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Egon Erwin Kisch - Die Schlacht an der Drina (1914)

Liebe Leserinnen, Liebe Leser,

es ist erstaunlich selten, dass man aus dem Ersten Weltkrieg wirklich realistische Schilderungen der Ereignisse zu lesen bekommt. Vielen Tagebüchern merkt man etwa an, dass sie angesichts des Grauens der Schützengräben nicht die passenden Worte finden. Oder man merkt ihnen genau wie den Feldpostbriefen die allgegenwärtige Zensur an - natürlich konnte kaum ein Soldat seine Erlebnisse und Gefühle realistisch schildern, es bestand immer die Gefahr, dass Vorgesetzte das Tagebuch oder die Feldpostbriefe mitlasen. Dann gibt es auch noch diese spezifische Sprache der Soldatenliteratur: Da "branden" dann Angreifer heran oder man "steht im Feuer". Alles Umschreibungen und Wortgebildet, die das Geschehen sehr abstrakt machen.

Egon Erwin Kisch schafft es, das Geschehen der Schlacht an der Drina in seinem Kriegstagebuch so packend zu schildern, dass es fast schon ein Actionfilm ist. Und es zeigt auch, was für ein Monster der Erste Weltkrieg war: All das Geschilderte ist einfach nur ein Nebenkriegsschauplatz. All das Leid, all die Toten finden auch in dickeren Überblicksdarstellungen des Krieges keinen Niederschlag. Verdun, Ypres, Gallipoli, Tannenberg sind bekannte Schlachten. Die an der Drina definitiv nicht. Trotzdem starben dort 36000 Menschen - und auch Egon Erwin Kisch wäre beinahe dort draufgegangen. Man darf gar nicht darüber nachdenken, wie viele begnadete Reporter, Journalisten, Schriftsteller, Musiker, Komponisten, Fotografen, Wissenschaftler oder Künstler im Schlamm der Schlachtfelder ihr vorzeitiges Ende gefunden haben. Kisch zum Glück nicht - und daher kann er uns berichten.

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Dienstag, den 8. September 1914.

Mariä-Verkündigung. Um 2 Uhr morgens wären wir geweckt worden, wenn wir geschlafen hätten. Um Uhr ging es von dannen, ostwärts der Sonn’ entgegen, die noch nicht aufgegangen war. Nach kaum zehn Minuten begegnete uns ein Fuhrwerk. Der Regiments-Pionieroffizier, Oberleutnant Fleischmann, und einige seiner Soldaten saßen darin, er hatte einen Schuß im Arm, die anderen waren schwerer verletzt, ihre Uniformen blutüberströmt. Wenige Minuten später sah man über der auf gehenden Sonne Schrapnellwolken.

In Velino-Selo machten wir halt. Ich nahm den Bret Harte
aus der Tasche, den mir gestern ein Freiwilliger geliehen. Ich wollte die mäßige, keineswegs besonders aufregende Geschichte „Der Mann im Semaphor“ zu Ende lesen. Ich ließ mich durch die wenige Schritte vor uns niederfallenden Schrapnelle und die donnernden Begleitgeräusche nicht stören; in all der rings um mich herrschenden Angst vor der Schlacht, in die wir im nächsten Moment eintreten würden, hatte ich kein anderes Gefühl als das, daß ich erschossen werden könnte oder vorwärts marschieren müsse, bevor ich die Novelle zu Ende gelesen habe. Es war nur der Wunsch, etwas Begonnenes zu vollenden. Ich las rasch und atmete auf, als ich zu Ende war.

Der Infanterist Sperl, der am 18. August von einem Schrapnellschuß im Gesicht verletzt und in der Front geblieben war, um dann am 26. bei seiner Drinaüberschiffung vom Feinde beschossen und besser getroffen zu werden, ist heute aus dem Spital zurückgekehrt. Sein rechter Arm, der durchschossen war, ist nicht einmal mehr verbunden, und er handhabt wieder sein Gewehr. Die Sehnsucht aller, einen leichten Schuß zu erhalten, ist dadurch wesentlich herabgemindert. Was hilft es, wenn man doch so bald wieder aus dem Spital in die Plänklerreihe gesendet wird?

Verletzte, sterbende 102er und 28er werden auf Tragbahren vorbeigetragen, gestützt oder den Arm in der Binde kommen andere vorüber. Die vierspännigen Blessiertenwagen der Infanteriesanitätsanstalt 9 fahren leer nach vorn, um gefüllt zurück zukehren. Die Kolonne der Verwundeten, die zu Fuß kommen, wird dadurch nicht geringer. Von Schüssen zersprengte Knochen ragen aus dem Fleisch, Hautfetzen hängen von den Gesichtem, Bluse, Mantel, Verband imprägniert mit einem einzigen Farbstoff: mit Blut. Immer dichter, immer ergreifender wird der Totentanz. Einer hat die Stirn verbunden, zwei tragen ihn mehr als er geht, er hält den Kopf weit zurück in den Nacken gedrückt, damit er trotz der Bandage nicht verblute. Aber das Blut fließt nach hinten.

Barfüßig schleppen sich andere vorwärts, beide Füße verbunden, der Stock ist ihr einziges Bein, weinende Burschen, deren gerötete Hosen Schenkelwunden verraten, hunderte an derer Jammerbilder. Dann ein Gruppenbild: ein Hilfsplatz des Inf.-Regt. 102. Tote liegen da, die Füße hochgezogen vor Schmerz, bevor sie Erlösung fanden. Einer liegt, den Kopf nach links geneigt, auf der Bahre, seine starren Hände halten die Photographie einer jungen Frau und zweier Kinder. Einer brüllt, einer wimmert, die meisten haben die Hände gefaltet und murmeln Unverständliches, wahrscheinlich Bitten und Gebete.

Bis hierher hatte ich um 10 Uhr vormittags geschrieben, aber jetzt (5 Uhr abends) weiß ich nicht, was ich schreiben soll. Wo soll ich anfangen, wenn ich von dem beispiellosen Grauen sprechen will? In mir klingt all das Entsetzliche nach, während ich bebend zwischen Toten und unter Schrapnellschüssen dieses schreibe. Das Gegenwärtige läßt mich gleichgültig, wenn ich an die vergangenen Stunden denke.

