Mehr habe ich dazu nicht zu sagen
Valentin Silvestrov: Der Bote (1996-1997)
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Vor fast genau drei Jahren begann Russland mit dem Großangriff auf die Ukraine. Die USA unter Trump wollen der Ukraine nun nicht mehr beistehen und stattdessen mit Putin gemeinsame Sache machen. Soll die Ukraine doch selber schauen, wo sie bleibt.
Die Aggressoren werden dann gewonnen haben, Europa bliebe die undankbare Aufgabe, den Diktatfrieden abzusichern. Von den USA ist unter Trump nichts zu erwarten an Solidarität mit Europa. Das Amerika der Befreier Europas ist Geschichte.
Hier nun, aus aktuellem unerfreulichem Anlass, ein leicht überarbeiteter Text von Februar 2022, über den ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov.
Wer heute einen Altbau baut, kann schlechterdings nur einen Altbau bauen, der weiß, dass er ein Altbau ist. Dieses Wissen würde bestenfalls in den Entwurf einfließen, als zartes Zitat, als spöttischer Verweis, als postmoderner Kommentar. Unkundiges Publikum hielten einen solchen neuen Altbau vielleicht für etwas authentisch Altes. Und die Kritik würde in einem solchen Gebäude womöglich Einfallslosigkeit, Kitsch oder gar reaktionären Geist sehen.
Ein solches Gebäude in etwa ist die Musik des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov. Sie ist ein unmöglicher Altbau, sie ist ein Kommentar auf klassische und romantische Musik, oder in den Worten des Komponisten: “Metamusik”, also Musik über Musik.
Das Stück, das ich euch in diesen traurigen Tagen vorstellen möchte, ist eine durch unzählige Klavier-Elegien gegangene Klavier-Elegie, sie ist ein bescheidenes “Mehr habe ich dazu nicht zu sagen” von einem Komponisten, der seine Aufgabe nicht im Schaffen von Neuem sieht, sondern – und das sagt er selbst – im “Dämpfen” der allgegenwärtigen klassischen, romantischen Einflüsse, die immerzu durchbrechen wollen. Silvestrovs Musik behauptet nicht, Mozart, Beethoven oder Schumann etwas hinzuzufügen zu haben. Davon handelt seine Musik.
Von dem Philosophen Mike Sandbothe stammt der Satz, die Postmoderne sei eigentlich keine neue Epoche, sondern die “Einübung eines neuen Umgangs mit der Moderne”. In diesem Sinne ist Silvestrov postmodern. Er kommentiert die übertrieben gefühligen, schmalzigen Interpretationen romantischer Klavierwerke, in dem er in die Noten unzählige Verzögerungen, Pausen und Akzente hineinschreibt, die das Stück – bei werkgetreuer Interpretation – eben übertrieben gefühlig erscheinen lassen. Das Publikum ahnt davon nichts, aber die Person am Klavier weiß, dass ihr der Komponist hinter die Stirn, hinter die Brust blickt und in den Noten zu ihr sagt:
Ich weiß, dass du hier ein übertriebenes rubato (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) spielen willst, weil du romantisch klingende Musik so kennengelernt hast. Du willst hier schmerzerfüllt in die Ferne blicken. Aber ich nehme dir diese Freiheit der Interpretation ab, in dem ich das, was du als dein Gefühl darstellen willst, schon buchstäblich so in die Noten schreibe.
Silvestrov offenbart den mal schmerzerfüllten, mal versonnenen Blick der Person am Klavier als das, was sie ist: als eine – im schlimmsten Fall leere – Geste.
Die Pointe ist: Die Musik schrammt trotz ihrer bescheidenen Distanziertheit nur haarscharf am Kitsch vorbei. Silvestrov weiß das natürlich und imprägniert seine Stücke gegen diese Kritik durch ihre Namensgebung. Bereits 1977 erschien das Klavierwerk “Kitschmusik”. Ist es noch Kitsch, wenn man es Kitsch nennt?
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Die Schleichwege gibt es auch als Buch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Und falls du das Buch bei Amazon gekauft hast, würde ich mich über eine Bewertung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und ggf. eine kleine Rezension dort freuen.
In seinem 1996-1997 entstandenen Stück “Der Bote” (das Silvestrov parallel für Klavier solo und für Klavier mit Streichorchester schrieb), präsentiert er zuerst drei Dur-Dreiklänge mit großen Pausen dazwischen. Er führt das Material nicht kunstvoll ein, er zeigt es vor. Als ob man in der Eingangshalle eines Altbaus Materialproben der Bauelemente und Blaupausen in gläserenen Vitrinen präsentiert bekäme. Nur in einem Altbau, der weiß, dass er ein Altbau ist, wäre so etwas möglich. Aber wäre ein solches Gebäude dann mehr als ein Museum? Oder wäre es ein Gebäude über ein Gebäude, so wie Silvestrovs Klavier-Elegien Musik über Musik sind?
Wenn man die leeren Gesten nicht mehr sehen, die thoughts and prayers nicht mehr hören kann, dann sagt Silvestrovs Musik: Ich kann auch nicht mehr. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.
Hélène Grimaud spielt Valentin Silestrovs “Der Bote”:
https://www.youtube.com/watch?v=S3QzqBFkhtg (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Hier findest du das Stück im Streaming (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Alles Gute aus Berlin
Gabriel