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Über Balletttänzerinnen und Rottweiler

Diesmal suche ich nicht nach Eis, sondern nach Blumen. Beides ist wichtig. Beides ist ein Stück Sommer, den man mit in den Winter oder sonstwohin mitnehmen kann. Sogar in die Antarktis oder ins Weltall. Vielleicht wären die Astronauten fröhlicher, wenn sie ein bisschen Sommer dabei hätten, da oben im kalten Nichts, denke ich, während ich die Pflanzentöpfchen mustere, die dort im Netto aufgereiht stehen, in den ich mal wieder eigentlich nur kurz huschen wollte. Für Blaubeeren wahrscheinlich. Aber ich habe vergessen warum, weil ich nachdenken muss.

Es handelt sich nämlich um Sommerastern, und das verwirrt mich. Weil Astern schwelende Tage und Herbst bedeuten, wie wir poetischen Seelen alle wissen. Aber es sind hübsche kleine Dinger, und sie sehen so aus, als würden sie unbedingt gern mitgenommen werden um bei mir zuhause auf dem Balkon zu stehen und mir ihrer Asterhaftigkeit zu prahlen.

Während ich noch verwirrt bin, höre ich ein „Entschuldigen Sie bitte!“. Diesmal ist es eine ältere Dame, eine von denen, die sich nicht darum scheren, dass aus ihnen eine ältere Dame geworden ist und deswegen einen langen grauen Zopf tragen und keine Kurzhaarfrisur.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagt sie und strahlt mich hinter blitzenden Brillengläsern an. „Aber ich muss Sie einfach fragen: Sie sind doch Ballettänzerin?“

Ich war mir sicher, dass ich ihr das Kleingedruckte auf einer Packung vorlesen soll, weil das ständig vorkommt, dass mich jemand fragt, ob ich eine Balletttänzerin bin, hingegen nie.

Also bin ich jetzt mehrfach verwirrt und sage: „Äh, nein?“ und zwar genauso ungeistreich wie es geschrieben aussieht.

„Ich dachte nur“, fährt sie fort, „wie ich Sie so da habe stehen sehen mit den Beinen und dem Hals und dann diese Frisur… also, wie das Sinnbild einer Balletttänzerin!“

Und dann ist sie schon wieder weg, weil es ihr wahrscheinlich selbst ein bisschen peinlich ist, dass sie so spontan eine Fremde angesprochen hat, und mir ist es ein bisschen peinlich, weil ich nicht mal Danke gesagt habe, obwohl ich begreife, dass sie mir eigentlich ein Kompliment gemacht hat.

Ich fühle mich gerade heute nämlich so gar nicht wie eine Balletttänzerin. Ich habe nur deswegen so eine strenge Frisur, weil meine Haare ungewaschen sind, ich trage ein kaputtes Paar Shorts und auf meinem Schienbein prangt ein fetter blauer Fleck, der eigentlich schon eher schwarz ist. Wenn mir jemand „Cracknutte“ zugerufen hätte, dann hätte ich ihn zwar wahrscheinlich zwar schon verprügelt, aber auch verstanden.

Und dann denke ich daran, wie ich einmal Balletttänzerin werden wollte, wegen diesem magischen, verlockenden, rosafarbenen TuTu, und wie ich dann beinahe erstickt wäre zwischen alle den eifrigen rosafarbenen Mädchen in ihren ganzen energischen Tutus und der barschen Stimme der Trainerin und ihrem noch barscheren Parfüm und der stickigen Luft in der Sporthalle und der lauten Musik, die sich ständig wiederholte, und wie ich erkannte, dass ich nicht so funktionierte, wie alle anderen, und dass ich schon aus diesem Grund niemals Balletttänzerin werden würde, und wie die Welt an diesem Tag ein kleines bisschen dunkler wurde.

Ein paar Tage später unterhalte ich mich mit meiner Nichte. Wir sitzen fast, aber nicht ganz versteckt nebeneinander auf der Türschwelle draußen Richtung Hof, dort, wo niemand sonst ist, weil sie mir ein Lied vorsingen will.