Vom Hilfsplatz ging es weiter zur Drina. Wir sahen jetzt den Fluß wieder, den wir unter Kämpfen vor beinahe Monatsfrist über schritten, dessen Inseln wir unter Verlusten besetzt und dessen Arme uns feucht und gefahrdrohend umfangen hatten, bis wir verzweifelt und arm heimgeflüchtet waren, und den wir nun mit schweren Opfern von neuem überschreiten müssen. Daß wir ihn wieder überschreiten müssen, das wußten wir, und daß es schwere Opfer kosten würde, das sagten uns (wenn es uns nicht schon die Legion der vorbeikommenden Verwundeten gesagt hätte) die feindseligen Pfiffe der Projektile, um derentwillen wir gebückt wie Diebe an den Dämmen entlang des Ufers huschten.

Das Regiment lag gegen 11 Uhr am Ufer versammelt und gedeckt. Oberst Wokoun rief um V*tl Uhr unseren Kompagniekommandanten heran. „Sie setzen als erste Kompagnie des Regiments über die Drina und verlängern die bedrohte Brigade Daniel am linken Flügel...“

Dolni Brodac, 10. September 1914.


Bis zu dem Worte „Flügel“ hatte ich vorgestern geschrieben. Den größten Teil auf Rasten des Marsches, die letzten Sätze habe ich in der Feuerlinie zu stenographieren versucht. Meine Nach barn schraubten ihre Blicke in das Vorterrain, auch ich schaute, nach jedem notierten Wort nervös zusammenzuckend, ängstlich lauernd in die feindliche Richtung.

Um uns pfiffen silberne Linien, jeden Augenblick schlug eines der einander jagenden Geschosse in den kleinen Erdhügel, den sich jedermann mit der Hand als Brustwehr aufgeschichtet hatte, fast jedem hat sein Brotsack, den er vor den Kopf geschoben hatte, das Leben gerettet. Die Brotbeutel tragen Löcher in ihrem Leib, Projektile stecken in der Winterwäsche, die man darin auf bewahrte, andere prallten von der vollen Konservenbüchse ab.

Wie langsam, wie mühselig, in welch gefährlicher Situation ich vorgestern die drei letzten Sätze geschrieben habe! Es war mir und es ist mir, als ob ich den Höhepunkt grausamen, menschlichen Erlebens verzeichnen müßte. Seit ich vorgestern nach mittags mein Geschreibe unterbrechen mußte, als ein Artillerie geschoß hart über meinen Kopf sauste und den Stamm eines Baumes hinter mir fällte, sind zwei Tage vergangen. Zwei Tage, deren Folter uns noch in Gliedern und Nerven steckt. Also: um 11 Uhr vormittags lag unser Regiment in der Deckung am österreichischen Ufer der Drina. Nun kam unsere Kompagnie an die Reihe, in den Pontons überschifft zu werden.

Nachdem Partien zu zwanzig Mann abgezählt worden waren, kommandierte der Oberleutnant "auf!“ und rannte über die Böschung zum Fluß. Die Kompagnie zögernd hinter ihm drein, denn als unsere Figuren auftauchten, verstärkte sich der Schwarm feindlicher Geschosse, die bisher über die Böschung gezischt hatten, ins Ungemessene. Einige unserer Leute zogen sich hinter die Deckung zurück, als sie die langen Spießruten prasseln fühlten, aber ein drohendes Kommando jagte sie wieder vorwärts. Der Oberleutnant sprang in das Boot, das Pioniere lenkten. Nur etwa zehn Leute von den zwanzig, die abgezählt worden waren, nahmen darin Platz. Wir legten uns platt auf den Boden, damit uns die metallene Pontonwand Deckung sei. Ungeheures zerfetzendes Wimmern, Brüllen war hörbar. Ich lugte über den Bootsrand und sah am serbischen Ufer hunderte unserer Soldaten. Bis an die Knie, bis an die Schenkel, bis an den Bauch standen sie im Wasser, stießen die Hände in die Höhe und kreischten einen einzigen endlosen Schrei, Tobsüchtigen gleich. Nichts fühlte ich als ein würgendes Nichtverstehen dieses Hexensabbats. Nur ein Gedanke: jetzt gondelst du selbst hinüber, um in wenigen Minuten — diesen dort gleich — als Vertierter, Verkrüppelter und Flehender an der gleichen Stelle zu stehen.

Es waren die Verwundeten. Sie schrien nach ärztlicher Hilfe und nach ihrem Abtransport. Hügel und Wälder, die die Ufersandbahn einsäumten, erbrachen immerfort Blessierte und Leute, die sie stützten — jene im Kriege auftauchende Art von barmherzigen Samaritern, die den Verwundeten zum Verbandplatz helfen, um nicht mit der Schwarmlinie vorrücken zu müssen.

Obwohl wir schon vor mindestens zehn Minuten abgestoßen waren, hatten wir kaum zwanzig Meter zurückgelegt. Die Pioniere hatten fast gar nicht gerudert. „Sollen wir weiter vorwärts rudern?“ fragte der Zugsführer der Pioniere.

— „Selbstverständlich!“ rief der Oberleutnant, „Sie haben doch den Befehl.“ -

—„Nun ja, aber . ..“

— „Das sind ja nur Verwundete,“ beruhigte einer von uns den Gondoliere, der jedenfalls in seiner Angst die Szene drüben als einen Rückzug ansah und das sofortige Auftauchen verfolgender Serben befürchtete. Resigniert stieß der Pionier das Ruder nach vorn, aber seine beiden Gehilfen machten an den hinteren Riemen passive Resistenz, und auch jetzt kam die Zille nicht vorwärts. Erst als der Oberleutnant den Revolver zog und ein „wird’s bald!“ schrie, ging es näher zum Ufer.

Wir kamen nur auf etwa 25 Schritte heran, denn bis dorthin hatten sich die verwundeten Flüchtlinge in das Wasser gewagt und wollten sich brüllend in den Ponton schwingen, um einen Platz für dessen Rückfahrt zu belegen. Wir konnten gar nicht aussteigen, so war das Boot umlagert. Ein Mann ohne Bluse, der nur an den Breeches und Ledergamaschen als Offizier kenntlich war, rief immerfort: „Ich muß hinüber, ich habe eine wichtige Meldung.“ — „Sie lügen,“ schrie ihn jemand an. Da verschwand er in der Richtung eines anderen Pontons.

