Was lehrt dir das Leben auf der Alm, Martina Fischer?
Vier Monate im Jahr verbringt Martina Fischer alleine auf ihrer Alm in den Chiemgauer Alpen. Sie lebt zusammen mit ihrem Vieh, der Natur und den Erzeugnissen, die sie selber produziert. Wir sprechen über die Befreiung von sozialen Zwängen, die Ehrlichkeit von Tieren und darüber, was wir hier oben lernen können, um auch unten im Tal ein besseres Leben zu führen.
Es ist später Herbst, der erste Schnee schimmert von den Bergspitzen ins Tal. Entlang der zahlreichen Serpentinen schlängen wir uns langsam den Berg hinauf. Nachdem wir eine Schranke passiert und mehrere Durchfahrt-Verboten-Schilder hinter uns gelassen haben, verlassen wir den Wald und sehen das erste Mal die Weite der Chiemgauer Alpen. Zumindest das, was der Himmel an diesem Tag preisgeben möchte.
Schon am Morgen hatte ich gespürt, dass ich an diesem Tag so einiges lernen würde. Doch wie immer rechnete ich mit vielem, nur nicht damit, was tatsächlich passieren sollte.
So hatte ich auch nicht kommen sehen, dass die erste Lektion des Tages ein neuer Schalter in meinem Auto sein würde: die Nebelschlussleuchte.
Der Nebel hatte sich bereits auf dem Weg zum Treffpunkt am Spitzingsee eindrucksvoll angekündigt. Sichtweite: Zwei Meter. Das mit geringer Geschwindigkeit vor mir fahrende Auto konnte ich nur noch an einem rot schimmernden Licht erahnen. Ich liebe den Herbst für eben diese seltenen Eindrücke. So tuckerte ich genüsslich die Straße hinauf, in Vorfreude auf das, was mich an diesem Tag erwarten sollte.
Am Spitzingsee angekommen traf ich Martina und ihren Lebensgefährten Andi, um von hier gemeinsam das letzte Stück aufzufahren und anschließend den Aufstieg zur Alm zu bestreiten.
Nun, oberhalb der Nebelbank, offenbart sich die ganz Weite der Berge. Ich spüre die melancholische Stille der rot-braunen Natur, die ich, angereichert mit weißen Tupfern, so bisher nur selten zu Gesicht bekommen habe. Und das, obwohl ich einen guten Teil meiner Jugend in den bayerischen Alpen verbringen durfte.
Am Ende der Zufahrtstraße angekommen, satteln wir um und steigen zu Fuß den Hütten entgegen. Zunächst zur unteren Alm auf 1.474 Meter, dann weiter zur oberen Alm auf 1.636 Meter über dem Meeresspiegel. „Wer stramm geht, schafft die Entfernung in vierzig Minuten“, versichert mir Martina gutmütig.
Einen Weg gibt es nicht. Dafür stapfen wir entlang breiter Wiesen, die im Winter als Skipisten dienen. Wer nicht aufpasst, kann hier schnell bis zum Knie im Matsch versinken. Doch folge ich vertrauensvoll den sicheren Schritten von Martina den Hang empor.
Weiter oben verschwinden wir kurzzeitig auf einem Trampelpfad durch ein Waldstück, ehe wir hinter einem Hügel die untere Alm vor uns sehen. Der Schornstein qualmt und der herrliche Duft des brennenden Holzofens strömt uns aus der Ferne entgegen.
Was die Natur uns lehren kann, ist zuzuhören
Hier verweilen wir nur kurz, wärmen uns ein wenig auf und bekommen etwas Wegzehrung vom Winterpächter der Alm. Mit Wienerle und etwas Brezn im Bauch wandern wir der oberen Hütte entgegen. Nach wenigen Metern ruft mich Martina zur Seite. „Schau hier, das ist unser Wacholderwesen.“
Für Martina gibt es hier oben viele Wesen. Sie meint damit Dinge und Gefühle, die sich rund um gewisse Pflanzen oder Orte nur sinnlich erleben lassen. Zum Beispiel die gute Luft und das befreite Gefühl rund um den Wacholderstrauch, der, so wirkt es, tatsächlich von einem steinernen Wesen bewacht wird. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich Augen, Nase und Mund.
