Ein Plädoyer für das Loben
In den letzten Jahren lese ich immer wieder solche Zeilen: "Hört auf eure Kinder zu loben." Denn: "Loben und Strafen seien letztlich dasselbe!" So sollten wir Kindern gegenüber nicht sagen, dass sie etwas "toll" gemacht haben. Dass sie ein "schönes Bild" gemalt oder eine "prima Burg" gebaut haben. Begründet wird diese Erkenntnis als wissenschaftlich fundiert und findet besonders in der bindungsorientierten Community Anklang. Ich wollte mehr darüber wissen und bin bei meiner Recherche immer wieder auf einen Namen gestoßen: Alfie Kohn.
Ist es nicht so, dass Loben für die Entwicklung förderlich ist, weil wir damit einen positiven Anker setzen? Gehört Loben nicht etwa zum Repertoire einer bedürfnisorientierten Erziehung? Das könnte man zumindest annehmen. Es ist jedoch vielmehr so, dass in jener Szene seit ein paar Jahren darüber diskutiert wird, ob wir mit dem Loben Kindern vielleicht sogar Schaden zufügen.
Die Theorie dahinter besagt, dass Loben am Ende nichts anderes ist, als eine Form der klassischen Konditionierung. Das bedeutet: Gewünschtes Verhalten wird - im Falle des Lobens - positiv verstärkt, mit dem Ziel, dass das Kind jenes Verhalten verinnerlicht und weiter an den Tag legt. Auf diese Weise würden wir bei Kindern die intrinsische Motivation stören, so dass dies unter anderem Leistungseinbrüche zur Folge haben kann.
Wollen wir das? Selbstverständlich nicht. In der bindungsorientierten Pädagogik geht es doch darum, Kindern einen Raum zu bieten sich individuell zu entwickeln und zu entfalten. Nicht das Verhalten steht im Fokus, sondern vielmehr die Frage: Welche Emotionen haben zu einem bestimmten Verhalten geführt. Das ist ein entscheidender, aber wichtiger, Unterschied. Und es geht letztlich darum gemeinsam mit dem Kind die aufkommenden Gefühle zu regulieren und zu integrieren.
Um jene aufgestellte Theorie des Nicht-Lobens zu untermauern und ihr einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, wird der Name Alfie Kohn in diesem Zusammenhang immer wieder genannt. Sein Buch "Liebe und Eigenständigkeit. Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung" aus dem Jahr 2010 soll hierfür "umfassende Forschungsergebnisse" liefern. Ich habe zwei Fragen. Erstens: Wer ist Alfie Kohn? Zweitens: Stimmt es, dass Loben wirklich so schädlich ist?
Wer ist Alfie Kohn?
Alfie Kohn, (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) geboren 1957, lebt in Amerika und ist dort als Autor und Dozent im Bereich Erziehung und Bildung tätig. Er ist ein Kritiker des traditionellen Bildungssystems und hinterfragt zum Beispiel die Sinnhaftigkeit von Hausaufgaben. Kohn ist unter anderem der Auffassung, dass alle Schüler*innen ein Mitspracherecht im Bildungswesen haben sollten.
Alfie Kohn ist in der bindungsorientierten Community durchaus ein wichtiger Akteur. Seine Haltung gegenüber dem Bildungssystem und bestimmten Erziehungspraktiken finden Anschluss in jener Szene. Und ja, ich kann dies tatsächlich gut nachvollziehen. Denn seine Vorstellungen von Erziehung und Bildung sind progressiv und stellen das Individuum mit all seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Seine Ideen gehen Hand in Hand mit den Werten innerhalb der bindungsorientierten Szene.
Die Theorie Alfie Kohns zum Loben bzw. Nicht-Loben sind bereits über zwanzig Jahre alt. So schrieb er zum Beispiel im Jahr 2001 in der Zeitschrift "Young Children" über seine Thesen. Übrigens: Die deutsche Übersetzung des Artikels erschien im Jahr 2019 im Online-Magazin "Rubikon", das immer wieder damit auffällt, Verschwörungstheorien zu reprodzieren oder neurechten Akteure*innen, wie zum Beispiel Daniele Ganser oder Ken Jebsen, eine Stimme zu geben.
Warum sollten wir nicht loben?
Alfie Kohn (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) definiert mehrere Gründe, warum wir besser nicht loben sollten. Ich habe drei Kernassagen ausgewählt:
1. Durch Loben werden Kinder manipuliert: Damit meint Alfie Kohn die anfangs erwähnte Konditionierung. Erwachsene loben Kinder, um gewünschtes Verhalten zu verstärken. Dies würde deshalb so gut funktionieren, weil sich Kinder unsere Anerkennung wünschen.