Der anderen, die sich unseres Bootes bemächtigen wollten, konnte man nicht Herr werden, und wir stiegen aus, nun selbst bis über die Hüften im Wasser watend. Die Strömung war stark, unsere Rüstung schwer, zehnmal drohte jeder von uns umzusinken, bevor wir serbisches Festland betraten. Dem Befehl des Obersten gemäß wollten wir nach rechts abschwenken, aber Generalmajor Daniel, der mit seinem Generalstabschef Baron Pitreich hier umherlief, beorderte uns zur schleunigen Verstärkung des linken Flügels. Durch einen Verhau gingen wir vorwärts. „Kisch, gehen Sie zurück und führen Sie den übrigen Teil der Kompagnie im Laufschritt nach.“ So eilte ich wieder an das Ufer.

Aus allen Pontons stiegen eben Elfer aus. Die von der 15. Kompagnie nahmen am Ufer Liegestellung an. „Das warbös, das mit dem Oberst,“ sagte mir ein Infanterist, „nicht?“ —„Was denn?“ — „Ja, er ist doch in deiner Gegenwart in die Brust geschossen worden.“ — „In meiner Gegenwart?“ — „Ja, gerade wie du mit ihm gesprochen hast und dich von ihm abwandtest, um zur Böschung zu laufen, hat es ihn erwischt.“ —„Ist er tot?“ -— „Weiß nicht.“

Inzwischen war alles da. Im Laufschritt gingen wir durch den Wald vor, senkrecht auf den Lauf der Drina, in Schwarmlinie. Durch das Geäst und an den Stämmen vorbei strichen Kugeln zu Tausenden. Überall lagen Stücke von Blut, rotbefleckte Hemden, Tücher, Bandagen, weggeworfene Brotsäcke, Gewehre, Stiefel, Tornister. Verwundete schleppten sich vorbei, und so war ich nicht eine Sekunde im Zweifel, daß ich den richtigen Weg führe. Um so überraschter war ich, als wir, die wir uns doch immerfort vom Fluß entfernt hatten, plötzlich wieder am Ufer des Flusses standen. Dann fiel mir aber ein, daß der Strom vor mir nicht mehr die unglückselige Drina, sondern die Save sei. Nun verschoben wir uns nach rechts und waren schnell bei der Plänklerlinie. Dem Gruppenkommandanten, einem Major von 91, meldete gerade ein Infanterist, daß Hauptmann Sy-chrava von 91 in seiner Stellung durch ununterbrochene Verluste vollständig geschwächt und so gefährdet sei, daß er unbedingt Verstärkung haben müsse, wenn er seine vorgeschobene Position halten solle. Bevor der Major antworten konnte, meldete unser Kompagniechef, daß er zur Verstärkung bereitstehe. Es schien selbstverständlich, daß der Major uns zur Rettung der bedrohten Abteilungen vorschicken werde.

Endlich: „Herr Oberleutnant, verdichten Sie einstweilen den linken Flügel am Wall und warten Sie ab, ob wir vorwärts gehen.“ Der Infanterist wartete noch immer auf Bescheid. „Sagen Sie Herrn Hauptmann Sychrava: wenn er sich nicht halten kann, soll er bis zu diesem Wall zurückgehen, den ich mit aller Energie... Wir schauten einander verdutzt an. Blick über die Erdwelle, „diesen Wall“: Kukuruzstaude an Kukuruzstaude. Nicht ein Quadratmeter niedergebrochen, geradezu als ob man gefürchtet hätte, Feldschaden zu machen. Der Ausschuß betrug buchstäblich einen halben Meter.

Der Infanterist wollte mit dem Bescheid zu seinen bedrohten Kameraden zurückkehren, als ihn der Major zurückrief und einen blutjungen Kadettaspiranten damit betraute, die negative Botschaft zu überbringen. Der Kadett schwang sich in den Kukuruz, aber in demselben Augenblick kollerte er mit einem Aufschrei zu Boden. Er hatte oberhalb des Ohres einen Schuß in den Kopf bekommen. Man verband ihn rasch. Inzwischen erhielt doch der Infanterist den Auftrag zur Befehlsüberbringung; ihm fiel es gar nicht ein, im ungedeckten Terrain vorwärts zu laufen, sondern er nützte den Schutz der Welle aus.

Während dieser Szenen hatte ein Leutnant, der jedenfalls zum Stab des Majors gehörte, mit unserem Fähnrich ein Gespräch angeknüpft. „Das ist eine Mausefalle, was?“ Jetzt erst fügte ich mir im Geiste die Grenzlinien unserer Stellung zusammen und erkannte, wie recht er hatte: eine Mausefalle. Links die Save, hinter uns die Save, rechts die Drina und vor uns der dichte, unübersichtliche Mais mit dem Feind darin, der ununterbrochen Projektile in das Wäldchen zwischen Save und Feldrand sandte. Kaum 25 Meter war der Busch breit, wir mußten uns darin gegen zwei Fronten sichern, und seine Bäume markierten deutlich das Ziel, während wir aufs Geratewohl in das Maismeer schossen. Vor uns knatterten die Schüsse eigener Leute. Wir hätten sie zusammenschießen müssen, wenn wir von hier aus zu feuern begonnen hätten.

„Vorwärts!“ befahl der Oberleutnant spontan, aber wir waren kaum dreißig Schritte im Kukuruz vorwärtsgekommen, als uns, wie erinnyengepeitscht, Soldaten entgegen kamen, Hundertzweier. Sie jagten dem Ufer zu. Wir stockten im Vorgehen, und es bedurfte drohender Schreie der Vorgesetzten, um uns noch einige Schritte vorwärts zu reißen. Aber dann begegneten wir einer ganzen Schwarmlinie, die rückwärts stürmte, ihr voran ein Kadett. „Halt!“ schrie ihn unser Oberleutnant an, aber jener rannte weiter. „Halt, Herr Kadett, oder ich schieße!“ Jetzt blieb er stehen. Bebte wie ein Kranker. „Ich befehle Ihnen, vorwärts zu gehen!“ — „Es ist nicht möglich, Herr Oberleutnant, wir werden so beschossen und haben keine Munition.“

Stotterte vor Angst, schlotterte mit den Knien. „Kehrt euch und nochmals vorwärts!“ — „Ich gehe ja, ich gehe.“ Aber das half nichts mehr. Seine Leute hatten das Ende der Kontroverse gar nicht abgewartet und waren, in den hohen Stauden unbemerkt, bis an die Deckung gelangt, unsere Leute mit sich schwemmend.

