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Normalerweise erwartet man von Wochen mit langem Wochenende nicht so viel, und jetzt sitzen wir hier nach Christi Himmelfahrt und müssen die ganz großen Fragen beantworten: Wo fängt eigentlich Antisemitismus an und wo hört Inkompetenz auf? Sind „Gott sei Dank lange zurückliegende Zeiten“ in Deutschland immer Existenzzeiten der NSDAP? Und ist das alles anders, wenn es nicht in Deutschland passiert?

Aber von vorne: Fangen wir an mit der Süddeutschen Zeitung, die in der vergangenen Woche eine Karikatur veröffentlichte (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), die sehr schnell den Vorwurf des Antisemitismus auf sich zog. Nicht zu Unrecht: Zelenskiy, der jüdische Präsident der Ukraine, thront überlebensgroß oberhalb des Weltwirtschaftsforums, die Hände gefaltet, verschränkt, reibend, man weiß es aufgrund des Standbildes nicht. Unter ihm die Mächtigen der Welt, versammelt um einen großen runden Tisch.

Der Shitstorm war nicht zu vermeiden, und die SZ tat das, was man in solchen Fällen immer macht, wenn man schlecht beraten ist: Keinerlei Einsicht zeigen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Und das denkbar schlecht: Das Argument, die Karikatur sei „die zeichnerische Umsetzung der Fernsehbilder vom Montag“ zieht überhaupt nicht, denn für eine Reproduktion von Fernsehbildern brauchen wir keine Zeichnung und schon gar keine Karikatur: Wir können einfach das ohnehin sehr eindrucksvolle Foto verwenden, das die SZ selbst als Original anführt. Aber es gibt ja nun diese Karikatur, und sie weicht in allem außer dem Setting (Weltwirtschaftsforum) und der Identität der zentralen Figur ab. Es gibt kein anonymes, in normalen Stuhlreihen sitzendes, mit dem Handy fotografierendes Publikum, sondern etwa 40 Menschen, die an einem runden Tisch sitzen. Zelenskiy wirkt aufgeschwemmt, hat weit aufgerissene Augen und eine prominente Hakennase. Kurz: Ohne den Kontext und sein Markenzeichen, das simple T-Shirt, wäre der Karikatur-Zelenskiy nicht erkennbar.

Die Karikatur soll und kann natürlich keine Reproduktion des Fotos sein. Sie gewichtet anders, sie lässt für sich irrelevante Dinge weg und fügt andere hinzu. Die Ausflucht der SZ, hier habe man doch nur die Realität nachgestellt, ist vollkommen absurd und einer vermutlich intelligenten Chefredaktion unwürdig. Und natürlich finden sich antisemitische Bildsprachen in der Karikatur, die im Foto eindeutig nicht zu finden sind: die gesamte Situation ist anders dargestellt.

Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Antisemitismen Absicht waren. Ich halte es für wenig wahrscheinlich, dass bei der SZ ein Karikaturist den Stift in die Hand nimmt und denkt: „Jetzt zeigen wir es dem ukrainischen Juden aber mal“. Aber sie sind eben da. Und das bedeutet im für die SZ schmeichelhaftesten Fall, dass sich weder ihr Karikaturist noch die entsprechende Redaktion noch die Chefredaktion über diese Bildsprachen bewusst sind. Oder ganz kurz: Die SZ hat die Wahl zwischen „Wir haben antisemitische Bildsprache bewusst zugelassen“ und „Was Antisemitismus angeht sind wir vollkommen inkompetent.“

Weiter ging es mit keinem geringeren als unserem Bundeskanzler, der sich rund um den Katholikentag in diversen Fettnäpfchen gesuhlt hatte, von denen uns hier aber nur das größte interessieren soll: In Reaktion auf diverse Zwischenrufe und offenbar auch den Versuch eines Aktivisten, sich auf der Bühne festzukleben, sagte Scholz wörtlich:

"Ich sage mal ganz ehrlich, diese schwarz gekleideten Inszenierungen bei verschiedenen Veranstaltungen von immer den gleichen Leuten erinnern mich an eine Zeit, die lange zurückliegt, und Gott sei Dank."

