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Folge 74

Etwas Altes: Himbeerbonbons

Auf meinem Schreibtisch steht ein Glas mit Himbeerbonbons. Ich esse nur noch wenige Süßigkeiten, deswegen wird es irgendwie nicht leerer. Das stört mich aber nicht, weil diese Bonbons ein Behaglichkeit auslösender Anblick sind. Sie sind eine schöne Kindheitserinnerung. 

Einzelne Himbeerbonbons in einer kleinen weißen Papiertüte waren die erste Ware, die mein Vater mir auf meinen eigenen Wunsch hin kaufte. Ich kann mich genau daran erinnern, in welchem Laden sich die Szene ereignete und dass ein Bonbon fünf Pfennige kostete. – Ist es nicht bestürzend, dass die frühesten deutlichen Erinnerungen von Menschen so häufig kapitalistische sind?

Vor ungefähr zehn Jahren kaufte ich mir das erste Mal seit meiner Kindheit wieder diese Bonbons. Die Tüte war jetzt aus Plastik, und mit Pfennigen hätte ich beim Kauf nichts mehr ausrichten können. Ich lutschte die kompletten hundert Gramm Himbeerbonbons hintereinander weg. Daraufhin löste sich meine Mundschleimhaut als Ganzes ab, es war ziemlich gruselig und auch ekelhaft. – Kapitalismus lehrt: Was man kaufen kann, muss konsumiert werden. Aua. DER MARKT REGELT DAS.  

Etwas Neues: Poly-BFF

Polyamorie ist ja ein großes Thema, das ich theoretisch interessiert verfolge, aber praktisch nicht lebe, da bin ich mit meiner meist gut, manchmal schlecht funktionierenden cis het Original-Kernfamilie mit zwei Kindern (eines mittlerweile ausgezogen) und einer Katze im Haus am Stadtrand mit Garten ganz klar gesellschaftliche Dinosaurierin. Nun setze ich mich ja für eine Welt ein, in der Menschen leben können, wie sie möchten, solange sie damit nicht die Leben von anderen unnötig einschränken oder sogar gefährden, und in dieser Welt ist konzeptuell auch noch genügend Platz für mich und mein Dinoleben.  

Überträgt oder erweitert maus Polyamorie auf Freund*innenschaft, bin ich polyamor. Ich betrachte sehr viele Menschen aufrichtig als meine Freund*innen, im Grunde alle, mit denen ich mich mehr als einmal einfach so und gern treffe. Auch habe ich mehrere beste Freund*innen, und das ist kein Gerede, ich liebe diese Personen gleich intensiv. Es ist auch nicht so, als würde jeder dieser Menschen mit seiner Persönlichkeit etwas anderes abdecken, dessen ich unbedingt bedarf. Meine Freund*innen sind zwar extrem unterschiedlich, entsprechend mag ich jeweils andere Seiten an ihnen und finde auch jeweils andere Seiten anstrengend, aber ich habe sie nicht wegen ihrer für mich attraktiven Seiten »gecastet«. Nein, sie sind alle irgendwann einfach aufgetaucht: in der Nachbarwohnung, in der Schule, an der Uni, im Club, im Verlag, auf der Party, im Netz, wurden schnell meine Freund*innen und haben sich dann im gemeinsamen Zeitverbringen und Interagieren irgendwann als beste Freund*innen entpuppt. Manche sind schon seit Jahrzehnten meine BFF (=best friend forever), manche erst seit einem Jahr. Die jüngste ist 17, die älteste 84. BFF sind für mich alle, die Familie sind, ohne Familie zu sein.    