Es war also nichts zu machen. In dem undurchsichtigen Maisgebiet und in der allgemeinen Depression konnte die Kompagnie nicht auf einmal vorgehen. Der Oberleutnant befahl die Züge des Leutnants Valek und des Kadetten Weiser zur Vorrückung, die anderen als Reserve. Wir waren kaum 60 Schritte weit gekommen, als Hauptmann Sychrava mit einem Teil seiner Kompagnie zurückkam. Er hatte sich solange gehalten als es möglich war. Er war in vollkommen aufgelöstem Zustand. Er nannte immerfort die Namen seiner Chargen, der Leute, die er neben sich hatte fallen sehen, er fluchte und weinte.

Es war der Kamm eines niedrigen, mit Mais bewachsenen Hügels, auf dem wir Position bezogen. Da die Serben auf der anderen Seite des Abhanges lagen, gingen ihre Schüsse zu hoch, und das war der Grund dafür, daß wir bisher verhältnismäßig wenig getroffen wurden. Wir waren schon beim Vorrücken immerfort auf Leichen serbischer Soldaten gestoßen, die noch von Blut trieften, ein Beweis, daß sie erst vor kurzer Zeit hier getötet worden waren, und ihre Kameraden nicht weit zurück sein konnten. Das Frontalfeuer war von äußerster Intensität, und vom Finanzwachhaus nächst Serbisch-Raca bekamen wir (schwächeres) linkes Flankenfeuer. Überdies sausten die Kugeln der rechts etwas hinter uns liegenden Abteilungen unserer eigenen Divisionsregimenter allzunah an uns vorbei, weil sie im Kukuruz nicht zielen konnten.

Der Feind durfte auf keinen Fall von der Welle Besitz ergreifen, sonst würde die ganze Division im Wäldchen vernichtet oder ins Wasser geworfen. Deshalb mähten wir den Kukuruz bis zum Wall nieder und hatten im Vorterrain unserer Kompagnie nun wenigstens soweit Ausschuß, daß man uns nicht unvermutet mit dem Kolben erschlagen oder ungesehen mit Handbomben bewerfen konnte. Dann legten wir uns wieder in unserer Deckung zurecht und gruben uns ein.

Da ich keinen Feldspaten hatte, scharrte ich mir mit dem Bajonett mühselig und ungeschickt ein kleines Loch. Eine Ordonnanz vom Brigadekommando lief vorbei, ein Bekannter: „Streng dich nicht an, wir bleiben nicht hier.“ 'So ließ ich denn die Kugeln mich umpfeifen, und mir taten die dummen anderen leid, die sich im Schweiße ihres Angesichts eingruben, um dann, bis die Deckung fertig sein wird, aus ihr fort zu müssen.

Aber es wurde spät und später als spät, zu den Geschoßbahnen der Gewehrkugeln liefen nun auch Schrapnelle und Granaten parallel, und wir waren noch immer nicht fort. (Die Ordonnanz hatte mich nicht belogen. Wir hatten vorgehen sollen bis unsere Verbindung mit der Landwehr-Infanterie division hergestellt sei, die uns links verlängern sollte; aber sie war zurückgeschlagen worden, gar nicht über das Ufer gekommen.) So lag ich, während die dummen anderen längst eine Burg um sich errichtet hatten, in meinem Erdlach und schaufelte mir mit den Händen einen kleinen Erdhügel. Als aber von links immer mehr und mehr Schüsse kamen, legte ich mir dort den Brotsack auf, und wenige Minuten später klirrte das erste Projektil gegen die darin enthaltenen Konservenbüchsen. Nun drehte ich die Mütze um, weil mich das Schild hinderte, den Kopf bis an die Stirne ins Erdreich zu pressen, wenn ich mich nach abgegebenen Schüssen wieder decken wollte. Immerfort schrillten die Kugeln vorüber und schlugen in die Deckungsflügel ein, uns die Erde so heftig ins Gesicht spritzend, daß wir uns schon getroffen wähnten.

Links von meiner Miniaturdeckung sind die verlassenen Schützengräben der Serben, schon im Frieden gebaut. Gegen Schrapnelle, ja gegen Granaten geschützt, betoniert, mit Schießscharten versehen, schier uneinnehmbar. Es waren keine „Hammeldiebe“ oder „Ziegenschänder“, die hier gegen uns auf der Wacht an der Save lagen: eine serbisch-französische Grammatik liegt im Graben, daneben ein serbisch-französisches Diktionär.

Anderswo das Notizbuch eines Schülers der 6. Realschulklasse mit dem Stundenplan. Im Augenblick, als die Serben aus dem Schutzdach traten, traf sie der Hagel unserer Schrapnelle. Ein Serbe sitzt auf eine Trommel gestützt, und aus dem Auge des längst Toten sickert das Blut langsam, wie aus einem Tropfen zähler. Ein anderer liegt mit ausgestrecktem Arm auf dem Rücken und neben ihm — aus seinem Brotbeutel ausgeschüttet — frisches Obst. Wir alle haben Durst und Appetit darauf, aber keiner wagt, das Eigentum des Kalten zu berühren. Ein serbischer Oberleutnant, die Hand am Säbel, liegt auch auf dem Rücken; er ist von unten in das Kinn getroffen worden.

Wir haben uns an die kalte Gesellschaft gewöhnt. Ein junger Zugsführer von 91 macht immer Witze. Er steht aufrecht, als ob er am Rosenberger Teich spazieren ginge und nicht im Streukegel der Patronen. „Mit den Serben wären wir bald fertig, aber der Kukur ...“ Ein Wimmern vollendet den Satz. Wie einen Nervenriß empfinden wir dieses Wimmern, so schnell es auch verzittert ist. Ich wende mich ab, man ist gerade nervös genug von dem Lärm und der Gefahr. Und jetzt noch das Gekreisch eines Verletzten hören müssen! Aber Gott sei Dank, er schweigt. Schweigt sogar auffallend. Ich schaue über die Brüstung, eine kleine, natürliche Traverse. Da liegt er und röchelt nicht mehr...

