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Rausch aus dem Alltag

von Mika

Die Sonne scheint, aber ich will nicht rausgehen. Stattdessen reiße ich die Fenster auf und tänzel um die Farben, Gläser und Pinsel, die ich zwar auswasche, aber nie genug, damit sich nicht doch alte Farbreste in die neuen Bilder mischen. Meine Eltern lassen sich scheiden, und ich will malen. Ich müsste arbeiten, aber ich will malen. Ich habe Hunger, aber ich will malen. 

Seit einigen Monaten sammeln sich in meiner Wohnung die Leinwände und großformatigen Papiere, und egal wie rum ich sie stapel: Der Platz wird eng. Es ist nicht so, als sei ich nicht gewarnt worden: Wenn du aufhörst zu trinken, das sagen alle, dann kommt was zurück – Gefühle, manchmal Menschen, und oft auch alte Leidenschaften. Nicht umsonst bedeutet »Recovery« wortwörtlich »Rückholung«. Bloß was man zurückholt weiß man vorher nicht. Erstmal ist da nur jede Menge Zeit und Raum und beides muss man mit irgendwas füllen. Ich bin Samstagmorgen auf den Wochenmarkt gegangen, habe Sonnegrüße und meine eigene Bärlauchpesto gemacht. Makrame, CrossFit, Töpferkurs, Schlagzeugspielen, Ehrenamt, Schach. Bücher angefangen, verworfen und wieder aufgegriffen, neue Ernährungsweisen ausprobiert, auf Gluten verzichtet, wie gesagt: Man muss die Zeit halt füllen. Aber mit dieser Macht, mit der mein Unterbewusstsein eine »Rückholung« startet, hatte ich nicht gerechnet – vor allem nicht im fünften Jahr der Nüchternheit. Vielleicht hatte ich insgeheim ein bisschen gedacht, fertig zu sein. Das Malen ist wie ein neuer Rausch, der irgendwo in den alten Synapsen geschlummert hat, der sich jetzt Bahn bricht. Und ich liebe jede Sekunde davon.

Manchmal wäre es ja doch ganz schön, völlig auszurasten.

In den Beratungen mit meinen Klient:innen ist das immer wieder Thema: War’s das jetzt mit dem Rausch? Woher kriege ich jetzt den Kick? Manchmal wäre es ja doch ganz schön, völlig auszurasten. Die Antworten, die Menschen auf diese Fragen finden, sind so individuell wie das Leben. Und vor allem sind sie ein Prozess. Ich kann das Bedürfnis natürlich verstehen, habe mir die Fragen alle selbst gestellt, und sie zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich für mich beantwortet. Momentan beantworte ich sie mir mit Farben. Wenn ich malen will, und nicht gerade mein Leben davon abhängt, etwas anderes zu machen, dann male ich. 

Wenn ich male, dann verlaufen meine Gedanken mit den Farben auf der Leinwand, ich muss sie nicht in Worte oder Sätze formen, muss sie nicht ordnen, kürzen oder fertigschreiben. Sie sind dann das, was sie in diesem Moment sind. Ich bin das, was ich in diesem Moment bin. Alles was später kommt, kommt später. Jetzt spreche nur ich. Die Stimme, die gerne mal kritisch über jeden Punkt und jedes Komma schaut, die mich fragt, ob das nicht doch etwas zu exhibitionistisch ist, zu narzisstisch, wie ich mich darstelle, und wen das eigentlich interesssiert, ist still. Im Moment, wenn Farben ineinanderfließen, gibt es weder Grandiosität noch Minderwertigkeit. Und es gibt auch keinen Mittelweg, den ich ohnehin nicht finde. Niemand fragt, ob es in Ordnung ist, hier jetzt rot zu malen, die Ecken freizulassen oder was andere denken, wenn ich einen fetten Strich durch alles durchmale. 

Natürlich stehe auch ich vor meinen Bildern, wenn ich den Pinsel aus der Hand lege, trete einen Schritt zurück und frage mich ganz ehrlich, ob davon jetzt irgendwas gut ist. Ich denke darüber nach, was Kunst eigentlich ist und woran ich sie erkennen würde. Ich frage mich, ob es okay ist, etwas so sehr zu lieben, ohne zu wissen, dass ich es gut mache (die Antwort ist natürlich JA).