Da liegt die Assoziation zu Nazis natürlich auf der Hand, und Twitter war damit auch ganz schnell. Scholz ließ per Pressesprecherin ausrichten, Nazis seien natürlich nicht gemeint, wer dann aber stattdessen wollte man lieber auch nicht sagen. Scholz, das ist eindeutig, möchte das Thema aussitzen, was immer eine dumme Idee ist.

Aber auch was an „Analysen“ im Anschluss über Twitter lief, ließ oft eine gewisse Klugheit vermissen: Nein, Scholz hatte den Aktivist:innen natürlich nicht vorgeworfen, Schauspieler zu sein (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) (also für ihren Einsatz bezahlte Leute), sondern dass sie mit Mitteln des Schauspiels einen Eklat inszenieren wollten – was ja auch recht gut funktioniert hat. Und nein, Scholz hat auch nicht „Klimaschutz als Ideologie mit Parallele zur NS-Herrschaft“ stilisiert, wie Luisa Neubauer sagt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ganz im Gegenteil: Es ging ihm bei diesem Vergleich ja nicht um die Ideologie, sondern um die äußere Form des Protests: die Uniformierung, die Störung einer Veranstaltung bzw. die gleichförmige Störung gleich mehrerer Veranstaltungen in Reihe. Man muss mit Scholz nicht einer Meinung sein, ganz im Gegenteil, aber Präzision hat noch jeder Analyse genutzt.

Bleibt die Frage, was Scholz denn nun gemeint haben könnte mit seiner historischen Analogie. Die RAF? Linke Spontis? Die außerparlamentarische Opposition? Die badischen Revolutionäre von 1848? Alles wenig wahrscheinlich. Dass er die NS-Herrschaft gemeint haben könnte, halte ich aber auch für weit hergeholt, denn unter der NS-Herrschaft gab es nicht mehr allzu viele Veranstaltungen, die uniformiert auftretende Nazis hätten sprengen können. Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass Scholz die Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik meinte, in der politische (Kampf-)Gruppen von vielen Seiten mit mal mehr, mal weniger rabiaten Mitteln Veranstaltungen des politischen Gegners störten. Daran beteiligte sich natürlich auch die NSDAP, aber eben nicht nur: gewalttätige Auseinandersetzungen waren ein Symptom der ungefestigten Demokratie. Selbst in den ruhigen Jahren gab es, so hat es der Göttinger Historiker Dirk Schumann formuliert, einen „unausgesprochenen Konsens über die Legitimität von Gewalt“ der sich „bereits in die politische Kultur eingefressen hatte.“ Scholz‘ Vergleich zielte also, nehmen wir diese These mal als zutreffend an, nicht auf eine Gleichsetzung von Klimaaktivist:innen mit Nazis, sondern von organisierten Saalstörer:innen. Unter denen befanden sich natürlich auch Nazis.

Das ist kein besonders kluger Vergleich, auch wenn er Applaus beim Katholikentag fand. Man merkt Olaf Scholz an, dass er mit seiner Geduld am Ende ist, eine weniger unterkühlte Persönlichkeit hätte vielleicht angefangen herumzuschreien. Trotzdem hat Scholz ganz offensichtlich die Kontrolle verloren angesichts zwar unhöflicher, aber wirklich weitgehend harmloser Zwischenrufe. Nun hat er den Salat und wird mit ihm umgehen müssen, denn der vermeintliche Nazivergleich wird ihm beim Umgang mit Klimapolitik immer wieder auf die Füße fallen.

Und damit zum letzten Thema, von dem sicher viele wünschen würden, es wäre irgendwann einem Wittenberger Kirchgänger auf die Füße gefallen, nur damit es kaputt geht: Die „Judensau“ der Wittenberger Stadtkirche (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), gute 700 Jahre alt, zutiefst judenfeindlich, hasserfüllt, niederträchtig. Ein Zeugnis der Schande für Stadt und Gemeinde. Der Bundesgerichtshof muss nun entscheiden, ob die Skulptur von der Kirche entfernt werden muss, geklagt hat ein Bonner Jude. Die Gemeinde ist, wie immer, dagegen und verweist darauf, dass man sich schon kritisch mit der Plastik auseinandersetze: Direkt unter ihr ist eine Tafel in den Boden eingelassen, die den christlichen Judenhass als Grundlage des Holocaust bezeichnet:

Alan Posener hat richtigerweise darauf hingewiesen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), dass das Abbauen der „Judensau“ die Kirche von ihrem antijüdischen Erbe befreien würde. Sie gehört an das Gotteshaus, um stetig daran zu erinnern, was Kirche in Deutschland über ein Jahrtausend den Juden um sich herum angetan hat. Die Plakette im Boden ist dafür nicht geeignet: Sie ist verkünstelt, sie verwendet einen ohnehin nur mühsam lesbar gesetzten Text, der für Uneingeweihte kaum verständlich ist:

„Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“

Wer soll als Unwissender verstehen, worum es hier geht, und wie sich das auf die „Judensau“ bezieht? Wer soll vor der Kirche überhaupt erkennen, was da oben unter dem Dach angebracht ist? Eigentlich braucht es einen großen roten Bilderrahmen, wenn nötig mit LED-Markierungen für die Nacht. Ein Leuchtsignal das jedem Menschen, der an der Wittenberger Stadtkirche vorbeikommt, in klar verständlichen Worten, auf Deutsch, Hebräisch, Türkisch, Russisch und bei Bedarf in allen anderen Sprachen der Welt erzählt: Das hier haben wir an unserer Kirche angebracht, wir empfanden es als Signal unserer Überlegenheit und wir haben es 700 Jahre hier so stehen lassen. Der Bundesgerichtshof entscheidet angeblich in zwei Wochen, es ist schwer vorstellbar, dass er der Kirche den Abbau vorschreibt, und dann wird die Angelegenheit sicher ans Bundesverfassungsgericht gehen, wenn sich die Gemeinde sich nicht in Richtung Unbequemlichkeit bewegt.

Was haben wir nun gelernt in dieser Woche? Historische Anleihen funktionieren selten, wenn sie nicht überdeutlich ausbuchstabiert werden. In einer pluralen Gesellschaft haben wir so unterschiedliche Erfahrungs- und Traditionshorizonte, dass wir nicht einfach unsere Perspektive als Standard annehmen können, sodass alle verstehen, was wir eigentlich meinen. Gleichzeitig müssen wir, wenn wir senden, akzeptieren, dass wir die Kontrolle über das, was andere empfangen, ein großes Stück weit abgeben. Was wir außerdem, weit weniger abstrakt, gelernt haben, ist dass die Beharrungskräfte gegen die legitimen Interessen von Minderheiten, gerade auch Juden, bemerkenswert stark sind. Wenigstens diese Botschaft wird hierzulande immer wieder mit großer Klarheit artikuliert.

Was sonst noch war:

Die Gewinner:innen der Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen von Berlin 1936 bekamen nicht nur ihr Edelmetall, sondern auch eine kleine Eiche in einem Topf überreicht. Eine dieser Eichen steht bis heute in Los Angeles, nun soll sie einem Wohnungsbauprojekt weichen: https://www.nytimes.com/2022/05/28/us/in-los-angeles-a-tree-with-stories-to-tell.html?referringSource=articleShare (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Eine durchaus hohe Zahl von „Olympia-Eichen“ lebt bis heute. Eine Übersicht über jede einzelne bietet einer der überraschendst umfangreichen Wikipedia-Artikel, die ich je lesen durfte: https://de.wikipedia.org/wiki/Olympia-Eiche#Standorte_und_Verbleib_einzelner_Eichen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Das Computerspiel „Through the darkest of times” wurde in den vergangenen Jahren von deutschen Games-Historiker:innen mit großem Wohlwollen begleitet: es umschifft die meisten Problematiken von Spielen mit NS-Geschichtsbezug. Den Juni über ist es über das Google-Gamestreaming-Angebot Stadia Pro gratis zu beziehen; der erste Pro-Monat ist kostenfrei und jederzeit kündbar. Klare Empfehlung meinerseits: https://community.stadia.com/t5/Stadia-Community-Blog/This-Week-on-Stadia-Seven-new-games-coming-tomorrow-to-Stadia/ba-p/79601 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

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