Eine Minute später hinkt ein 91er vorüber, den Fuß ganz blutig. „Na also, da geht er,“ meint der Hauptmann, „und gewimmert hat er, als ob er zu Tode getroffen wäre.“ — „Das ist nicht der Zugsführer, Herr Hauptmann.“ Der Hauptmann schaut hinüber, und es fröstelt ihn.

Leutnant Valek kommt mit den Leuten unseres vierten Zuges von vorn zurück. Er ist in das Schulterblatt getroffen, Oberleutnant Manlik in den Arm geschossen.

Drei Regimenter liegen wir jetzt am Wall, hart aneinander gepreßt. (73 ist drüben Reserve.) Wir sind über 10 000 Leute hier, und von nachmittags bis abends schießt alles Salven. Jeder hat mindestens 140 Patronen. Sagen wir, jeder habe nur hundertmal geschossen, so wären es eine Million Schüsse; und über uns sausen die Geschosse unserer Artillerie. Serbien muß übersät sein von unseren bleiernen Fabrikaten. Vielleicht trifft eines bei Ub eine arme Greisin, die gerade Äpfel pflückt. Und zu den Millionen eigener Geschosse gesellen sich Millionen serbischer Patronen, serbischer Schrapnelle, serbischer Granaten, denn angeblich stehen sechs serbische Divisionen der unseren gegenüber. Es ist unmöglich, durch diese Ziffern irgendwie einen Begriff des Krawalls zu geben, für den das Wort „Höllenlärm“ ein Euphemismus wäre. Wir sind schon ganz apathisch.

Ich hatte Durst und nichts zu trinken. Im Brotsack hatte ich Schokolade. Ich stand auf und packte den Brotsack aus. Sie war in Wäsche eingewickelt und nicht leicht zu finden. Zwei prächtige Tafeln Cailler in Originalverpackung. Ich nahm sie heraus und steckte sie in die Bluse. Hinter mir stand ein Oberleutnant, neben mir zwei Infanteristen, denn das Feuer war schwächer geworden. Im selben Augenblick schwirrte eine Granate haarscharf über unsere Köpfe. Das Geäst des Baumes fiel krachend auf uns nieder, und diewiel wir uns zu Boden warfen, spürte ich, wie die Schokolade links neben mir zu Boden fiel.

Hauptmann Mimra schrie mir zu: „An Artillerieaufklärer weitergeben: Finanzhaus Raca zusammenschießen!“ Ich wiederholte den Befehl und gab ihn weiter. Das dauerte eine halbe Sekunde.Als ich die Schokolade aufheben wollte, war sie weg. Ich brüllte meine Nachbarn an, ich weinte vor Wut, ich dachte nach, wie ich den Dieb ohrfeigen wollte, wenn ich ihn erwischen würde; anstatt dem Schicksal für jede Sekunde zu danken, in der mich kein Geschoß traf, waren meine ganzen Gedanken bei nichts anderem, als bei der Schokolade, die meine Mutter zu Hause verpackt hatte, und die nun ein anderer verzehren würde. Ja, ich weinte vor Wut und wünschte nichts, als den Räuber zu erwischen.

Immerfort wankten Legionen Verwundeter vorbei. Wie wird das erst werden, wenn wir vorgehen? Was wird uns der Morgen auf jenen Höhen bescheren? Diese Befürchtungen wurden durch eine Botschaft zerstört, deren Schrecklichkeit noch tausendmal ärger wirkte.

Es war 2 Uhr nachts. Der Kompagniechef rief mich zu sich. „Ich hab’ das Gefühl, es wird Rückzug sein.“ — „Unmöglich, Herr Oberleutnant, es ist ja keine Brücke geschlagen.“ Er winkte mit der Hand ab, und ich erkannte, daß es nicht Gefühl, sondern Kenntnis einer Tatsache war, was ihn zur Mitteilung veranlaßt hatte. „Also passen Sie auf: wenn sich der Rückzug vom linken Flügel aus vollzieht, bleiben Sie bei Herrn Hauptmann Mimra als Verbindung zwischen ihm und meiner Kompagnie.“

Ich lief zum Hauptmann, vorbei an Leuten, die der Drina zuströmten. Es waren schon von anderen Kompagnien Ordonnanzen da. Ich hörte, wie er sie abfertigte. „Oberleutnant Schier beginnt.“ Es ging vom linken Flügel an. Dreiviertel Stundenlag ich aufgeregt da. Tausende von Menschen waren hier, und zur Überschiffung höchstens zwölf kleine Pontons, die gewiß nicht mehr als je 40 Personen faßten, gelenkt von nur wenigen Truppenpionieren, von denen manche feig, manche verletzt waren. So sollten wir aus der Mausefalle entkommen? Die Szenen von der Herüberfahrt würden sich gewiß wiederholen, wenn nicht übertroffen werden

So oft sich eine neue Abteilung vom linken Flügel aus vorschob, ohne daß die schießend und gedeckt in der Schwarmlinie liegenden Leute eine Ahnung davon hatten, erhielten die Kompagnieführer ein Aviso, auf das sie mit dem Kommando zu lebhafterem Schießen reagierten. Unsere Leute, die diesen Befehl als Ausdruck besonderer Gefahr auffaßten, klapperten vor Angst, schossen wie rasend und bohrten die Köpfe in die Deckung.

Um 3 Uhr nachts waren w i r der linke Flügel. Hauptmann
Mimra rief mir zu: „Fünfzehnte los!“ Nun war zu allen unseren Zugskommandanten zu laufen, um ihnen den Befehl zuzurufen: „Fünfzehnte Kompagnie von Elf Rückzug.“ Leicht gesagt, aber in der beinahe lückenlosen Schwärze dieser Nacht, im übersteigerten Lärm, während in unsere Schwarmlinie andere Regimenter und andere Kompagnien eingekeilt waren, sehr schwer getan. Es durfte niemand von den Kameraden zurückgelassen werden, und so rannte ich von einem Plänkler zum anderen, um den Befehl zu überbringen und nach dem Zugskommandanten zu fragen. Zwei hatte ich verständigt, als sich schon alles zum Rückzug bewegte.

