Game Studies: Folk Horror & Red Dead Redemption 2
Was denken Historiker, Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler über Spiele? Über was wird in den Game Studies diskutiert? Einige dieser Perspektiven habt ihr vielleicht schon im Podcast Auf einen Whisky gehört, wenn ich mit Lucas Boch über die Brettspielforschung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), mit Daniel Martin Feige über KI (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), mit Felix Zimmermann über Atmosphäre im Spiel (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), mit Florian Nieser über Helden (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in Sage und Legende oder Tobias Enseleit über das Mittelalter (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gesprochen habe.
Ich möchte zukünftig gerne einzelne Aufsätze oder Bücher vorstellen, die sich mit digitalen oder analogen Spiele beschäftigen. Manchmal klappt es evtl. mit einem begleitenden Autoren-Gespräch; diesmal begrüße ich am Freitag im Podcast Prof. Dr. Daniel Illger, Filmwissenschaftler und Autor des Fantasyromans Skargat (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), der in drei Bänden bei Klett-Cotta erschienen ist.
Beginnen möchte ich diese Reihe Game Studies mit seinem Aufsatz "Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)", in dem er sich mit zwei Spielen ausführlicher beschäftigt: Red Dead Redemption 2 und The Excavation of Hob's Barrow. Letzteres zappelt als Point&Click-Geheimtipp schon länger in meinem Schleppnetz und sobald ich es herausfische, werde ich diesen Aufsatz nochmal berücksichtigen. In dieser Erkundung konzentriere ich mich auf Illgers Gedanken zu Rockstars grandiosen Western von 2018, in dem man in die Rolle des Gesetzlosen Arthur Morgan schlüpft.
Er beginnt seine Ausführungen im Bereich des Films, mit Whistle and I’ll come to you (1968), Witchfinder General (1968) sowie The Blood on Satan's Claw (1971), um ein Merkmal des Folk Horrors zu beschreiben: die Landschaft als wichtigen Bestandteil und Träger eines inneren Konflikts zwischen Mensch und Natur. Sehr hilfreich ist die Abgrenzung zwischen Folk Horror und Cosmic Horror à la Lovecraft:
"Letzterer verweist auf eine Wirklichkeit hinter unserer Wirklichkeit, die von unbegreiflichen Gesetzmässigkeiten beherrscht und von unfasslichen Wesen durchstreift wird; Ersterer eröffnet eine Wirklichkeit neben unserer Wirklichkeit, die fremd und verstörend wirkt, jedoch innerhalb eines Kontinuums von Raum und Zeit waltet."
Auch in Videospielen können Zivilisation und Wildnis, Gegenwart und Vergangenheit sowie das "Fluchhafte und das Segensreiche" in der Landschaft aufeinander treffen. Hier wählt Illger als Beispiel das Hexenhaus aus Red Dead Redemption 2. Ich erinnere mich noch genau an diese ebenso bizarre wie unwirkliche Szene. Spätestens als ich den Kessel mit dem (vermuteten) Zaubertrank sah, öffnete sich für einige Augenblicke eine Tür zu Grimms bösen Märchen - mitten im Wilden Westen.
War das nicht ein Bruch? Oder zumindest ein überflüssiger Fremdkörper, weil der Ort sowie der Trank keine Rolle spielte und in diesem Sinne nicht nützlich war? Illger analysiert den Schauplatz und seine zufällige Entdeckung im Kontext der Story, um dann zu folgern:
"Insofern besteht die Funktion von Witches Cauldron gerade in der Funktionslosigkeit des Ortes; seine narrative Verschlossenheit erlaubt es, dass in ihm die historische, kulturelle und möglicherweise auch metaphysische Tiefe eines Weltkonstrukts erahnbar wird, welche der räumlichen Weite nicht nur korrespondiert, sondern sie erst mit Sinnhaftigkeit erfüllt und somit der Beliebigkeit enthebt."
Das märchenhafte Hexenhaus im realistischen Wilden Westen ist laut Illger eine Ergänzung, die aus kulturhistorischer Sicht mit dem amerikanischen Frontier-Mythos zusammenhängt wie auch in den Filmen The Blair Witch Project (1999) oder The VVitch (2015):
"(...) die Vorstellung, dass die Wildnis – Ort der Bedrohung und Bewährung, der Zerstörung und Erneuerung, Verdammnis und Erlösung – eine Brutstätte von Teufelsanbetern und Hexen, ein Festplatz des Dämonismus sei."
An dieser Stelle sieht Illger einen Anknüpfungspunkt zu Thesen der Philosophie, in denen die Aufklärung zwar die mythische Weltsicht samt ihrer Götter entzauberte, und den Menschen theoretisch von altem Aberglauben befreite, aber gleichzeitig ein Bedürfnis in ihm erschuf, sich totalitärer Herrschaft (samt neuem Aberglauben) zu unterwerfen.
"Mit einer Härte, die an die grundlegende Thetik der Dialektik der Aufklärung (1947) von Horkheimer und Adorno gemahnt, stellen die Spiele heraus, dass die Zivilisation, indem sie den Wilden Westen zur Vernunft bringt, alles ausmerzt, was un- und widervernünftig ist, und damit zügellose Gewalt durch bürokratischen Terror ersetzt."
Arthur Morgan und seine Bande standen im Spiel ja für eine fast ausgestorbene Spezies, die dem archaischen "Code of the West" folgte, bei dem man sein Recht mit Gewalt durchsetzen konnte, während sie von den neuen Gesetzen des Staates in Form der Pinkertons verfolgt wurden - dem Vorläufer des FBI.
Interessant ist, dass das Hexenhaus dem offensichtlichen historischen Konflikt zwischen dem Wildem Westen und der Moderne noch eine weitere Facette hinzufügt. Im Gegensatz zu Arthurs zeitlich begrenztem und letztlich zum Scheitern verurteilten Kampf widerstrebt sie quasi auf ewig, in einer Art parallelen Welt, die für den Spieler nicht erfahrbar ist:
"Hier findet sich eine andere, gewissermassen chthonische Opposition, die das zunehmend selbstzerstörerische Desperadotum der Van der Linde-Bande zweifellos überdauern wird. Doch können weder Arthur noch die Spielerinnen und Spieler an dieser Opposition teilhaben. Das Zwielichtreich, das dort in den Bergwäldern verborgen liegt, lockt und droht – betreten lässt es sich nicht. Gerade hierin werden die Natur und das Naturhafte in Red Dead Redemption 2 zum Reflexionsmedium."
Ich habe in dieser Erkundung nur einige Aspekte des Aufsatzes aufgegriffen. Ihr findet ihn komplett als PDF hier: Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), Daniel Illger, in: kids + media, 1/23, hrsg. vom Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der Universität Zürich.