Versammle ich mal mehrere meiner BFF gemeinsam, kann dies Momente von Unbehaglichkeit erzeugen. Ich spüre dann, dass einzelne Freund*innen sich gegenseitig etwas argwöhnisch beobachten, lese in ihren Blicke etwa: Ah, das ist eine von Christianes woken Netzfreundinnen. ... Ah, die muss aus dieser coolen 90s-Phase stammen. ... Ah, das ist auch so eine Bürgerliche mit Kindern und Haus in Pankow. ... Ah, die tun mich bestimmt aufgrund meiner Looks ab. Es werden plötzlich Unsicherheitheiten spürbar, die sonst, wenn wir jeweils zu zweit sind, keine Rolle spielen und die ich so interpretiere, dass meine BFFs sich sachlich unnötig hinterfragen: Wenn sie mit DER befreundet ist, was findet sie dann an mir? Oder, andersrum, sie hinterfragen mich: Wie kann sie mit DENEN befreundet sein, wenn sie mit mir befreundet ist? Diese Unsicherheiten kann ich gut nachvollziehen, denn ich erlebe sie genauso, wenn ich als eine BFF unter anderen bei einer Freundin zu Gast bin: Ah, ich kann genau sehen, dass sie DIE viel spannender findet. ... Ah, DIE bewundert sie, weil sie eine Professur hat. ... Ah, mit DER ist er viel entspannnter, weil sie nicht so woke ist. Wer jetzt denkt, klar, typische »Stutenbissigkeit«, soll 1. bitte NewFrohmanntic entabonnieren und 2. irrt sich gewaltig, denn maus beißt mit diesen Gedanken nur sich selbst, schneidet sich mit ihnen direkt ins eigene Gefühlsfleisch.
Interessanterweise geraten BFFs angesichts BFFs zweiter Ordnung also ziemlich oft unbemerkt ins Othern, statt aus dem Umstand, eine gemeinsame liebste Person zu haben, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schöpfen. Natürlich ist das kein homogenes Phänomen, manchmal verlieben sich auch zwei meiner BFFs sofort ineinander oder waren schon lange vor meiner Zeit mit ihnen schon selbst BFFs. 

Eine vergleichbare Atmosphäre latenter Befremdung, Fremdheit und Befremdlichkeit wie die unter meinen aufeinandertreffenden BFFs schildern Freund*innen von mir, die »klassisch« polyamor leben, wenn sie mit anderen Partnerpersonen ihrer Partnerpersonen in Berührung kommen. Auch da klappt es manchmal sofort herausragend gut miteinander, aber oft eben auch nicht. Das zu überwinden, erfordert Bewusstmachung, Zugewandheit, Bereitschaft und Arbeit. Ich habe immer gespannt zugehört, wie solche ambivalenten Erlebnisse und Relationen bearbeitet werden: bewusst und mit offener Kommunikation. Das hat mich sehr beeindruckt, denn es klingt einfach wie die grundsätzlich beste Idee, als Menschen miteinander umzugehen. Deshalb habe ich mir sie zum Vorbild genommen, wie ich fortan mit meinen ja ebenfalls geliebten besten Freund*innen und deren Beziehungen untereinander umgehen möchte. 

Unmerklich hochgezogene Augenbrauen, ein etwas angestrengtes Lächeln, eine impulsive übergriffige Bemerkung, die ich bei meinen Poly-BFF-Treffen beobachte, werde ich nicht mehr nur registrieren, sondern später behutsam, aber offen ansprechen.  