Der Kompagniechef wartete auf der alten Stelle: „Fünfzehnte Kompagnie nach rechts verschieben.“ Zum Wald. Gegen die Drina zu. Immerfort durch Gebüsch, immerfort durch Gestrüpp. Immerfort mußte man sich zu Boden werfen, weil ein Artillerie komet unsere Kokarden streifte, und bald hatten wir den Weg verfehlt oder glaubten es wenigstens. „Hierher, Herr Oberleutnant,“ rief einer, „hierher, Herr Oberleutnant,“ schrien die anderen.

Wir waren bald nur fünf Leute beisammen, entschlossen uns, zur Save zu gehen und längs ihres Ufers zur Drina; aber als wir an den Fluß kamen, der durch Spiegelung des kläglichen Mondlichtes wenigstens etwas Helle gab, wußten wir nicht, in welcher Richtung die Drina liege. Einer wollte eine Streichholzschachtel ins Wasser werfen, um die Stromrichtung festzustellen. „Nicht die Zündhölzchen, das wäre schade,“ wehrten alle. So warfen wir eine Feldpostkarte in den Fluß und sahen, daß wir nach links zu gehen hatten. Trupps von Soldaten brachen aus den Büschen am Ufer und schlossen sich uns an, andere überholten uns, andere kamen uns entgegen und wollten uns einreden, daß unser Weg der falsche, der entgegengesetzte der richtige sei. Wir aber wußten, in welcher Richtung die Feldpostkarte geschwommen war, und der einzige Zweifel war nur, ob wir wirklich an der Save seien und nicht vielleicht an der Drina oberhalb der Überschiffungsstelle. Aber bald sahen wir
die Drinamündung.

Ein Schrei aus tausend Komponenten, ein einziger Schrei aus tausend Stimmen und ohne Ende, riß an unserem Trommelfell. Wie wir herzklopfend vorausgesehen hatten, als wir den Rückzugsbefehl erhielten: beim Überschiffungsrelais herrschte Chaos. Näher an das Gellen heran, immer lauter wurde es. An Menschenmassen war die Überschiffungsstelle kenntlich. Das Geheul und unsere eigene Angst lähmten uns. Langsam, während das Gedränge uns aufsaugte, begannen wir im matten Licht des Mondes zu unterscheiden.

Leute warfen Tornister und Gewehre auf den Sand, saßen auf der Erde und nestelten hastig an ihren Schuhriemen. Die meisten standen in voller Ausrüstung bis an die Hüften im Wasser, um den Ponton zu erreichen, noch bevor er ans Ufer komme. Sie waren es, die durch schakalisches Gebrüll und durch tobsüchtiges Vonsichschleudern der Arme die Aufmerksamkeit der Pioniere auf sich lenken wollten und mit ihren Nachbarn rauften, weil diese durch noch exorbitanteres Gebaren Berücksichtigung zu finden hofften.

Andere hatten die Absicht, den Strom ganz zu durchwaten, so daß Truppen in geschlossener Masse, bis an den Hals im Wasser, vorwärts gingen. Ihnen schloß ich mich an und drängte, halb gestoßen, vor. Da mein Gewehr mich hinderte, mit den Händen zu balancieren, steckte ich den Kopf in den Gewehrriemen. Immerfort traten wir auf Tornister und Gewehre. In der Mitte des Stromes mußten wir halten, Kameraden kamen zurück: es geht nicht weiter, es ist zu tief, die Strömung zu stark.

Mit einemmal erhielt das Schreien der Massen einen gemeinsamen Text: „Die Serben sind schon am Ufer!“ Tatsächlich verdichtete sich der Horizontalregen der Kugeln. Nicht mehr über unseren Köpfen flogen die Geschosse, sondern sie durchlöcherten das Wasser. Manche von uns rannten nach rechts zurück, denn nur von links, schien es, kämen die Serben; manche von uns wollten schwimmend das österreichische Ufer erreichen. Fünf Schritte schräg vor mir sah ich einen Offizier energisch schwimmen. Wie mir schien, war es Oberleutnant Batek. Ich rief seinen Namen, aber er hörte mich nicht. Ich wollte ihm nachschwimmen, da tauchte sein Kopf unter und kam nicht mehr zum Vorschein. Entweder hatte ihn eine Kugel getroffen, oder ein Herzschlag hatte ihm den Drinatod gebracht.

Überall das gleiche Bild: an dreißig Ertrinkende, schreiend, röchelnd, schnappend, aus dem Wasser tauchend, versuchten, sich in der Luft festzukrallen und an dem Nichts emporzuziehen; Füße streckten sich aus dem Wasser-während ich dieses schreibe, zittert meine Hand, ich muß innehalten. Einige Nichtschwimmer klammerten sich an Schwimmer, die wollten die Last abschütteln, schlugen um sich, bald sanken sie gemeinsam in die Tiefe. Wer in der Nähe den Boden verloren hatte, dem streckten wir, die wir noch in einer Reihe zu stehen vermochten, die Hände entgegen und zogen ihn an uns. Zweien ich. Der erste rannte gleich wieder ans Ufer zurück. Der zweite pustete eine Weile, dann sank er um und verschwand auf dem Grund.

Eine Bewegung nach rechts ging durch die Reihen. Dort fuhren drei Pontons herüber. Mitgerissen eilte auch ich hin, soweit man eilen konnte, wenn das Wasser bestenfalls bis zum Hals, an manchen Stellen bis zum Mund reichte. Der Ponton, zu dem ich kam, war aufgehalten worden und stand nun parallel zu den Ufern. Während alle in neuerlichem Verzweiflungskampf auf der ihnen zugekehrten Seite sich in den Kahn zu schwingen versuchten, stapfte ich zu der entfernteren, dem österreichischen Ufer näher gelegenen Breitwand und hielt mich am Bordrand fest.

Noch ein zweiter ist so schlau gewesen und hängt dort. Einen der in den Kahn Gelangten flehe ich an: „Kamerad, zieh mich in das Boot.“ Er packt mich, vermag aber nicht, mich über den hohen Rand zu zerren, da ich keineswegs imstande bin, ihm irgendwie zu helfen. Mit einem Blick auf meinen Nachbar, den gleichfalls jemand trotz aller Anstrengung nicht in den Ponton ziehen kann, rate ich meinen Retter: „Hilf zuerst dem da und dann mir.“ Er tut es, und mein Nachbar ist drinnen.

