Folge 95
Vorweg
Ich war ganz sicher, dass die Zeiten ausufernder, nur leicht ästhetisierter Privaterzählungen im NewFrohmanntic vorbei wären – seit Pandemiebeginn waren und sind ja sehr viele Menschen etwas heftig auf sich selbst zurückgeworfen. Aber nun ist mein älteres Kind für eine Weile wieder nach Hause gezogen, wir sind also vier Erwachsene mit starken Egos in einem kleinen Haus, heißt, ich kann doch wieder für nichts garantieren. Den Kater mitgezählt, bin ich jetzt erneut von vier Typen umgeben, so stellen sich Trolle das Leben von »Netzfeminist*innen« vermutlich nicht vor. Erfreulich ist, ich kann jetzt guten Gewissens wieder vom Bettbüro aus arbeiten und muss nicht mehr so pseudoprotestantisch in mein »Arbeitszimmer« gehen. Mein Ex-Arbeitszimmer hat jetzt einen sehr interessanten Stil. Das extrem düstere Mein-Poser-Großvater-als-Faust-Gemälde im schweren Goldrahmen hängt neben einer Reihe von Basecaps (bis gestern hingen an den Nägeln noch einige meiner Kindergeschmack-Handtaschen), und von der rosa Samtcouch aus – die wurde vom Zimmerübernehmer gern behalten – blickt maus jetzt auf drei Screens (einer zum Glotzen, einer zum Zocken, einer zum Arbeiten). Hinter der Couch türmen sich noch meine Bücherstapel, die dürfen allerdings nicht dauerhaft in meinem Ex-Zimmer bleiben, sie können aber auch noch nicht weg, bis die nächste Etappe im Keller fertiggestellt ist, wohin dann das Vorratsregal zurückgeht, womit im »Verlagsbereich« – eine Art offenes Zimmer oder Flur oben – der nötige Platz frei wird. Interessant: In Windeseile habe ich jetzt geschafft, was ich mir vorher zwei Jahre lang vorgenommen hatte: das zweite gesichtslose Regal neben das erste zu stellen und so endlich ein zentrales Lager für Bücher und Postkarten zu haben.
Für Menschen, die in Wohnungen oder Häuser ziehen und dann gleich am Anfang alles fertig einrichten, wäre unsere neue Wohnsituation vermutlich ein Alptraum, aber ich mag es tatsächlich sogar. Die Zimmer- und Besitzgrenzen fließen, aber irgendwie findet jede*r Mensch und Katz dabei genügend Raum, um klarzukommen. (Zumindest Stand heute.) Ungefähr so würde meiner Vorstellung nach auch die Welt aussehen, in der alle Menschen sicher und würdevoll leben könnten. Es wäre schon ein bisschen enger als für viele Bestgestellte jetzt, aber es wäre total okay, und Menschen würden sich ganz von selbst auch mehr in Verbindung miteinander fühlen.
Dies war meine instantane kleine Alltagsutopie. Vielleicht auch ein nützlicheres Bild als das von »Belastungssignalen«, das der Herr Bundespräsident zeitnah zum Tag der Deutschen Einheit benutzt hat. Würden westliche Regierungen ihre Verantwortung hinsichtlich von Industrialisierungs- und Kolonialismusfolgen begreifen und anerkennen, wüssten sie, dass es allein ihr Job ist, Bundes-, Landes- und Kommunalebene zusammenzudenken und top zu organisieren, dass Menschen, die ihr Recht auf Asyl verwirklichen, menschenwürdig behandelt werden und von Nazis unter keinen Umständen als Belästigung weißer Deutscher objektifiziert werden können. »Belastungssignal« klingt dabei so unaufgeregt, so sachlich, so angemessen im Ton – ganz so, wie es kultivierte Bestimm-Menschen immer fordern, aber es ist ein absolut fürchterlicher, Menschen versachlichender Begriff. War da nicht schon mal was in der deutschen Geschichte?
*
Sad: Eure Chance auf kostenlos lesbare Tasmanische-Teufel-Fiktion ist nun offiziell ungenutzt verstrichen, ihr werdet es noch sehr bedauern, wenn ich sie demnächst als Hardcover für 1.099,00 EUR veröffentliche. Die knapp zehn Abonnent*innen, die sich für TTF ausgesprochen haben, bekommen dann ein Gratis-PDF.
