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Das Urteil

Ich sitze auf der Anklagebank. Der Gerichtssaal ist bis auf den letzten Sitz mit Unterstützer:innen gefüllt. Draußen warten noch 20, die keinen Platz bekommen haben.  

Anklage: Zwei Straßenblockaden. Ich habe klar gemacht, dass ich es wieder tun würde, weil wir uns in einer Situation kolossaler Ungerechtigkeit befinden: Eine kleine Gruppe von fossilen Unternehmern, Lobbyisten und Politikern bereichert sich und zerstört damit unser aller Lebensgrundlagen.

Und Olaf Scholz, der Klimakanzler? Eigentlich ist er der Schuldige, bricht das Klimaschutzgesetz, das Pariser Abkommen, unsere Verfassung und gibt den Fossilen auch noch Milliardensubventionen.

Und ich? Soll 900 Euro Strafe für meinen friedlichen Protest bezahlen, fordert die Staatsanwältin.

Für mein Plädoyer und letztes Wort stehe ich auf, meine Stimme heiser nach drei Stunden Prozess, in denen ich ein halbes Dutzend Beweisanträge gestellt und Sachverständige geladen habe.

Ich sage:

„Was werden sie, Herr Richter, in 20 Jahren sagen?

Wenn die Ölkonzerne sich durchgesetzt haben?

Wenn die Klimakrise eskaliert?

An unseren Grenzen auf Menschen geschossen wird, die zuhause nichts mehr zu essen und zu trinken haben?

Die AfD dieses Land regiert und die Demokratie abschafft und Menschen deportiert?

Entweder sie, Herr Richter, machen weiter wie bisher, oder sie fangen an, sich anders zu entscheiden. Entweder man steht auf der Seite des Profits oder auf der Seite der Gerechtigkeit.

Ich fordere sie deshalb auf, mich freizusprechen.

Und ich fordere Sie, Frau Staatsanwältin, auf, Anklage wegen Unterlassung gegen Bundeskanzler Olaf Scholz zu erheben.“

Man sieht dem Richter an, dass es in ihm arbeitet. Aber er hat seine Entscheidung schon gefällt, verurteilt mich.

Dann fängt er an, einzupacken. Ich öffne meinen Rucksack, ziehe eine schwarze Robe raus, ziehe sie mir über. Julian stellt sich neben mich, zieht auch seine Robe über den Kopf. Robert nimmt an einem der Tische Platz, zieht sich eine Olaf Scholz-Maske an.

Wir übernehmen den Gerichtssaal, der Richter guckt, packt aber weiter seine Sachen.

 Julian, als Staatsanwalt, fängt an, laut die Anklageschrift zu verlesen:

„Der Bundeskanzler Olaf Scholz,

wird angeklagt, 

im Zeitraum vom 8. Dezember 2021 bis zum 15. April 2024

durch den Bruch des Pariser Abkommens, des Artikels 20a Grundgesetz und des Klimaschutzgesetzes

eine große Zahl von Menschen körperlich und seelisch zu schädigen.

Dem Angeschuldigten wird Folgendes zur Last gelegt:

Im genannten Zeitraum war der Angeschuldigte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und ist es weiterhin. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich zum Pariser Klimaabkommen bekannt. 

Danach ist Deutschland verpflichtet, einen angemessenen Beitrag zur Einhaltung des 1.5 Grad Ziels zu leisten. Nach dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts ist Deutschland dazu auch verfassungsrechtlich verpflichtet. Darüber hinaus ist die Bundesregierung an das Klimaschutzgesetz gebunden. 

Trotz dieser Verpflichtungen reichen die Bemühungen der Bundesregierung nicht aus, um den Anforderungen des  Pariser Abkommens zu genügen. Die 1.5 Grad-Grenze wurde letztes Jahr erstmals überschritten. Es ist zu erwarten, dass dies auch in den Folgejahren der Fall sein wird. 

Entgegen der Aufforderung durch das Bundesverfassungsgericht, hat Olaf Scholz nie einen plausiblen Plan vorgelegt, wie die entsprechenden CO2-Budgets einzuhalten seien.

Oder wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. März 2021 gesagt hat: Die Regierung von Olaf Scholz macht Klimaschutz “ins Blaue hinein”. 