Der Ponton hat sich bereits gefüllt, Stimmen werden laut: „Abstoßen! Niemand hereinlassen!“ Ich bitte meinen Retter: „Also, jetzt komm’ ich dran,“ aber er hilft mir nicht, der Insasse, den er unterstützt hat, ebensowenig, und mein früherer Nachbar von der Außenwand, der mir doch sein Leben verdankt, am allerwenigsten. Inzwischen ist das ganze Fahrzeug, auch meine schon patentiert geglaubte Pontonseite, von mehr als sechzig verzweifelten Händen umklammert. „So können wir nicht rudern,“ schreien die Pioniere, und das ist das Signal zu einem Angriff gegen uns „Außenseiter“. Mit Gewehrkolben schlägt man den draußen Hängenden auf die Finger oder trommelt mit den Fäusten auf ihre Hände, bis diese loslassen. Dann fallen die Armen ins Wasser, gurgeln, tauchen auf, manche zwei- oder dreimal, und sinken unter ...

Die Aufgabe, mich vom Bordrand abzuschütteln, hat ein junger Bursch übernommen, dessen Gesicht ich niemals vergessen werde. Ein getreideblondes Haarbüschel schiebt sich aus seiner Mütze weit über die Schläfe, er trägt die papageigrünen Aufschläge der Einundneunziger und hat große, hellblaue, unendlich gütige Augen; mit diesen würdigt er mich keines Blickes, sondern schaut nur ganz sachlich auf meine Finger, die sich verzweifelt an der Brüstung halten.

Seelenruhig kniet er nieder und beginnt, meine Hände abzureißen, gleichgültig, als schälte er Nüsse. Endlich gelingt es ihm, meine rechte Hand zu öffnen; aber kaum macht er sich an die linke, habe ich mich von neuem mit der rechten Hand festgekrallt. So geht es demnach nicht. Einen Augenblick lang sinnt er nach, faßt dann den kleinen Finger meiner linken Hand, den Goldfinger, den Mittelfinger, Zeigefinger, Daumen. Innerhalb dieser Zeit bin ich keineswegs stumm. Zuerst bitte ich, verspreche, ihm ewig dankbar zu sein, appelliere an seine Kameradschaft, beschwöre ihn beim Leben seiner Mutter und weise darauf hin, daß durch mich das Boot ja nicht umkippen werde. Er läßt sich dadurch in der ruhigen Ausführung seiner Absicht, mich zu ersäufen, nicht stören und hebt weiter meine Finger. Durch Flehen ist nichts zu erreichen. „Schuft,“ brülle ich, „ich kenne dich ganz genau, wenn ich hinüberkomme, wirst du als Mörder aufgehängt — es nützt dir auch nichts, mich hinunterzuwerfen, die anderen werden dich schon als Mörder anzeigen!“ Verfehlt den Eindruck. Er hat meine linke Hand bereits gelöst und hält sie mit seiner linken fest, damit sie nicht von neuem die Pontonwand umarme; nun schickt er sich an, mit seiner frei gebliebenen rechten an meinen rechten Fingern die Prozedur fortzusetzen.

Die anderen Insassen sind längst wütend, daß ich mich dagegen auflehne, ertränkt zu werden. „Schmeißt den Kerl ins Wasser!“ Ich will nun nicht weiter lästig fallen und lasse mich ins Wasser plumpsen. Versuche zu schwimmen. Aber ich kann kein Tempo machen, denn mein Gewehr, an das ich vergessen hatte, verschiebt sich zum Hals, und der Gewehrriemen würgt. Außerdem ziehen mich die schweren Kommißstiefel und die Rüstung grundwärts. Den Gewehrriemen über den Kopf zu zerren, gelingt mir nicht. Der Ponton hat sich inzwischen gedreht und befindet sich bereits an einer tiefen Stelle. Meine Verzweiflung läßt mich empor schnellen; ich packe die Zille am Heck, meinen Kopf verbergend. Heilloser Schreck herrscht auf Deck, die serbischen Kugeln pfeifen, Aufwimmern, Schrei, Schrei und Schrei beweisen, daß sie treffen.

Eines von den serbischen Schrapnellen, die bisher rechts und links von uns ihre Füllkugeln oder ihre rotglühenden Zünder in die Drina gesprengt haben, platzt über unserm Boot: Lärm, Geächze, Stöhnen, Flüche und dann Panik: „Der Boden ist durch!“ — „Schnell die Löcher zustopfen!“ — „Zeltblätter heraus!“ — „Mäntel hineinstecken!“ ich höre tausend derartige Rufe, ohne etwas zu sehen. Nebenan gleitet ein anderer Ponton, in den nacheinander zwei Schrapnelle einschlagen. Er kippt um, ich wende die Augen weg —

Unser Vehikel wird von der Strömung abgetrieben, etwa zweihundert Schritte weiter nördlich kommen wir an das österreichische Ufer. Sappeure und einige Infanteristen helfen ans Land; bevor ich mich aber von der Hinterwand mit den Händen vorwärtsgegriffen habe, sind alle ausgeschifft, alle aus dem Kugelregen geflüchtet, das Wrack zurücklassend.

Ich versuche an das Land zu steigen —das Wasser ist zu tief, die Strömung zu stark, ich rufe um Hilfe. Manche, die die Böschung hinaufeilen, wenden sich um, jedoch keiner kehrt zurück.

Ich erkenne einen Kompagniekameraden. „Neumaier!“ schreie ich. Er dreht sich um: „Wer ruft mich?“ — „Ich, der Kisch.“ Er kommt herunter, um mir sein Gewehr entgegenzustrecken, ich fasse es, und er zieht mich ans Ufer. Es ist steil und glitschig, ich rutsche aus; in meiner Schwäche verliere ich das Gleichgewicht, stürze rücküber ins Wasser. Neumaier springt mir, der ich mich wieder aufgerichtet habe, nach. Wir stehen bis an den Hals im Wasser. Er stellt sich hinter mich, fest hält er mich an den Hüften, stößt mich vorwärts über den Uferdamm, Boden spüre ich unter mir, Boden.

