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Egon Erwin Kisch - Tote Matrosen stehen vor Gericht (1924)

Liebe Leserinnen, Liebe Leser, 

Egon Erwin Kisch ist immer besonders gut, wenn er mit scharfem und spöttischem Blick bestehende Machtstrukturen in den Blick nimmt. In unserer heutigen Reportage besucht er das Seeamt in Hamburg, welches Schiffsunglücke untersucht. 

Die öffentlichen Verhandlungen vor dem Seeamt sind gar so öffentlich  nicht. Ein Hamburger Kollege, den ich danach fragte, wo das Seeamt sei,  erklärte mir, er müsse sich in seiner Redaktion erkundigen; dann  telefonierte er mir, es sei in der Seewarte. Das deckte sich mit der  Aussage des inzwischen von mir interpellierten Hotelportiers, der  seinerseits von einem Schutzmann erfahren hatte, es sei irgendwo in St.  Pauli. Aber von der Seewarte wies man mich auf den gegenüberliegenden  Hügel: ins Seemannsheim. Dort sind Matrosen, die sich anheuern lassen,  und einer wußte, daß die Verhandlungen des Seeamts im Seemannsamt sind.  Das ist wieder etwas anderes. Also zurück aus St. Pauli in die  Admiralitätsstraße.

Im Seemannsamt hängen handgeschriebene, hektographierte, lithographierte  und gedruckte Kundmachungen. Sie beziehen sich auf Strandgut, das  geborgen und beim Strandamt abgegeben worden ist, Boote, Säcke, Balken,  Anker, Schutenhaken, Benzinfässer, Pfähle. Auch die Kenntlichmachung  unterschiedlicher Wracks und der angelegten Hebefahrzeuge ist  angeschlagen, damit der Steuermann wisse, wie er bei Tag und bei Nacht  auszuweichen habe. Und Todeserklärungen vermißter Matrosen … Wo die  Verhandlungen des Seeamts sind, erfahre ich auch nicht gleich. Endlich  weist mich ein Wachtmeister in den zweiten Stock. Auf dem Korridor  warten drei oder vier Leute, und an der Tür des Zimmers, vor dem sie  sitzen, ist angeschlagen, welche Verhandlungen heute sind. Ich trete  ein, zum Erstaunen des Gerichtshofes, das sich zu Verdachtsmomenten  erhöht, als ich anfange, mir Notizen zu machen. Aber die Verhandlung ist  öffentlich.

Es handelt sich um den Tod des Matrosen Bendfeld vom Dampfer »Scheer«  der »Hugo Stinnes AG für Seeschiffahrt und Überseehandel«. Dieses Schiff  fuhr am 15. Mai 1924, von Ostasien kommend, im Tau des Schleppers  »Geestemünde« in den Bremer Hafen ein, um den ihm zugewiesenen  Liegeplatz einzunehmen. Hierbei hatte sich die Schlepptrosse an den  Backbordanker festgehakt, und der dreiundzwanzigjährige Matrose Richard  Bendfeld aus Benslow ging außenbords, die Trosse zu klaren. Dadurch, daß  Bewegung in den Patentanker kam, schlugen die Flügel herum, und einer  drückte den Kopf des Matrosen so heftig gegen die Bordwand, daß der Mann  einen Blutsturz erlitt. Wenige Minuten später war er tot.

Zuerst wird der Kapitän vernommen. Er gibt die Personalien ab: Christian  Georg Heinz Klaus Maria Höltring, achtunddreißig Jahre alt und so  weiter. Dann schwört er bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden,  nichts als die Wahrheit, die reine, lautere Wahrheit zu sagen, nichts zu  verschweigen und nichts hinzuzufügen, so wahr ihm Gott helfe.

Der Direktor des Seeamts, der den Verhandlungsvorsitz führt, ein Herr in  Frack und schwarzer Binde, neben dem die vier Beisitzer wie  Schiffskapitäne aussehen und es auch sind, fragt den Zeugen:

»Haben Sie den Vorfall gesehen?«

»Nein, ich war auf der Brücke. Ich kam erst hinunter, als der Mann schon an Bord lag.«

»Wie lag der Anker?«

»Er hing etwas aus der Klüse.«

»Können Sie uns das aufzeichnen?«

Der Kapitän skizziert die Situation. »Bendfeld hatte sich rittlings auf  den Anker gesetzt, und als dieser sich drehte, wurde er an die Bordwand  geschlagen. So blieb er im Reitsitz auf dem Anker, als er schon Blut  spie und vielleicht schon tot war. Man schlang ihm ein Tau um den Leib  und zog ihn aufs Deck.«

»Wen trifft die Schuld Ihrer Ansicht nach?«

»Keinen. Wir waren acht Monate auf See gewesen, und Bendfeld war immer  einer der arbeitswilligsten Matrosen. Niemand hat ihm Befehl gegeben, er  war eben ein eifriger Seemann. Solche Leute findet man heutzutage  selten. Schade um den Mann!«

Die Beisitzer nicken. Schade um den Mann! Acht Monate Fahrt, Gefahren,  Ostasien, endlich im Hafen. Da dreht sich der Anker und schlägt ihn tot.  Solche Leute findet man heutzutage selten.