Daraus wird ersichtlich, dass Deutschland das Pariser Abkommen bricht und Bundeskanzler Olaf Scholz dafür die Verantwortung trägt. 

Das kürzlich ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterstreicht die Schwere der Schuld, da der Gerichtshof feststellte: Klimaschutz ist ein Menschenrecht.

Schon jetzt sind zehntausende Menschen an den Folgen der Klimakatastrophe in Deutschland ums Leben gekommen.

Mit weiterer globaler Erhitzung ist mit unzähligen zusätzlichen Toten und Verletzten infolge dieser Krise zu rechnen. Olaf Scholz kam seiner Pflicht als Bundeskanzler nicht nach und ist dafür zur Verantwortung zu ziehen.“

Wir machen Olaf Scholz den Prozess.

Der Richter und die Staatsanwältin, die mich angeklagt hatten, verlassen den Saal. Dafür kommen mehrere Justizbeamte rein, die für Ordnung sorgen sollen, sind mit der Situation überfordert, wissen nicht, was sie tun sollen.

Wir machen weiter. Ich sage:

“Wir haben hier noch ein klimawissenschaftliches Sachverständigengutachten, welches den aktuellen Stand der Forschung zusammenfasst. 

Demnach werden irgendwo zwischen 100 Millionen und einer Milliarde zusätzliche Todesfälle entstehen noch in diesem Jahrhundert und ein wirtschaftlicher Schaden von mehreren Billiarden Euro durch Naturkatastrophen. Dieses habe ich mir im Selbstleseverfahren bereits angeeignet, sodass auf eine Verlesung gemäß §249 Abs. 2 Satz 1 StPO verzichtet werden kann. Möchten Sie sich dazu äußern?“

Scholz antwortet: „Der wirtschaftliche Schaden ist natürlich extrem bedauernswert.“

Ich: „Sonst wollen Sie dazu nichts sagen?“

Scholz: „Nein.“

„Gut. Dann können wir von meiner Seite aus die Beweisaufnahme schließen.“

Es ist Satire.

Es ist uns todernst. 

Immer mehr Justizbeamte stürmen in den Saal, fordern uns und unsere Unterstützer:innen auf, den Raum zu verlassen.

Niemand bewegt sich.

Mein Puls rast. Wir ziehen das durch. Irgendwann schlägt ein Justizbeamter auf den Notknopf an der Wand. Alarm schrillt auf. Ich sage zu Julian: „Ich glaube, es ist an der Zeit zu gehen.“

Im Flur stürmen uns mehr Wächter entgegen, die Türen anderer Gerichtssäle werden aufgerissen, Menschen gucken raus, wir laufen weiter, der Alarm schallt durchs ganze Gebäude.

Ich passiere den Flur und zwei Türen, plötzlich niemand mehr von uns mehr hinter mir. Ich drehe mich um, öffne die Tür wieder, aber da ist eine Wand aus Uniformierten. „Fuck, alle gekesselt“, schießt es mir durch den Kopf.  

Ich gehe zu den Aufzügen, fahre runter, finde den Ausgang, komme auf die Straße. Die anderen sind schon da – sie hatten den schnelleren Weg gefunden, ich hatte einen Umweg genommen. Niemand wurde aufgehalten oder gekesselt.

Draußen vor dem Gericht führen wir den Prozess zu Ende, das Urteil:

 „Kanzler Olaf Scholz hat durch die Verletzung seiner Pflichten Leben und Gesundheit von unzähligen Menschen gefährdet und tut es weiterhin. Er hat die Klimakrise eskalieren lassen. Und die Klimakrise tötet. Dieses Fehlverhalten ist Kanzler Scholz schwer anzulasten. Er handelt verantwortungslos und sträflich. 

Als Gericht der Letzten Generation glauben wir jedoch nicht an die Ideen von Strafen und Gefängnissen. Olaf Scholz wird sich noch für Jahrzehnte vor seinem eigenen Gewissen verantworten müssen – das erachten wir für ihn als Strafe genug.“

Einige Fotografen machen noch Bilder, und dann – unbehelligt von Polizei und Justizbeamten – hauen wir ab, finden einen ruhigen Platz an der Spree und liegen uns in den Armen.

Fotos: 1) Stefan Müller 2&3) Nikolaus Stein

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