Eine Kolonne wie die von Falstaff Geworbenen, jämmerlich und elend, trabt im Gänsemarsch längs der Böschung. Nackte Soldaten, Soldaten in Unterhosen, Soldaten in voller Rüstung, Soldaten bloß in Zeltblättern trotten apathisch. Zwischen Neumaier und mich haben sich bereits andere geschoben.

Links ein großer Baum. Das ist der Sanitätshilfsplatz der Hundertzweier, fällt mir ein, den wir beim Hinmarsch gesehen haben, Dr. Klein, Dr. Turnovsky oder Dr. Wohin werden mir irgendwie helfen. So biege ich ein, binnen fünf Minuten bin ich bei dem Baum. Ein Baum wie hundert andere, keine Spur von Hilfsplatz. War’s nicht dort der nächste Baum? Im Nu habe ich die Richtung verloren, irre allein über Kleefelder, während an den Ufern aus Patronenmagazinen ununterbrochen debattiert wird, und Geschosse, den einsam Gehetzten umflitzend, das einzige Zeichen sind von Menschlichkeit.

Dreißig Schritte vor mir, aus einem Gebüsch, ruft mich ein Posten an: „Halt, wer da?“ Ich weiß kein Erkennungszeichen, weder Feldruf noch Losung, da ich im geschlossenen Zug ein geteilt war; aber der Buschmann beharrt darauf, vielleicht hätte er mich erschossen. Zum Glück erinnere ich mich, daß die Feldwachen heute morgen von den Dreiundsiebzigern bezogen wurden, und gebe mich durch egerländische Mundart als Freund zu erkennen: „Seid’s diats Dreisiebzger? I tirt gern mit enkern Kummadanten riadn.“ Zwei Mann führen mich zum Leutnant, der mich anschreit: „Elender Drückeberger, du bist aus der Schwarmlinie geflohen!“ Er weiß noch nichts von dem allgemeinen Rückzug, da an seiner entlegenen Feldwache keine Truppen vorbeigekommen sind. Schließlich läßt er mich passieren, weist mir die Richtung nach Velino-Selo.

Nach zehn Minuten habe ich den Weg nach Velino-Selo erreicht. Tausende von Soldaten lagern da, sie haben ihre Hemden ausgezogen, um sie auszuwinden und dann wieder anzuziehen. Endlich ein Haus, ein Gendarmeriekasernchen, Soldaten davor, mit ihrer Toilette beschäftigt. Hier leere ich meinen Brotbeutel, die Reserveportion Zwieback liegt als flüssiger Brei im Säckchen. Meine Briefe und Karten sind aneinandergeklebte Fetzen, ebenso die alten Stücke Zeitungspapier, die ich für alle Fälle aufgehoben hatte; mein Tagebuch ist, soweit es mit Tintenstift geschrieben war, ganz verwischt und verschwommen; mit dem Tintenstift kann ich nicht mehr schreiben, seine Mine hat sich aufgelöst. In meiner Hosentasche hat sich die Blechkapsel geöffnet, und das Legitimationsblatt ist unleserlich geworden. Gleichgültig, mag man mich als X oder Y begraben!

Beim Gendarmeriehaus treffe ich meinen Retter. Er raucht. „Neumaier, gib mir einen Schluck!“ — „Ach was,“ damit lehnt er ab. Vor Dolni Brodac, unserem alten Lager, warten Soldaten, jeden Vorbeikommenden nach dem Verbleib von Bekannten befragend, beliebte Kameraden stürmisch begrüßend. Auch eine Gruppe von Offizieren sitzt dort, unter ihnen mein Oberleutnant, der in dem umgekippten Ponton war, sich aber doch gerettet hat, ein Oberleutnant, dessen Arm durchschossen ist, ein Leutnant, der vier Schüsse in den Schultern hat, und andere. Sie fragen, ob ich nicht von irgendeinem verletzten Offizier wisse. „Kirrmann ist tot.“ — „Das haben wir auch schon gehört, aber es soll nicht wahr sein.“ Einer erzählt, daß er ihn zerschmettert gesehen. Da schweigen sie. Sie nennen die Namen anderer gefallener Offiziere. „Was ist mit Oberleutnant Batek?“ frage ich, mich meines schwimmenden Nachbarn aus der Drina entsinnend. „Vermißt.“ Hauptmann Mimra liegt fiebernd in seinem Zelt, Lungenentzündung.

Die Kompagnie rangiert sich, die Verluste sollen aufgenommen werden. „Unser Zug ist schön zusammengeschrumpft,“ wende ich mich mechanisch an meinen Schwarmführerstellvertreter, der immer neben mir in der Einteilung stand. Ein anderer antwortet. Korporal Czeschka fehlt also auch. Er war zur Dekorierung eingegeben, weil er vor vierzehn Tagen zur Rettung unserer Patrouille im Feindesfeuer durch die Drina geschwommen war. Wie hatte er sich, unserem Spott zum Trotz, auf die Medaille gefreut! Von meinen Kumpanen fehlen über zwanzig. In den anderen Kompagnien sollen die Verluste noch größer sein. Und erst bei den anderen Regimentern unserer Division!

Den ganzen Morgen weine ich grundlos und unvermittelt, nachmittags lache ich, bin kindisch geworden. Trotz Übermüdung und Hitze kann ich nicht einschlafen. Alle sind in ähnlicher Stimmung.

Ich komme an unserem vierten Zug vorüber, der besonders viel Verluste hat; eine Gruppe sitzt traurig, niedergeschmettert da: „Weißt du schon: unser Schimmel ist auch tot.“ Ja, ich weiß schon, daß unser Munitionstragtier ertrunken ist.

Manche Chargen, die im Mobilisierungsrummel von Pisek keine Distinktionssterne kaufen konnten, hatten sie mit Tintenstift auf den Blusenkragen gemalt. Im Drinawasser sind nun diese Sterne sehr groß geworden. Darüber lachen sich jetzt alle schief: „Schau, was der für einen großen Stern hat — muß der stolz darauf sein, daß er Gefreiter ist.“ Auch ich kichere still vergnügt in mich hinein.

Quelle

Kisch, Egon Erwin: Schreib das auf, Kisch! Ein Kriegstagebuch, 1930.

https://archive.org/details/KischGW01/page/n151 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

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