„Sag mal“, frage ich sie, „wolltest du nicht Balletttänzerin werden?“

„Ja, früher einmal“, sagt sie.

Sie ist gerade sechs Jahre alt geworden, früher ist also schon sehr lange her.

„Ach“, erinnere ich mich, „aber die Probestunde hat dir nicht gefallen, stimmts?“

„Nun ja“, sagt sie ernst, „sie hat mir so nicht gefallen, dass ich GEWEINT habe!“ Sie sagt es mit einer Gewichtung, die klar macht, dass dies die höchste Stufe des Nicht Gefallens darstellt, was ich verstehe.

„Verstehe ich“, sage ich also. „Mir hat es damals auch nicht gefallen.“

„Weißt du“, sagt meine Nichte, und sie sagt das so, als hätte sie lange darüber nachgegrübelt und wäre dann endlich zu einem logischen Schluss gekommen.

„Ich bin zwar ruhig, aber mir gefallen eigentlich nur Jungssachen.“

Ich finde es ein bisschen doof, dass man immer noch laut sein muss, um Jungssachen zu tun, und dass es überhaupt immer noch Jungssachen gibt, und ich finde es um so großartiger, dass meine Nichte sich trotzdem so selbstbewusst in diesen Widerspruch einordnet.

Das sage ich aber nicht.

„Das ging mir ganz genauso“, sage ich nur, die ich viel mehr Probleme mit diesem und anderen  Widersprüchen hatte, und sehe aus den Augenwinkeln, wie sie lächelt.

Wir schauen uns nicht an, wenn wir uns unterhalten. Das können wir beide besser so.

Dann singt sie mir ihr Lied vor.

Es ist „Rod Weiler“ von Funny van Dannen.

Meine Nichte singt mit ihrer kleinen Kinderstimme die gesamte Geschichte von Anfang bis Ende durch, die gesamte tragische Geschichte. Sie wird dann leise, wenn die Geschichte leise wird, und dann laut, wenn die Geschichte laut wird, und am Ende ist Rod Weiler tot.

Ich bin mir zwar sicher, dass die Protagonisten an der einen Stelle nicht unbedingt „weiterflicken“ wollen, sondern etwas anderes tun, aber ich schweige mich dazu aus, weil mich dieses Bild irgendwie rührt, wie zwei so kaputte Seelen in einer kaputten Hütte nichts anderes tun wollen, als ihre zerrissenen Kleider und damit vielleicht auch ihre Wunden zu flicken.

Wir schweigen eine Weile, nachdem die letzten Silben verklungen sind. Das muss man bei diesem Lied tun, das wissen wir beide.

„Danke“, sage ich dann, „das ist ein schönes Lied. Wenn auch traurig.“

Sie nickt zufrieden. „Schön aber traurig!“ bestätigt sie vergnügt.

Und wir schweigen noch ein bisschen.

„Und du hast es übrigens wahnsinnig gut gesungen“, sage ich dann, weil es stimmt.

„Danke“, sagt meine Nichte jetzt, diesmal so, als wüsste sie das selbst und freue sich trotzdem, wenn es jemand anders ausspricht.

Dann hüpft sie davon und tut wieder irgendwelche Kinderdinge.

Ich bleibe noch kurz in der Sommerdorfstille sitzen, durch die nur von fern das Stimmengewirr aus dem Garten schwingt und ab und zu das Schimpfen eines der tausend Spatzen, denen der Garten eigentlich gehört, jedenfalls, wenn man sie fragen würde, und meine innere Balletttänzerin schreitet in ihrem zarten Tutu Seite an Seite mit einem alten Rottweiler mit grauer Schnauze durch die abgeernteten Getreidefelder auf einen Horizont zu, der auf einmal wieder voller Licht ist, und zwar eines, das bis in die Antarktis und ins Weltall reicht.

Ein bisschen davon leuchtet immer noch aus der Aster, die jetzt bei mir draußen auf dem Balkon steht. Es ist diejenige geworden, die nicht weiß, ob sie violett oder rot oder doch lieber blau sein will.

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