Außerdem habe ich mir vorgenommen, ebenso wie im Netz nur noch dosiert go with the flow zu praktizieren, denn es hat sich im Umgang mit meinen BFFs als zweifach kritisch erwiesen: Meine sozial dominanteren Freund*innen partizipieren, ohne das zu wissen und schätzen zu können, viel mehr an meinem Leben, während mich andere liebste Menschen jahrelang nicht zu Gesicht bekommen. Manche Vernachlässigte ertragen das zwar ganz gut, weil sie auch viel um die Ohren haben und niemals an unserer Freund*innenschaft zweifeln. Aber es gibt auch BFFs, die mich mehr brauchen würden oder einfach nur interesselos wohlgefällig Zeit mit mir verbringen wollen – so wichtig! – und sich nicht trauen, das zu äußern. Sie denken, bei mir sei zu viel los, und das stimmt auch, aber ich kann es teilweise sofort ändern, indem ich meine Freund*innenschaften anders führe. Soziale Gerechtigkeit muss auch im BFF-System nicht nur erhofft, sondern auch ermöglicht werden. Ich habe jetzt einen randvollen Verabredungskalender, in dem nach und nach die Namen aller meiner BFFs erscheinen; die begeisterten Chatnachrichten in jeweils zwei Richtungen überschlagen sich. Mein Gefühl universalen Ungenügens – ich faile und mir fehlen Menschen – ist in eines des vollen Lebens umgeschlagen. Es brauchte mal wieder nur ein Umsehenlernen. 

Vom bewussteren und offen kommunizierten Verhandeln der Möglichkeiten und Grenzen verspreche ich mir nicht nur noch bessere Freund*innenschaften, sondern auch eine stabilere Ausgangsbasis, um gesamtgesellschaftlich gegen Othering, den Motor aller sozialen Ungerechtigkeit ankämpfen zu können. Es ist wichtig, wo es möglich ist, die privaten Strukturen gerechter zu gestalten, damit es im öffentlichen Zusammenleben ausstrahlen und nachgelebt werden kann. Immer nur Strukturkritik zu formulieren und – meist vergeblich – darauf zu warten, dass der Staat und die Institutionen etwas ändern, bringt es auch nicht.

Was ich in meinem polyamoren Freund*innenschaften nicht ertragen kann, ist Eifersucht. Ich bin allen BFFs treu, immer, denn bedingungslose Liebe ist die einzige plausible Treue. Wenn ich von einer BFF spreche und eine andere bekommt daraufhin so ein leicht grünes, versteinerndes Gesicht, fange ich augenblicklich an, mich innerlich zu entfernen. Eifersucht ist kleinlich und Freund*innenschaft dafür viel zu großartig.  

Etwas Geborgtes: Ein Zitat von Teresa Bücker

»Ob Care-Beziehungen das Leben einschränken oder bereichern, hängt davon ab, welche politische Haltung eine Gesellschaft zu dieser Frage einnimmt.« – Teresa Bücker, Alle_Zeit (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), 325

Mittlerweile habe ich schon so oft geschrieben, dass ich noch über das Buch Alle_Zeit von Teresa Bücker schreiben will, dass es schon fast zum Meme taugt. Jetzt will ich wenigstens noch mal darauf hinweisen, dass ich den letzten acht Wochen, in denen ich von meiner »Caretastrophe« aufgesogen und fast kein Geld verdienen konnte, immer wieder an Gedanken oder auch im Buch vorgestellte Konzepte anderer erinnert wurde, denn, würde es schon politisch abgesicherte flexible Care-Zeiten in den Leben aller geben, hätte dies mein ganz persönliches Leben von unnötigen Belastungen befreit und ich hätte mich nur ums Wesentliche kümmern können: das Wohl meiner Mutter im letzten Lebensabschnitt. 

Aber ich werde sicherlich noch viel in Alle_Zeit herumlesen und daraus zitieren, wenn es demnächst wieder um »meine Zeit«, das Instantane geht. 

Etwas Uncooles: Handke lesen

Neulich fiel mir auf, dass ich noch nie etwas von Peter Handke gelesen hatte. Ja, das ist für eine viel lesende Person meines Alters mit Literaturwissenschaftsstudium kurios. Persönlich ist es einfach zu erklären, ich hatte bis vor etwa fünf Jahren, als endlich etwas spannendere neue Stimmen auftauchten, eine heftige Abneigung gegen deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Lange Zeit mochte ich nur Sebald und vereinzelt auch Kracht, schätzte Jelinek, liebte Streeruwitz, aber das war es auch schon. Den Rest der Zeit las ich neuere englischsprachige Bücher bzw. viel mehr deutschsprachige Theorie als Literatur.