2. Lob macht süchtig: Wenn wir ein Kind Loben, dann schaffen wir ein Abhängigkeitsverhältnis. Das Kind möchte ständig und vermehrt gelobt werden. Dies wiederum verursacht auf Seiten des Kindes eine Unsicherheit. Es ist auf der immer wiederkehrenden Suche nach Bestätigung.
3. Kinder verlieren Interesse: Je mehr man Kinder für eine bestimmte Sache lobt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie das Interesse an jener Tätigkeit verlieren werden.
All diese Begründungen klingen auf den ersten Blick durchaus plausibel und logisch. Alfie Kohn beschreibt ferner, dass beim Loben und Bestrafen die selben Mechanismen wirken, weil wir bei beidem das Verhalten von Kindern in eine bestimmte Richtung lenken würden. Der Unterschied ist, dass wir beim Bestrafen einen negativen und beim Loben einen positiven Verstärker verwenden.
Dass Strafen in die Schublade "schwarze Pädagogik" gehört und je nach Ausmaß nachhaltigen Schaden anrichten kann, ist längst bekannt. Aber ist das beim Loben wirklich genauso? Und: Was sollen wir statt des Lobens dann tun? Alfie Kohn hat auf letztere Frage natürlich Vorschläge. So sollten Eltern oder Pädagoge*innen besser "bewertungsfreie" Aussagen treffen, in dem sie zum Beispiel eine Situation beschreiben: "Du hast gerade ein Bild gemalt" oder "Ich sehe, dass du dein Zimmer ganz alleine aufgeräumt hast". Oder man solle einfach gar nichts sagen, weil nicht alles kommentiert oder bewertet werden müsse.
Loben ist nicht gleich Loben
Wir müssen bei der Sache mit dem Loben ein bisschen differenzieren. Denn: Loben ist nicht gleich Loben. So gibt es beispielsweise einen erheblichen Unterschied, ob eine Person "übertrieben" (Das ist das schönste Bild, das ich je gesehen habe) oder "angemessen" (Das ist ein sehr schönes Bild) lobt.
Martin Tomasik (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) (Universität Zürich) schreibt, dass ein "Fähigkeitslob" (Du bist richtig schlau) im Gegensatz zu einem "Anstrengungslob" (Du hast dir für diese Aufgabe unglaublich viel Mühe gemacht) eher dazu führt, künftige herausfordernde Aufgaben zu vermeiden. Warum ist das so? Weil Anstrengung als etwas Veränderbares wahrgenommen wird, dagegen eine Fähigkeit nicht unbedingt. In einer Studie konnte tatsächlich festgestell werden, dass durch das Loben die intrinsische Motivation gesenkt wird. Das war aber nur dann der Fall, wenn Kinder auf eine bestimmte Art und Weise gelot wurden, nämlich, wenn sie mit anderen Kindern verglichen wurden. Wurden sie in ihrer Bemühung gesehen und gelobt, hat dies die intrinsische Motivation nicht beeinträchtigt.
Martin Tomasik verweist auf eine Studie von Eddie Brummelmann und Kollegen der Universität Utrecht. In dieser wurde untersucht, ob und welche negativen Folgen übertriebenes Lob auf das Selbstwertgefühl von Kindern hat. Und ja, aus dieser Studie können wir herauslesen, dass Lob in der Tat auch kritisch gesehen werden muss. Aber daraus im Umkehrschluss abzuleiten, Lob sei generell schädlich, ist schlichtweg falsch. Was aus jener Studie abgleitet werden kann: Kinder, die ein niedriges Selbstwertgefühl mitbringen, trauen sich weniger zu, wenn sie übertrieben gelobt werden. Bei jenen Kindern mit einem hohen Selbstwertgefühl, spielte die Art und Weise des Lobens weniger eine Rolle. Sie hatten ein allgemeines Zutrauen in ihre Fähigkeiten.
Es macht nach Brummelmann (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) also einen erheblichen Unterschied, ob Kinder ein personenbezogenes Lob (Fähigkeitslob) oder ein prozessbezogenes Lob (Anstrengungslob) erhalten. Und ja: Lob kann dann schaden, wenn sich dieses kontinuierlich auf die Eigenschaften eines Kindes bezieht, zum Beispiel, indem seine Intelligenz in den Vordergrund gestellt wird. Das kann wiederum dazu führen, dass ein Kind Misserfolge (die zwangsläufig passieren werden) als eine persönliche Minderbegabung interpretiert. Ein prozessbezogenes Lob kann sich stattdessen positiv auswirken:
"Prozessbezogenes Lob hat den Vorteil, dass es informativ für die zukünftige Aufgabenbearbeitung ist. Je genauer man darüber
Rückmeldung gibt, was Lernende richtig oder falsch gemacht haben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Information zukünftige Leistung verbessert. Dies birgt zudem nicht das Risiko, das Selbstwertgefühl der Lernenden langfristig zu unterminieren."