Ich frage mich, ob es okay ist, etwas so sehr zu lieben, ohne zu wissen, dass ich es gut mache (die Antwort ist natürlich JA).

Viel interessanter ist für mich zu sehen, dass in den Bildern auch meine Haltung zum Leben liegt: das dynamische Chaos, auf dem nur hin und wieder kleine Inseln der Ruhe schwimmen. Der Unwille, Raum zu lassen, auch wenn ich weiß, dass es dem Gesamtwerk gut tun würde. Die Zweifel, ob schon genug auf dem Bild drauf ist, ob es reicht. Alles bleibt irgendwie provisorisch, es gibt nie den letzten Strich, weil ich immer erst hinterher weiß, ob der Prozess vorbei ist. Meistens ist das dann, wenn ich das Interesse verloren habe. Ich investiere in Grundierung und Farben und pinsel, aber nicht in Mittel, um das Bild final zu fixieren.

Einige Jahre lang war Kunst das einzige, was ich wirklich gern gemacht habe. Ich habe Kunst gemacht, wenn ich Stress in der Schule hatte. Ich habe gezeichnet, um abzuschalten. Ich habe gemalt, um mich zu spüren. Und vor allem: einfach so. Bis ich stattdessen anfing zu trinken. Dann habe ich getrunken, um mit Stress umzugehen, abzuschalten, mich zu spüren und einfach so. Es fasziniert mich, wie nah diese beiden gegensätzlichen Zustände nebeneinander liegen: die radikale Anwesenheit an der absoluten Abwesenheit.

Es fasziniert mich, wie nah diese beiden gegensätzlichen Zustände nebeneinander liegen: die radikale Anwesenheit an der absoluten Abwesenheit.

Das Malen transportiert das Ich aus dem gleichförmigen Alltag in einen Zustand der radikalen Anwesenheit – das Trinken in die Abwesenheit. Beides liegt in einer Sphäre außerhalb von Steuererklärung. Kreativität ist eine Einheit aus Denken, Fühlen, elektrischer Freude, Intuition und Vertrauen. Alkohol lässt all das erstarren und zäh werden, mühsam als lägen die Gedanken in Morast, bis man nicht mehr weiß, wer man ist. Das kreative Wollen, schiebt mich nach vorne. Das süchtige Wollen zieht mich am Solar Plexus aus mir heraus. Und doch: beide haben mich in meinem Leben immer wieder von meinen eigenen Ansprüchen entlastet. Im Prozess, in dem nur ich entscheide und im Suff, wenn ich mich der Illusion hingab, mein Leben würde mir gehören. 

Das Bedürfnis, aus sich herauszuzutreten und innerlich woanders hinzugehen, ist so menschlich wie Hunger und Durst. Umso leidiger ist es, wenn so getan wird, als könnte man das nur mit Alkohol oder anderen Drogen erreichen (Zeitredakteure und ihre Rebellion, ihr wisst schon). Als gäbe es keine anderen Möglichkeiten, mal nicht über die Steuererklärung nachzudenken. Das ist in etwa so, als könnte man auf Hunger nur mit »Tiefkühlpizza« antworten. Es ist eine ziemlich kapitalistische Sichtweise, weil es immer darum geht, etwas sofort und auf Knopfdruck zu bekommen, weil man versucht, die Momente, die wirklich zählen, möglichst schnell und verlässlich abzuhandeln – man hat ja keine Zeit! Das ist das Gute an der Nüchternheit: Zeit hat man jetzt. Doch es ist noch viel mehr. Allem voran ist es die Chance, all die anderen Antworten abseits vom Trinken wiederzuentdecken, sozusagen das ganze Menü der verschiedenen Flow-Zustände zu erforschen, die kleinen Taschenuniversen außerhalb der To-Do-Listen kennenzulernen, die Momente zu finden, in denen der Alltag beiseite tritt. Und jetzt ist es auch endlich möglich, dabei anwesend zu sein.

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