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Bitte die Zeichen beachten

Mauricio Kagel: Divertimento? (2005/'06)

Beginn verkehrsberuhigter Bereich (Onlinestreet (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), CC BY 4.0 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre))

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Unmittelbar nach der Überquerung der deutsch-polnischen Grenze auf der Insel Usedom befindet man sich auf einer kerzengeraden Straße, die in die Stadt Świnoujście (Swinemünde) führt. Auf dieser Straße erlebt man eine Art Reset der polnischen Straßenverkehrsordnung. Als ob man den Autofahrenden mitteilen wollte, welche Schilder es in Polen so gibt, werden alle möglichen der Reihe nach vorgezeigt. Nicht nur Tempolimits, auch Zebrastreifenhinweise, sogar ein Verbot von Pferdegespannen (die ich als Warnung vor kreuzenden Pferden fehlinterpretierte) ist dabei. Dazwischen gelb blinkende Ampeln. Wenn einen auf Usedom eine nächtliche Lust auf mit Kartoffeln gefüllte Piroggen mit Schmand überkommt, muss man diese Prachtstraße des Zeichenvorrats polnischer Verkehrsbeschilderung runterfahren, ich glaube mit maximal 30 Kilometern pro Stunde. Dabei erlebt man selbst einen kleinen Reset. Die offenbar kontextlos aufgestellten Schilder entfalten in ihrer rhythmischen Sinnlosigkeit eine Wirkung, die gleichermaßen albern wie meditativ ist. Das kann man nicht von vielen Grenzübergängen behaupten.

In seinem Stück “Divertimento?” macht Mauricio Kagel etwas Ähnliches: Er führt zu Beginn die beteiligten Instrumente ganz kurz vor. Eins nach dem anderen darf jedes ganz kurz ein g spielen, aber nicht gleichzeitig wie beim Stimmen, sondern schön nacheinander. Dann einen Halbtonschritt höher das Ganze nochmal mit anderen Instrumenten und dann noch einmal. Das Stück hat noch gar nicht richtig begonnen, da ist das Publikum bei den Donaueschinger Musiktagen 2006 bereits außer sich. Auf die kurz vorgezeigten Töne folgen Applaus, Gejohle, große Freude (in der unten verlinkten Aufnahme nachzuhören). Es ist unglaublich lustig, wenn man eine bestimmte Art Humor hat. (Ich habe.)

Der absurde Szenenapplaus ist Bestandteil dieser “Farce für Orchester” (so der Untertitel des Werks), in der verschiedene Abweichungen von der üblichen Orchesterperformance vorgeschrieben sind. In einem Begleittext (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) schreibt Kagel,  “es ist kaum zu leugnen, dass es häufig zu offenen Aggressionen zwischen Dirigent und Musikern kommt, oft bedingt durch lang- oder kurzfristig berechtigte, aber auch durch irrationale Gründe”. Das “Divertimento?” ist auch musikalischer Ausdruck außermusikalischer Konflikte.

Der Deutsch-Argentinier Kagel war einer der innovativsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er war ein Intellektueller mit Humor; man kann es in der Musik hören, wenn man sich etwas abenteuerlustig auf sie einlässt. Mit dem Titel Divertimento bezieht er sich augenzwinkernd auf einen aus der Mode gekommenen Typus unterhaltsamer Musik. Das Wort heißt auf italienisch eigentlich Vergnügen, aber es lohnt sich, auf alle Zeichen zu achten, auch auf das Fragezeichen im Titel.

Wer aus Świnoujście in den deutschen Teil der Insel zurückkehrt, bekommt gar keine Schilder vorgezeigt. Im Gegenteil. Man fährt durch ein unbeleuchtetes Waldstück und dann schnurstracks in eine Baustelle, flankiert von hilflos aufgestellten Baken. In Polen hatten sie mehr Humor.

https://www.youtube.com/watch?v=aOp6Lg0bjHU (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Hier gibt es das Stück im Streaming (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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Sujet Neue Musik

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