamsterrad befindet, sind abgegriffen, zeigen aber natürlich, dass das gewünschte und das tatsächliche Lebenstempo weit auseinanderliegen. Eine Beziehung zur Umwelt gelingt dann immer weniger.
Inzwischen wird dieser Zustand häufig als Burn-on bezeichnet. Man ist ausgebrannt, macht aber einfach weiter. „Menschen im Burn-on-Zustand sind völlig erschöpft, arbeiten jedoch weiter und sind in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen. Ein Zusammenbruch bleibt aus“, schreibt die Wissenschaftsjournalistin Lara Malberger über das Thema (Opens in a new window). Burn-on selbst sei keine Krankheit, könne aber verschiedene physische und psychische Folgen haben: von Verspannungen über Herz-Kreislauf-Probleme bis hin zu Suizidgedanken.
Ich habe diesen Newsletter inseln der zeit genannt, weil wir Freiräume brauchen, in denen wir nicht funktionieren oder brennenoder uns beeilen und einfach immer so weitermachen. Diese unterschiedlichen Zeitinseln können unterschiedlicher Art sein: Pausen und Meditationen im Alltag, ausreichender und ungestörter Schlaf, ein in Ruhe eingenommenes, gemeinsames Essen, Sportkurse nach Feierabend, freie Tage. Das alles ist wichtig, doch es ändert nichts an unserem grundlegenden, beschleunigten, rasenden Lebensstil. Eine Pause ist eine Pause, aber kein Systemwechsel. Es braucht Inseln, die mehr Halt geben.
Ich habe lange geglaubt, dass auch die gerade viel diskutierte 4-Tage-Woche kein Systemwechsel ist. Die Tatsache eines dreitägigen Wochenendes ändert erst einmal nichts daran, dass 8-Stunden-Tage, Zeitdruck und Arbeitsverdichtung an den übrigen vier Tagen uns auslaugen. Das denke ich auch immer noch. Es ist immer noch kein gutes Leben, wenn wir vier Tagen einem notwendigen Übel nachgehen, um drei gute Tage zu haben, finde ich.
Die inzwischen sehr zahlreichen Praxisbeispiele und Untersuchungen zur 4-Tage-Woche zeigen aber, dass dieses Modell zu einem grundlegenden Wandel beitragen kann. Der bisher größte Pilotversuch in Großbritannien ist seit einigen Wochen beendet. Dort haben rund 2.900 Beschäftigte in 61 Unternehmen sechs Monate lang ihre Arbeitszeit reduziert. Das Gehalt blieb gleich. Auch die Leistung der Beschäftigten sollte möglichst nicht sinken.
Der Versuch lief von Juni bis Dezember 2022. Jetzt hat das britische Thinktank Autonomy eine umfangreiche Auswertung (Opens in a new window) vorgelegt.
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