Selbstbewusst genug für Witz
Morton Gould: 4. Sinfonie (“West Point”) für Wind Band (1952)
Kurzer Hinweis in eigener Sache: Ab kommender Woche kostet eine neue Monats-Mitgliedschaft bei den Schleichwegen 5€ statt wie bislang 4€, eine Jahresmitgliedschaft 60€ statt 48€. Die Preise für bestehende Mitglieder bleiben gleich, aber wenn du freiwillig den höheren Preis zahlen möchtest, würde ich mich sehr freuen.
In den nächsten Tagen wird dir Steady dazu eine Mail schicken (Steady ist der Anbieter, über den ich diesen Newsletter schreibe und versende*). Du kannst dann einer freiwilligen Erhöhung zustimmen – oder auch nicht. Wenn du nichts tust, bleibt alles beim Alten. Es gibt keine automatische Preiserhöhung für bestehende Mitglieder.
In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich seit zwei Jahren Musik vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und führe dich durch die Musik: Worauf soll ich hören? Wie kann ich diese Musik besser verstehen und damit mehr genießen? Damit ich auch weiterhin auf die Schleichwege gehen kann, unterstütze mich auf Steady (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) mit einer Mitgliedschaft!
Tuba (Foto: B Mat an gelo (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) auf Unsplash (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))
Auf Schleichwegen marschiert es sich schlecht. Trotzdem geht es heute mal kurz um Marschmusik, denn von Mozart und Haydn über Wagner und Verdi bis Mahler und Ives – Märsche sind fester Bestandteil der Kunstmusik, wenn auch aus sehr unterschiedlicher Motivation.
Johann Strauss (Vater) schrieb zu unzähligen Anlässen Märsche, zum Beispiel den Radetzkymarsch (1848) zu Ehren des verehrten österreichischen Heerführers. Noch heute wird diese Musik regelmäßig beim festlichen Wiener Neujahrskonzert gespielt, und das Publikum, das über die Jahrzehnte begeistert mitklatscht, verursacht wohl nicht nur bei mir ein Mischgefühl aus Scham und Angst, wie es nur die österreichische Oberschicht kann:
https://www.youtube.com/watch?v=ewgUHC2cOdU (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Musik wie diese wird der junge Gustav Mahler gehört haben in der böhmisch-mährischen Provinz, wo er aufwuchs. Doch seine Idee vom Marsch kennt keinen Nationalismus mehr. Mahler hat den Marsch psychologisiert und ins Groteske verzerrt. In seiner 5. Sinfonie (1901-1902) wird seine Kindheitserinnerung an vorbeimarschierende Soldaten zum Trauermarsch. Beginnend mit einer Trompetenfanfare wie man sie aus der Militärmusik kennt, führt sein Marsch geradewegs in den Untergang. Mahlers Märsche “gleichen Herzattacken”, sagt der Dirigent, Komponist und legendäre Musikvermittler Leonard Bernstein. Überzeugt euch selbst:
https://youtu.be/fEGNNuEM3Fc?t=33 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Strauss und Mahler kennen vielleicht einige von euch. Die Musik, die ich euch im heutigen Newsletter aber eigentlich vorstellen will, kennt ihr vermutlich nicht. Es ist auch nicht direkt ein Marsch, sondern eher eine Marschtextur, eine Musik, die Märsche zitiert, verfremdet, veralbert.
Der Amerikaner Morton Gould schrieb sie 1952 zum 150. Jubiläum der Militärakademie West Point: eine Sinfonie für Wind Band. Das ist eine in Deutschland nicht so gängige Besetzung:ein symphonisches Blasorchester wie es in Nordamerika verbreitet ist. Es ist ein Orchester, aber es fehlen die Streicher. Keine Geigen, keine Celli, keine Bratschen, kein Kontrabass, dafür viel Blech und Schlagwerk. Die Wind Band ist größer als eine Blaskapelle und sie marschiert nicht. Seit den 1950ern hat sie auch eigens für sie komponierte Musik. Zur Literatur für diese Besetzung hat Morton Gould einen originellen Beitrag geleistet.
Der erste Satz von Goulds zweisätzigem Werk (“Epitaphs”, Grabinschriften) betrauert noch die Toten. Der zweite (“Marches”, Märsche) strotzt dann aber vor verspieltem Witz. Ich weiß es nicht, aber ich bilde mir ein, das Selbstbewusstsein, die Nazis (vorerst) plattgemacht zu haben, in der Entscheidung erkennen zu können, eine militärisches Festivität mit gewitzter und nun gar nicht so staatstragender Musik – eines jüdischen Komponisten – zu begehen.
Hört euch den zweiten und letzten Satz von Morton Goulds 4. Sinfonie für Wind Band an, hier gespielt vom studentischen Wind Ensemble (noch ein Begriff für das sinfonische Blasorchester) der University of Texas:
https://youtu.be/pvnsmuk16ZA?t=740 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)(Was der einsame Kontrabassist in dieser Wind Band verloren hat, ist mir ehrlicherweise nicht ganz klar.)
Hier findet ihr das Stück im Streaming (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Die Aufnahme ist alt, aber legendär. Das Eastman Wind Ensemble aus Rochester, New York zeigt, was die Wind Band kann.
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
P.S.: Unterstütze meine Arbeit auf Steady (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) mit einer Mitgliedschaft! Ich würde mich sehr freuen, und mit 5€ im Monat bist du dabei (ab Montag dann 6€ für neue Mitglieder).
*) Transparenzhinweis: Ich bin einer der Gründer von Steady, dort aber nicht mehr operativ tätig, halte aber weiterhin eine Minderheitsbeteiligung.