Der Wacholder ist für Martina eine besondere Pflanze. Ein Strauch kann bis zu 800 Jahre alt werden und damit Jahrhunderte menschlichen Lebens in sich aufnehmen. Allein die Beere braucht drei Sommer, um zu reifen. Der Duft von geräuchertem Wacholder, berichtet sie, wird schon seit Jahrhunderten genutzt, um die Luft in den Wohnräumen zu reinigen, z.B. nach einem Streit, wenn die Atmosphäre angespannt und die Luft durch den Streit verunreinigt ist.
Bei sich zu sein, bedeutet auch mit sich allein zu sein
Ehe wir uns versehen, ist es früher Nachmittag geworden. Die Kälte kriecht mehr und mehr in unseren Körper. Bis hierhin sind wir sehr gemächlich gegangen, haben uns im wahrsten Sinne über Gott und die Welt unterhalten und dabei die Zeit aus dem Auge verloren. Über zwei Stunden sind wir bereits unterwegs.
Andi, Martinas Freund und ebenfalls Senner, wartet sicher schon auf der oberen Alm mit der Brotzeit auf uns. Er ist mit uns gestartet, allerdings vormarschiert, um schon einmal einzuheizen und das Essen vorzubereiten. Daher steigern wir unser Tempo. So sehr wir uns beeilen, so bleiben wir doch alle Nase lang stehen, um den besonderen Geschichten der Bäume und Sträucher dieser Berghänge zu lauschen, trotz Kälte und dem Wissen um ein gutes Essen am Ende unseres Weges.
Martina kann wunderbar erzählen, sie kennt hier jeden Felsvorsprung beim Namen. Und sie hat stets einen guten Rat. Es dauert nicht lange, bis ich unser Interview vergesse und wir über die ganz persönlichen Dinge unseres Lebens sprechen.
Es sind die Natur und die Einsamkeit, die ihr geholfen haben, mit sich ins Gleichgewicht zu kommen. Aber auch ihr Freund Andi spielt für sie eine große Rolle. Erst mit ihm konnte sie sich so richtig von den Sach- und Beziehungszwängen der Gesellschaft im Tal frei machen. Heute ist es für sie nicht mehr wichtig, was man über sie denkt. Das imponiert mir, vor allem, weil ich den Unterschied zwischen dem doch sehr liberalen Köln und einer kleinen katholischen Gemeinde am Fuße der bayerischen Alpen seit Kindestagen genau kenne.
Dazu zu gehören kann auch eine Last sein
Bis in mein Jugendalter habe ich viel Zeit in dem kleinen Ort Grainau verbracht, dem letzten Ort vor der österreichischen Grenze, direkt unter der Zugspitze gelegen. Meine Familie besaß dort eine kleine Wohnung, gerade groß genug für meine Eltern, meinen Bruder und mich. Die Einheimischen kannten uns, wir kannten sie, man grüßte sich. Doch dazu gehört haben wir nicht. Ich erinnere mich noch genau: Einmal waren wir zu einer Beerdigung eingeladen, ich war vielleicht zehn Jahre alt. Meine Mutter und ich waren die einzigen nicht einheimischen Gäste. Als wir als eine der Letzten die Kirche betraten und wir uns gemeinsam in eine der Sitzbänke setzten, drehten sich Menschen vorwurfsvoll und verachtend zu uns um. Ehe meine Mutter verstand was vor sich ging, war ich bereits in Deckung gegangen, ob der vielen durchdringenden Blicke.
Meine Mutter erklärte mir, dass wir nicht zusammen sitzen könnten, hier dürften Männer und Frauen nicht gemeinsam in einer Sitzreihe sitzen. Da würde wohl auch bei Kindern keine Ausnahme gemacht werden.
