Alles neu macht der Januar
Magie der Personalie/ Der Junge und der Reiher/Lolita-Doku /Pâté en croute
Die Regierungsumbildung durch Macron hat in Deutschland manche manchmal, in Frankreich aber alle und dauernd beschäftigt.
Vergangenen Sonntag las ich in Le Monde einen Artikel über das Verhältnis zwischen Macron und seiner Premierministerin Elisabeth Borne. Es war bekanntlich alles sehr kompliziert zwischen ihnen, französisch verrenkt und voller unausgesprochener Vorbehalte. Die Premierministerin ist ein effektiver, rätselhafter und in sich gekehrter Mensch. Es ist ihr nicht möglich, das Schicksal ihres Vaters Joseph Bornstein zu erwähnen. Er war Jude, wurde nach Auschwitz deportiert und überlebte, kehrte an Körper und Seele schwer verletzt zurück. 1972 beging er Selbstmord. Wenn die Rede auf ihn kommt, bricht Elisabeth Borne in Tränen aus. In dem Le Monde Text war noch eine Gemeinheit versteckt, die aus dem Umfeld Macrons zitiert wurde: “Die isst den ganzen Tag nur Körner.”
Solche Zitate aus dem Umfeld kommen meiner Erfahrung nach immer aus dem Zentrum, und wenn so ein Satz in Le Monde steht, dann, das war mir völlig klar, war es das mit der Ära Borne. Anschließend saß ich in der Küche und erklärte meiner Frau, die Kummer gewohnt ist, was passieren wird: Montag wird Borne entlassen und Dienstag sitzt der neue Premier in der Frühsendung von France Inter. Und den Namen Gabriel Attal nannte ich auch. Dauerte dann etwas länger, aber es war recht erwartbar, was in der Woche so ablaufen würde. Dann wieder nicht. Denn die Reaktionen auf die Nominierung waren bemerkenswert: Nichts hat sich geändert an den französischen Problemen, aber diese eine Personalie hat das ganze Land in ihren Bann gezogen. Sogar die Rechten vom Rassemblement National reagierten beeindruckt. Attal ist nur deswegen so populär, meckerten sie, weil er den Stil von Marine LePen kopiert.
Es war, als hätte man eine Dose Tennisbälle in das Gehege gelangweilter Waschbären gekippt. Plötzlich füllt sich die Luft mit einer besonderen Energie, mit einer neuen Lust an der Politik.
Das französische Fernsehen hat in solchen Lagen etwas vom Wohlfahrtsausschuss der Revolutionstage: Man tagt permanent und alle reden ununterbrochen. Den in deutschen Talkrunden so oft gebrauchten Satz Lassen Sie mich bitte ausreden, hört man aber nicht. Denn die Lage ist so verrückt, dass alle jederzeit reden können müssen, ja sonst platzen sie. Manche Kommentatoren kenne ich noch aus meiner Kindheit. Sie sind aber nicht blasiert, sondern kommentieren die Ernennung von Gabriel Attal als wäre er der erste französische Premierminister überhaupt.
Alles scheint jetzt neu. Macron könnte einen Nachfolger finden. Attal könnte die Lager der Mitte einen und ein neues Goldenes Zeitalter einleiten. Eine starke, schnelle und postideologische Republik mit entschlossener Industriepolitik.
Doch das alles war nichts im Vergleich zum Donnerstagnachmittag. Da suchte ein Gerücht die Talkrunden heim: Rachida Dati, ein Star der Politik zu Sarkozy-Zeiten, könnte die neue Kulturministerin werden. In den ersten Stunden lachte man es weg. So crazy ist die Gerüchteküche in dieser Stadt Paris! Aber sie wurde es und nun stehen alle Kopf. Sie kommt mit der für den Sarkozisme üblichen Mischung aus Glamour, Popularität und unendlichen, undurchschaubaren Skandalen. Dati ist wie man so sagt, nicht auf den Mund gefallen: Legendär sind die Wortgefechte zwischen Dati und ihrer politischen Intimfeindin Anne Hildalgo, der Bürgermeisterin von Paris. (Leider haben sie von Jura keine Ahnung Frau Bürgermeisterin, ich werde ihnen privat Nachhilfe geben müssen! - Das ist aber lieb von Ihnen, Madame Dati!) Macron hat erkannt, dass ihm in dieser Rolle jemand gefehlt hat. Es reicht nicht, die eigene Politik erklären zu können, man muss auch angreifen, die anderen vorführen.
Die Regierung Attal hat nun so jemanden. Die Ampel nicht.
Um den Flop von Napoléon auszugleichen, begleitete ich meinen Sohn in den neuen Film des Studio Ghibli. In Frankreich war dessen Start ein nationales Kulturereignis mit Sondersendungen und Retrospektiven. Das Interesse des Publikums war auch hier vorhanden. Lange habe ich kein so volles Kino mehr gesehen. Jung und Alt waren gekommen. Dann ging die Reise los. Es hilft, wenn man einiges von Haruki Murakami gelesen hat, denn die Geschichte ist eine seinen Büchern ähnliche Mixtur aus Familiengeheimnis, Seelenkunde und Fabeln. Der Zweite Weltkrieg kommt vor, die Atombomben und das Leben mit Erdbeben und Tsunami, aber jeweils chiffriert und über seltsame Figuren und Tiere vermittelt. Gibt es neben unserer noch eine weitere Welt, die sich auftut, wenn man die Ruine im Wald besucht? Liegen Vergangenheit und Zukunft nur hinter verschiedenen Türen desselben Flurs? Ein alter Mann denkt sich irgendwas mit Reihern und Pelikanen aus, lässt es zeichnen und auf der ganzen Welt führt sein Zeichentrickfilm völlig verschiedene Menschen zu denselben letzten Fragen.
https://www.youtube.com/watch?v=zCO4ZK1NdSY (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Alle Jahre wieder sollte man sich mit Vladimir Nabokov beschäftigen. Ich lese besonders gerne seine Interviews, obwohl ich ihn nicht gerne interviewt hätte. Nun gibt es eine sehenswerte Dokumentation über seinen Bestseller Lolita, die mit den gröbsten Missverständnissen über Werk und Autor aufräumt.
https://www.arte.tv/de/videos/100842-000-A/die-wahrheit-ueber-lolita/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Meine Frau ist nun beruflich öfter in Straßburg (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und bringt mir ab und zu pâté en croûte mit. Hier finde ich es nicht und die Herstellung würde mich überfordern. Aber möglich ist es, wie der Figaro beweist und empfiehlt:
https://madame.lefigaro.fr/cuisine/actu-cuisine/le-retour-en-grace-du-pate-en-croute-20231224 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Es handelt sich bei dem Gericht übrigens um eine ganze Lebensphilosophie, Kulturgeschichte und Weltanschauung, wie der große François Morel dargelegt hat:
https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=RUz0UAoTGkc (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Festlich geht es auch ohne Fleisch, dafür mit Abo. Lohnt sich aber.
https://www.lemonde.fr/m-styles/article/2024/01/09/trois-recettes-de-couscous-aux-legumes_6209831_4497319.html (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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