Etwas Altes: Cringe Menschen-Inszenierungen in Homestorys von Designzeitschriften
Vielleicht ist folgendes Thema nur für mich alt und noch nirgendwo beschrieben,– ich bin zu gleichgültig, um es zu recherchieren.
In einer meiner Schreibtischschubladen habe ich seit vielen Jahren ein liniertes Heft in einem rosa Plastikumschlag liegen. Darin eingeklebt finden sich aus Zeitschriften ausgerissene Fotos. Sie zeigen Menschen, deren Wohnungen oder Häuser in Design- oder Architekturmagazinen präsentiert wurden. Es scheint journalistisches Gesetz zu sein, dass auch ein Foto der Menschen zu den Wohnungen in jede dieser Strecken gehört, im Falle von Promis gern auch so viele Fotos wie möglich. Ganz selten fehlt dieses People-Foto, ich bin ziemlich sicher, dass in diesen Fällen Menschen so fotoneurotisch wie ich gewesen sind. Aber auch fotopositive Menschen sehen auf diesen Bildern selten gut aus, und ich meine nicht körperliche Schönheit, sondern den Vibe. Diese Fotos von Menschen in ihren tollen Wohnungen sind meist unnötig klischeehaft, es gibt regelrechte absurde Genres.
Ich habe die Gesichter der dargestellten Personen einigermaßen unkenntlich gemacht, denn ich führe ja nicht gern Menschen vor, sondern fragwürdige Kulturtechniken. Heute mache ich euch einführend mit dem Genre »Trotz meiner Superreichen-Immobilie bin ich total locker drauf ...« bekannt:
»Trotz meiner Superreichen-Immobilie bin ich total locker drauf und setze mich im Kreis meiner Lieben auch mal im maßgeschneiderten Smoking auf die Haustreppe.
»Trotz meiner Superreichen-Immobilie bin ich total locker drauf und spiele mit meinem Kind Fußball wie ein ganz gewöhnlicher Oligarch, während die Körpersprache meiner Frau im Hintergrund nicht verhehlen kann, dass sie das noch nie zuvor erlebt hat.«
»Trotz meiner Superreichen-Immobilie bin ich total locker drauf und sitze mit meiner Partnerperson und den Hunden gern auch mal einfach auf dem Boden.«
»Trotz meiner Superreichen-Immobilie bin ich total locker drauf, so locker, dass ich eigentlich Vollzeit damit beschäftigt bin, locker rüberzukommen.
»Trotz meiner Superreichen-Immobilie bin ich total locker drauf und binde mir gern mal einen lustigen Schal um, damit ich beim Balancieren auf einer Mauer ganz sicher wie der absolute Keck aussehe.«
»Trotz meiner Superreichen-Immobilie bin ich total locker drauf, zumindest im Vergleich zu meiner Einrichtung.«
Etwas Neues: Social-Media-Retro und Social-Media-Nostalgie
Ein Thema, über das ich gut ein Buch oder einen Essay schreiben könnte, aber dies wird eine andere Person tun, die näher bekannt, besser befreundet ist mit Menschen, die solche Bücher oder Essays in Auftrag geben, ist »Social-Media-Retro« und »Social-Media-Nostalgie«.
Als passionierte Medienbeobachterin liebe ich es, auf Bluesky (wer noch nicht kennt, das ist eine Social-Media-Plattform, die ziemlich exakt Twitter früher kopiert) dabei zuzusehen, wie andere Ex-Twitter-Menschen sich wie wiedergeborene Fischlein im Wasser tummeln. Ich liebe es, dass auf Bluesky Menschen wieder so ein Urtwitter-Gefühl ausrufen, so wie eine andere Gruppe zuletzt 2022 auf Mastodon. Ich liebe es, dass auf Bluesky Menschen in Minute eins Mastodon dissen, so wie ganz früher auf Twitter Facebook und früher auf Mastodon Twitter. Ich liebe es, dass auf Bluesky Menschen im Oktober 2023 so triumphierend über ihre Ankunft auf der Plattform schreiben, als würden sie erwarten, dass ihr Verlassen von X vor fünf Minuten als revolutionärer Akt zu feiern ist. Ich liebe es, dass auf Bluesky Menschen von ihren steigenden Followzahlen schwärmen und andere in Nonmentions darüber lästern. Ich liebe es, dass auf Bluesky jetzt wieder Generationen jüngerer User_innen Skeets schreiben, die schon als Tweets von mehreren Generationen wieder und wieder geschrieben wurden – diese Kürzestexte sind immer wieder poetisch und berühren immer wieder neue Menschen. All das sind für mich »unbewusste Memes«, so nenne ich Inhalte, die sich im Internet seriell reproduzieren, ohne dass dies den Produzierenden bewusst ist, was auf Beobachtende potenziell absurd und unterhaltsam wirken kann.