Weil der Natur dieses Ortes gemäß mehr Männer als Frauen in der Kirche waren, musste sie sich viele Reihen vor mir auf die andere Seite der Kirche setzen. So blieb ich, irgendwo zwischen verstört und verärgert alleine auf der Kirchenbank sitzen und verstand, dass für Sitten und Bräuche nicht nur Landesgrenzen, sondern auch die Entfernung vom eigenen zu Hause eine Rolle spielten.
Mit diesen Gedanken im Kopf schätze ich Martina umso mehr. Denn auch wenn seit dieser Episode fast zwei Jahrzehnte vergangen sind und sich das Rad der Zeit sicher auch in diesem kleinen Ort weitergedreht hat: Es bedeutet eine ungemeine Portion Kraft, sich nach über 25 Jahren von seinem Partner zu trennen. Speziell wenn kein triftiger Grund wie eine Ehekrise ursächlich dafür ist. Den Freunden im gleichen Atemzug zu erklären, dass einem die Natur und ein selbstbestimmtes Leben wichtig ist, frei von der Blechblaskapelle im Ort und den Sachzwängen eines bewirtschafteten Hofes, erfordert Courage und Mut.
Im Anschluss im Reinen mit sich zu sein und keine Gewissensbisse zu haben, das nennt sich dann wohl Ausgeglichenheit. Natürlich war das nicht einfach und überall, wo die Sonne scheint, gibt es auch Schattenseiten. Doch die hat sie verarbeitet und aktiv eine Lösung gesucht.
Nach dreieinhalb Stunden erreichen wir endlich die Hütte. Die Atmosphäre ist, wie so vieles hier oben, magisch. Das lila-rote Licht des Sonnenuntergangs dringt durch die dicken Wolken, die wie Watte zwischen den Bergen schweben. Das Feuer tanzt warm im Ofen der Hütte und unser mitgebrachter Wacholder qualmt auf dem Ofen und reinigt den Raum. Erst ein warmer Tee, dann ein kühles Helles. Die Brotzeit mit dem letzten selbst erzeugten Käse des Jahres, etwas Brot sowie einem frischen Schinken erhellen unsere Gemüter. Kein Essen schmeckt besser, als das nach einer großen Kraftanstrengung.
Es vergeht eine weitere Stunde voller intensivem Austausch, bevor wir mit dem beginnen, wofür wir hier waren: dem Interview. Beim Aufstieg musste ich mich so manches Mal zurückhalten, nicht schon alle interessanten Fragen zu stellen, denn ein gutes Interview verstehe ich als eins, bei dem der Interviewende nicht schon alle Antworten kennt.
Nach gut vierzig Minuten Aufzeichnung überrascht uns die Dunkelheit. Andi, der uns für die Dauer des Interviews den Raum überlassen hat, informiert uns, einen wunderbaren Sonnenuntergang verpasst zu haben. Wir eilen nach draußen, um wenigstens ein paar letzte Lichtstrahlen zu erhaschen. Die Wolken hatten sich verzogen. Der volle Mond erhellt die weißen Flecken Schnee taghell.
Mit unserer Rückkehr ins Warme wartet schon die nächste Überraschung auf uns. Die Technik spinnt. Wir müssen neu beginnen. Aufgrund der vorangeschrittenen Zeit vereinbaren wir uns am Folgetag noch einmal zu treffen. Denn je später es wird, desto dunkler der Abstieg.
Für den Podcast war der Tag also ein Reinfall. Denn nach stundenlanger Plackerei ist keine Aufnahme entstanden. Doch für mich war es alles andere als das. Es war ein wunderbarer Tag mit tollen Gesprächen in fantastischer Natur. Ich hätte mit nichts und niemandem tauschen wollen.
Wie mich der Nebel am Morgen emotional einhüllte, so klar waren meine Gedanken hier oben. Denn dort oben war ich nicht nur dem Himmel näher, auch den Wesen des Berges und mir selbst.
Viel Spaß beim Zuhören.