Der zweite Offizier wird vereidigt. Wilhelm Hannes Matthias Eyben,  achtundzwanzig Jahre alt. Er war zur Unfallszeit am Vordersteven und hat  gesehen, daß das Schlepptau um den Anker verwickelt war. Aber er hat  dem Bendfeld keinen Befehl gegeben, hinunterzuklettern.

Der Reichskommissar, ein alter Vizeadmiral, auch in Frack und schwarzer  Binde, mischt sich in die Verhandlung. »Sie sollten eben sofort mit  einer Stake das Seil lösen lassen. Ich will Ihnen das nur sagen, damit  Sie nächstes Mal wissen, was Sie zu tun haben.«

Der Zimmermann Thias wird vernommen. Er gibt seine Personalien an: Heinrich Thias, zweiundzwanzig Jahre alt.

Vorsitzender (unterbrechend): »Haben Sie denn sonst keinen Taufnamen?«

Zeuge: »Jawohl, Heinrich Eduard Wilhelm Georg Otto Peter Annemarie Thias.«

Vorsitzender: »Sprechen Sie mir die Eidesformel nach: Ich schwöre …«

Zeuge: »Ich schwöre …«

Vorsitzender: »… bei Gott dem Allmächtigen …«

Zeuge: »Ich glaube nicht an Gott.«

Vorsitzender: »Dann lassen Sie ihn weg … daß ich nichts als die Wahrheit …«

Zeuge: »… daß ich nichts als die Wahrheit …«

Aber auch er kann nicht aussagen, ob Bendfeld den Befehl bekommen habe, außenbords zu steigen.

Nachdem der Schiffsarzt angegeben, daß Bruch der Schädelbasis den Tod  herbeigeführt habe, zieht sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. Nach  fünf Minuten verkündet der Vorsitzende: »Der Matrose Richard Bendfeld  ist am 15. Mai 1924 im Hafen von Bremen auf dem Dampfer ›Scheer‹ dadurch  tödlich verunglückt, daß er mit dem Kopf zwischen Ankerflügel und  Bordwand gequetscht wurde. Es trifft niemand ein Verschulden an dem  Vorfall.«

Man geht ohne Pause in die nächste Verhandlung ein. Der am 14. Januar  1906 in Finkenwärder geborene Karl Meier, Matrose auf dem Heringslogger  »Marie« (Eigentum der Kieler Hochseefischerei AG), ist am 9. April 1924  gegen elf Uhr nachts im Altonaer Fischereihafen über Bord gefallen und  ertrunken. Von der Besatzung hat niemand den Unfall gesehen, weil Meier  sich allein an Bord befunden hat. Als Zeuge wird der Oberwachtmeister  der Sipo gerufen, ein sehr junger Mann, der an jenem Abend am Kai Dienst  hatte und auf der »Marie« einen Matrosen bemerkte, der den  Steuerbord-Feuerturm hinaufkletterte und hierbei in die Elbe fiel. »Ich  verständigte sofort die Hafenpolizei, die mit Dienstbarkasse und  Totenangel herbeikam und nach einer Stunde den Leichnam aus dem Wasser  fischte. Der Arzt stellte den Tod fest.«

Vorsitzender: »Wie haben Sie sich das erklärt, daß der Mann auf den Feuerturm des Schiffes kletterte?«

Zeuge: »Dort wird der Kajütenschlüssel versteckt, damit ihn die Leute holen können, wenn sie nachts nach Hause kommen.«

Vorsitzender: »Und woher wußten Sie, daß der Mann betrunken war?«

Zeuge: »Das weiß ich gar nicht.«

Vorsitzender: »Aber es steht hier in dem Protokoll, daß Sie das angegeben haben.«

Zeuge: »Ein Hafenwächter hat mir das erzählt.«

Es wird festgestellt, daß der als Zeuge vorgeladene Wachtmann nicht  erschienen ist. Das Seeamt vertagt die Verhandlung mit dem Beschluß, den  Führer und einen Matrosen der »Marie« als Zeugen vorzuladen.

Der nächste Fall wird vorgenommen: Matrose Peter Paul Hans Beekinger ist  am 20. Mai von einem herabfallenden Kranhaken bei Steinwärder getötet  worden …

Ich packe meine Notizen zusammen und gehe. Ein Mann macht sich an mich heran. »Nichts Besonderes, was?«

»Oh, mich hat es schon interessiert.«

»Das war heute nichts. Tod von Matrosen im Hafen! Das kommt jeden Tag  vor. Dreimal in der Woche wird solches Zeug verhandelt. Sie hätten  vorige Woche dasein sollen! Da war ein Schiffszusammenstoß mit zehn  Millionen Mark Materialschaden – das war interessant! Es wurden achtzig  Zeugen vernommen. Aber wegen eines Matrosen kann man doch nicht soviel  hermachen.«