Über das Buch im Dunkeln
Lösche das Licht und nimm das Buch aus dem Regal, auf dem dein Name steht. Du weißt nicht, dass es da ist, bis deine Finger den Einband berühren. Im Dunkeln kannst du den Titel nicht sehen, aber das musst du auch nicht, um deinen Namen zu fühlen.
Warum nur, fragst du dich, habe ich genau dieses Buch niemals aufgeschlagen, warum nur stand es schüchtern und versteckt unter einem Kleid aus Staub und grauer Zeit.
Doch als du es öffnest, leuchten die Seiten warm unter deiner zögernden Haut auf, und du erinnerst dich wieder, warum du es niemals lesen wolltest.
Es ist deine Geschichte, schwarz und weiß, wie gedruckte Buchstaben nun einmal beschaffen sind.
Da gibt es keine Schnörkel und keine Farben und kein Lächeln, da sind nur dunkle Worte auf hellem Grund, die sich aneinanderreihen wie alle deine Atemzüge von dem Augenblick an, als deine Lunge sich entfaltete wie ein feuchtes Blütenblatt.
Reihenweise Worte, die sich zu Sätzen ordnen, die wiederum Absätze bilden und dann zu ganzen Kapiteln wachsen, eine Lawine aus Druckerschwärze und Serifen.
Hab keine Angst. Ich weiß, dass deine Hände zittern und zögern, weil sie das Buch wieder weit nach hinten werfen wollen, dahin, wo es nur sichtbar wird, wenn du das Licht löschst, was du, schwörst du dir, nie wieder tun wirst.
Erinnere dich daran, wie stark dein erster Atemzug war. Und wiederhole ihn.
Und beginne dann, zu lesen. Die Seiten selbst sind hell genug. Die Worte erscheinen dort, wo du keine Augen brauchst. Und niemand sieht es, wenn sich deine Wangen röten, weil du über die Stellen stolperst, an die du dich niemals erinnern wolltest.
Jeder hat das ein oder andere Kapitel in seinem Buch, das von der Scham verfasst und von der Reue hart zensiert wurde. Jeder hat ein Drama, eine Tragödie und auch ein bisschen Horror in ein und demselben Roman. Warum auch nicht. Denkst du nicht, es wäre öde, wenn dein Buch irgendwann im ewigen Antiquariat unter „Trivialem“ zu finden ist?
Mag sein, dass ich selbst manchmal ein wenig unter der Last der schweren Kost leide und fluche und mir wünsche, ein bisschen mehr Urlaubslektüre und nicht so sehr düstere Romantik zu sein.
Aber dann mache ich es so wie du jetzt: ich atme und lese weiter, ohne zu urteilen.
Und dann kommt der gute Teil: Greife in deine Tasche. Ja, richtig, in genau diese Tasche von der du gar nicht ahntest, dass sie da ist. Fühlst du das harte, kalte Ding darin? Es ist ein Stift. Ein alter Bleistift, schon etwas kurz, aber ganz scharf gespitzt.
Hol ihn heraus.
Nimm ihn entschlossen in deine Hand.
Und dann beginnst du, dort, wo die Buchstaben enden, selbst welche hinzuschreiben.
Am Anfang macht das Mühe und geht nur stockend. Aber so nach und nach wird deine Handschrift zu einem wilden Tanz. Das Buch drängt sich dir entgegen, um deinen neuen Worte in sich aufzunehmen, wie ein zahmes Tier in deinem Schoß, und du erkennst, dass es ganz einfach ist, deine eigene Geschichte weiterzuschreiben.
So einfach wie der erste Atemzug.
So einfach wie der letzte Herzschlag.
Du magst meine Texte?