(Quelle Zitat: (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Praxis Schulpsychologie · Ausgabe 23 · Juli 2020)
Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren Aspekt in den Blick nehmen. Nämlich jenen der Neurodivergenz. So profitieren zum Beispiel Kinder mit ADHS von Lob und dementsprechend von positiven Verstärkern ungemein. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Gerade Kinder mit einer neurodivergenten Hirnstruktur können mit dem Weichspülprogramm von Alfie Kohn nichts anfangen. Denn: Das neurodivergente Gehirn braucht in einer Welt, das auf neurotypische Gehirne ausgelegt ist, eine klare Orientierung.
Apropos: Was sagt denn Alfie Kohn zu ADHS? Auf seiner Homepage (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) schreibt Kohn, dass in den letzten Jahren immer häufiger mit dem "Etikett" ADHS herumgeworfen werde, um Kinder schließlich mit Medikamenten ruhigzustellen. Für ihn handelt es sich bei ADHS um eine Modeerscheinung und aus dieser habe sich eine ganze Industrie herum entwickelt. Uff. Von jenen Thesen ausgehend, ist es nicht mehr weit zur Verschwörungstherie der Pharmaindustrie.
Menschen mit ADHS wird ja fälschlicherweilse nachgesagt, sie seien ständig überstimuliert. Weit gefehlt: Ein ADHS-Gehirn ist vielmehr auf der Suche nach der passenden Stimulation. Deshalb zeigen Kinder mit einer ADHS-Diagnose von außen ein 'ruheloses' Verhalten, sie fangen zum Beispiel Aufgaben an und beenden diese nicht. Dass Kinder mit ADHS von Lob so sehr profitieren, hängt somit mit der Struktur ihres Gehirns zusammen. Jenen Kindern fällt es leichter diejenigen Aufgaben, die von ihrem Gehirn als langweilig eingestuft werden, zu bewältigen, wenn sie durch einen postiven Verstärker angeregt werden. Und na klar, ist das eine Form von Konditionierung - das bestreitet niemand. Aber genau das ist für sie eine wichtige Strategie, um in dieser Welt irgendwie klar zu kommen.
Ist Loben das neue Strafen?
Wie wir gesehen haben, gibt es zwischen Loben und Strafen tatsächlich Gemeinsamkeiten. So etwa jene, dass es sich dabei um eine Methode handeln kann, um bestimmte Verhaltensweisen zu fördern oder eben zu hemmen. Und ja ich stimme zu, dass Loben in gewisser Weise kritisch betrachtet werden sollte. Dass zum Beispiel übertriebenes, kontinuierliches Loben nicht förderlich ist. Aber daraus zu schlussfolgern, wir sollten das Loben gänzlich einstellen und nur noch neutrale Sätze formulieren, erachte ich für absurd und auch falsch.
Ich komme mir alleine bei der Vorstellung, ich solle - wenn mir ein Kind ein Bild malt, folgenden Satz sagen: "Da hast du aber viele Farben verwendet" -, etwas seltsam vor. Das fühlt sich einfach nicht echt an. Ich fühle mich unwohl dabei. Ich möchte sagen: "Mensch, das ist aber ein tolles, buntes Bild." Und nein: Durch einen solchen Satz wird ein Kind weder unselbstständig noch verliert es seine intrinsische Motivation. Das ist Unsinn und das gibt die Studienlage auch nicht her. Was wir aus den Studien mitnehmen können, ist vielmehr, dass wir Loben erstens mit Bedacht einsetzen sollten. Und zweitens, dass prozessbezogenes Loben förderlicher ist, als personenbezogenes Loben.
Ja, ich möchte weiterhin sagen "Gut gemacht" und "Ich finde das prima". Ich möchte Kinder echt und authentisch loben. Und ich möchte euch ebenfalls ermutigen das zu tun. Denn wie Martin Tomasik (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) schreibt:
"Wenn wir das beherzigen und Kinder mit Bedacht loben, dann können wir ihnen etwas unglaublich Grossartiges antun (...)"
Und genau darum soll es doch gehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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Bis zum nächsten Mal,
Sandra