Ich liebe auch, dass auf Bluesky Diskurstwitter und Liebtwitter noch für eine kurze Weile friedlich koexistieren dürfen und manche Menschen sich sogar herausnehmen, Elemente aus beiden Sphären zu leben. Ich liebe es, dass auf Bluesky zu sehen ist, wie sich Keinenschimmerhaben von Plattformen und Allzugutwissen, wie eine Plattform funktioniert, irgendwie performativ ähnlich sind. [Hier würde im Buch mein Exkurs über den Marionettentheater-Aufsatz von Kleist kommen.]
Ich stelle fest, dass bei Bluesky von Anfang an glasklar erkennbar ist, dass es falsch und auch, was falsch ist (Tech-Dudes im Kapitalismus machen, was Tech-Dudes im Kapitalismus machen, V2), und dieses Erkennen trotzdem egal ist, weil Menschen sich einfach lieber kurz wie im Himmel fühlen, als langwierig Demokratie und Leben auf der Erde zu gestalten.
Ich habe ja keinen Bock mehr auf Erklären, und ihr wisst eh, und ich weiß es, dass es gut wäre, diese heimelige Social-Media-Retro-Plattform und ihre kuschelige Social-Media-Nostalgie nur in kleinen Dosen zu genießen und auch im Bewusstsein, eher ein anregendes Genussmittel als Vitamine zu konsumieren. (Das ist ja auch meine grundsätzliche Empfehlung für den Umgang mit Retro.)
Es ist immer noch nicht zu spät, soziale Medien so zu gestalten, dass Menschen sich damit den Originalitäts- und Geniequatsch abgewöhnen, sich gegenseitig informieren und emotional stützen, Gemeinsinn erleben und trainieren, für alle zugänglich demokratiestärkend publizieren. Menschen tun es nur nicht konsequent genug, unter anderem, weil Plattformen bislang entweder evil oder für sprunghafte Geister zu öde sind. Es war ja kein Zufall, dass auf Twitter auffallend oft Menschen mit ADHS besonders intensiv und wirkungsvoll performten – für sie und ihre Leser_innen auch eine Art von Himmel. Kein Wunder, dass Bluesky sich für Viele wie eine Wiedergeburt anfühlt.
Das Fediverse hat bei den echten Twitterjunkies nicht so gekickt, auch mir ist da nach Anfangseuphorie schnell etwas langweilig geworden. Bluesky ballert, aber soll ich mich wirklich darüber freuen, endlich wieder Suchtverhalten zu spüren? Ich bin ja schon fast ein Jahr weg von Twitter und war längst durch mit dem Entzug. Sachlich betrachtet, wäre es also viel sinnvoller, Energie ins Fediverse zu investieren, um das, was vielleicht nicht mehr »das Haus des Herrn«, sondern das Haus aller sein könnte, im positiven Sinne aufregender zu gestalten; also geht da bitte nicht weg oder sogar noch hin. Gönnt euch trotzdem gern den Himmel, als Add-on, und behaltet im Auge: Er ist nicht real.
Hier ein Skeet für die, die da nicht sind.
»Vielleicht ist das hier auch eine Black Mirror-Folge, in der die ehemaligen User*innen eines Netzwerks denken, dass es mit der ziemlich exakten Kopie dieses Mal komplett anders laufen würde, als wäre Kapitalismus nicht mehr Kapitalismus.«
Wir haben jetzt – These – den Moment erreicht, wo sich unsere Leben im Digitalen wirklich fiktionalisieren aka Fiktionen instantan gelebt werden – ein Thema, über das ich gut ein Buch oder einen Essay schreiben könnte, aber dies wird eine andere Person tun, die näher bekannt, besser befreundet ist mit Menschen, die solche Bücher oder Essays in Auftrag geben.