Jetzt habe ich beim Leerräumen der Wohnung meiner Mutter einen Handke zur Hand genommen und gelesen. Das Buch Die Stunde der wahren Empfindung von 1978 muss ich selbst gekauft haben, Hardcover – sehr quälend der Gedanke, wie viel Zeit und Geld ich verschleudert habe, um Titel eines mich kaum repräsentierenden und wenig interessierenden Kanons zu erwerben. Eine Chaneltasche wäre sicherlich auch eine fragwürdige Art gewesen, als Studierende das ganze hart selbstverdiente Geld zu versenken; rückwirkend wünschte ich, ich hätte mich für diese Variante entschieden, dann würde ich jetzt eine Chaneltasche und keinen Handke besitzen. 

Müsste ich den Inhalt des Buches wiedergeben, würde er so lauten: Ein absolut unerträglicher, sich als Intellektueller stilisierender tiefweißer Jammerlappen schlurft durch (>>>Proust!) Paris, formuliert dabei eine misogyne Phantasie nach der anderen – nicht mal Femizid wird ausgelassen –, begegnet diversen objektifizierten Frauenfiguren, die völlig unglaubhaft alle unbedingt Sex mit ihm haben wollen und jault schablonenhaft rum, dass notwendigerweise alles Sprechen und Erleben uneigentlich (>>>Heidegger! +/- >>>Postmoderne!) sein muss. 

Hat schon jemand »Man muss es in der Zeit sehen.« gesagt? – Okay, kein Problem, dann kotze ich eben in die Vergangenheit.  

Der Schluss des Buches war drei Prozent besser, als ich erwartet hatte, trotzdem bereue ich jede einzelne Minute der Lektüre. 

Um den durchgehenden Überdrussekel beim Lesen seelisch auszubalancieren, ging ich an zwei Tagen hintereinander zu MacDonald's, aß Burger und Pommes mit Mayo und blätterte dabei die Seiten des Buches absichtlich mit fettigen Fingern um. Ich kann gern zu Pferd Dennis Scheck mehr darüber erzählen.  

Rubrikloses

Testet ihr euch auch manchmal selbst darauf, ob ihr als Prinz*essin auf der Erbse taugt? Ich bin erwiesenermaßen nicht feinsinnig genug, denn ich habe kürzlich hervorragend auf einer Nagelschere geschlafen.

In der alten Wohnung meiner Mutter hingen im Flur zwei unaufregende, aber dekorative Gemälde einander gegenüber. (Die ganze Kunst hatte vor langer Zeit mein Opa angeschleppt, der als gutaussehender und charmanter Typ viel mit der Schwabinger Bohème gechillt hatte.) Niemals aber war im Familienkreis darüber gesprochen worden, dass Theo Elsinger, München, ganz offensichtlich ein Schwindler gewesen war, der als falscher Franzose A. Boulanger, Paris, im gleichen Stil Bilder malte und sich nicht mal ein kleines bisschen bemühte, beim Signieren wenigstens seine Handschrift zu verändern. Vermutlich wusste es weder meine Oma noch meine Mutter, ich habe es ja auch erst ganz am Schluss bemerkt, kein Wunder, denn die Bilder in der eigenen Wohnung verschwinden wie alle Dinge sehr schnell und nachhaltig aus der Aufmerksamkeit. 

Ein echter Elsinger

Ein echter falscher Boulanger

Guerlica

Zurück zu den hilfsbedürftigen Konzernen, zur Realität, in der Menschen nur als Konsument*innen zählen. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,  
FrauFrohmann

Ihr dürft, wenn ihr keine Bezahlmedien seid, gern Text- und Bildzitate aus dem NewFrohmanntic in sozialen Netzwerken posten, auch gescreenshottet, auch die Girlssplainings. Macht gern auf den Newsletter aufmerksam und lockt mehr Menschen ins Fediverse. 

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