Ganz persönlich liebe ich es, auf Bluesky Hashtags zu benutzen, die, weil es aktuell gar keine entsprechende Funktion gibt, noch Unsinnspoesie sind, sich aber vielleicht rückwirkend in ein Werkzeug verwandeln werden. (Über so etwas kann ich mich wie Bolle freuen.)
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
»Sag mir also nicht, dass du keine Farbe siehst. Sag denjenigen, die mich nicht hier sehen wollen, dass ihre Meinung nicht toleriert wird!«
– Sibel Schick, Weißen Feminismus canceln (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), 30
Etwas Unheimliches: Queeren-Hass in sozialen Medien
Eine meiner größten Freuden in sozialen Medien ist es, queeren Menschen beim Glücklicherwerden zuzusehen. Wie Kontexte geändert, Zugehörigkeiten hinterfragt, Körper geformt, Kleider erprobt, Namen und Pronomen bestimmt werden, bis die Person darin, damit gut leben kann. Menschen leuchten auf und beginnen zu glitzern.
Es geht nicht in meinen Kopf, dass es die gleichen Anblicke sind, die Faschos dazu bringen, in sozialen Medien Kommentar um Kommentar mit loderndem Hass zu füllen. Es geht nicht in mein Herz.
Leben ist Werden. Queeren-Hass ist ein unheimlicher Angriff auf das Leben selbst.
Rubrikloses
Lebenswirklichkeit von Armen, Behinderten, BIPoC, Frauen, Queeren im patriarchalen Kapitalismus
Lebenswirklichkeit von Patriarchen und Pick-me-Marginalisierten (für Letztere nur temporär)
Dies ist nicht das Bild, was ich eigentlich posten wollte, aber ich hatte beim Einkaufen kein Handy dabei. Es gibt bei Netto ein Dosengericht namens »Tote Oma«, hier ein Screenshot vom Bild zum Rezept. Bestimmt kennen das jetzt ein paar von euch von früher und finden das deshalb erst mal nicht so schlimm. (Gewohnheit relativiert.) Ich kannte es nicht, deshalb reagiere ich auf »Tote Oma«, wie es sachlich angemessen ist.
wtf.
»Tote Oma« für ein matschig aussehendes Essen ist so misogyn wie »Schwiegermuttersitz« als scherzhafte Bezeichnung für einen Kaktus, nur dass bei »Tote Oma« zusätzlich noch eine Prise Femizid mit in den Topf und die Dose kommt.
Falls ihr das Gericht gern esst, kein Problem, aber nennt es ab jetzt bitte »Patriarchale Scheiße«. Und der Kaktus heißt bei Nichtarschgeigen schon immer Goldkugelkaktus oder, jebildet, Echinocactus grusonii. Sprache schafft Wirklichkeiten.
Diese eingedosten Feldküchen-Suppen in ostalgisch nationalistischer Gestaltung aka mit starkem Fascho-Vibe, Foto in der nächsten Folge, würde ich ohnehin am liebsten sofort ganz aus dem Sortiment verschwinden lassen. Anscheinend gilt auch: Der Mensch isst, was er ist.
Kleine Beobachtung für die medizinische Forschung, weil ich Social Media von wirklich vielen Einzelpersonen verfolge: Menschen, die Endometriose haben, haben oft auch ADHS. Ich möchte aber den Medizinnobelpreis für meine Entdeckung gegen den Literaturnobelpreis tauschen, ok? Danke.
Bester historischer Cat Content,– damals hatte halt noch nicht jede_r eine Katze in der Realität gesehen.
Präraffaelitische Girls erklären
Diese Woche war meine Impulskontrolle defekt und ich habe zwei Girlssplainings instantan ins Netz geballert, obwohl sie ja offiziell immer zuerst hier erscheinen sollten.
Jetzt noch ein unpubliziertes.
Zurück zu den Playlistern, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
FrauFrohmann
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