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Der Sieger

Lançon in Saarbrücken/Rebecca Solnit/Hafen ohne Gnade/ Otto Lenghi

Ich vermeide es, am Sonntag zu reisen oder zu arbeiten, aber heute vor einer Woche habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich fuhr nach Saarbrücken und führte im Rahmen der tollen Reihe Literatur der Transformation (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ein Gespräch mit Philippe Lançon.

Er ist ein Überlebender des Attentats auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015. Sein Buch über diese Erfahrung und seine Genesung, das unter dem Titel Der Fetzen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erschien, ist eine zentrale Lektüre zum Verständnis unserer Gegenwart. Während des Überfalls auf die Redaktion konnte er sich wegducken, aber in dieser Bewegung traf ihn eine Gewehrkugel und zerstörte seinen Unterkiefer. Wie er danach wieder zusammen geflickt wurde und viele Monate in Kliniken verbrachte, davon handelt sein Buch. Es ist das Lob einer unmodernen Tugend, der Geduld, und einer oft kritisierten Institution, nämlich des Krankenhauses. (Es liest sich auch als Geschichte einer Heilung und hilft vielen Menschen, die mit Krankheit, Unfällen und sonstigen Schicksalsschlägen konfrontiert sind.Jede Arztpraxis, jede Klinik sollte ein Exemplar vorhalten!)

Sozialstaat, Wissenschaft und Solidarität sind die besten Waffen der Zivilisation gegen den Terror – das ist die Message seines Buches. In Saarbrücken wirkte er erst etwas schüchtern, litt unter Lampenfieber. Aber dann taute er auf und es wurde ein angeregtes, stellenweise auch lustiges Gespräch. Heute geht es ihm wieder gut. Seine Partnerin und er sind Eltern zweier Kinder, das Leben hat über den Terror gesiegt. Derzeit schreibt er an einem Vorwort für eine französische Neuausgabe von Kafkas Verwandlung.

Damals, 2015, begann der umfassende Angriff auf die offene Gesellschaft. Wir haben es nur nicht gleich verstanden. Es mag sich um einen ganz anderen Angriff handeln als jener Putins auf die Ukraine und auf den ersten Blick denkt man, sie hätten nichts miteinander zu tun. Aber die Feinde der offenen Gesellschaft haben doch einige Gemeinsamkeiten: Der radikale Islamismus und der russische Angriffskrieg - sowohl der militärische gegen die Ukraine als auch der asymmetrische gegen unsere Digitalsysteme und die Meinungsbildung - werden durch den Verkauf fossiler Energieträger, von Öl und Gas finanziert. Korruption westlicher PolitikerInnen und digitale Desinformation sind beiden ein wichtiges Mittel. Dagegen machen wir praktisch nichts. Und beide Ideologien schwören auf Gewalt, vor allem gegen Frauen. Putin, die iranischen Machthaber, die Hamas, die Daesh und die Taliban nutzen gezielt sexualisierte Gewalt. Freie Frauen sind das wesentliche Merkmal einer offenen Gesellschaft und darum das wichtigste Ziel dieser Terroristen.

Eine strategische Antwort ist die Umrüstung auf erneuerbare Energien. Aber es bedarf auch einer kollektiven Entschlossenheit, sich nicht kleinkriegen zu lassen. Durchhalten. Geduld beweisen, sich auf eine lange Auseinandersetzung einzustellen. Und das auch verkünden.

Lançon hat nichts von einem Helden und er ist der friedliebendste Mensch, den man sich vorstellen kann. Allerdings beobachtet er sorgenvoll, wie der Wert der Freiheit in den Hintergrund tritt zugunsten einer Idee von Gleichheit, einem Relativismus der Werte. Als sei jede Ideologie gleich viel wert. Wären heute noch so viele Menschen mit dem Slogan Je suis Charlie auf der Straße? Oder würden einige in den Killern die Pioniere des antikolonialen Befreiungskampfs sehen?

Lançon macht sich da so seine Gedanken, aber er verzweifelt nicht. Er bestellte Entenbrust und ein Pils; bedauerte, nicht mehr Zeit in der saarländischen Hauptstadt verbringen zu können und genoss seine Reise und die Veranstaltung. Und er schreibt weiter für Charlie Hebdo.

Kann es eine linke Position sein, immer mehr Waffen zu bestellen, um sie gegen Russland einzusetzen? Ist es links, an der Seite der Vereinigten Staaten zu stehen und sich militärisch zu engagieren? Und wie ist das mit Israel und seiner rechten Regierung? Derzeit fällt es vielen Linken nicht leicht, in existentiellen Fragen einen klaren Kurs zu finden. Eben war doch der Pazifismus die beste Lösung, waren Rüstungsfirmen von Übel und immer wieder sollte man sich auf den dritten Weg begeben. Diese Fragen stellt sich auch die große Rebecca Solnit und erörtert sie in diesem lesenswerten Essay.

https://lithub.com/what-is-left-rebecca-solnit-on-the-perennial-divisions-of-the-american-left/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Zu den großen Problemen der französischen Provinz zählt die organisierte Kriminalität rund um den Drogenhandel. Selbst mittlere Städte wie Dijon oder Toulouse ächzen unter den blutig ausgetragenen Kämpfen rivalisierender Gruppen. Die französischen Häfen sind der entscheidende Schauplatz dieses Gewerbes und sehr schwer zu kontrollieren. Eine neue Serie zeichnet nach, wie der globalisierte Drogenhandel, das viele Geld und die traditionelle Arbeiterkultur aufeinandertreffen. Schauplatz ist Le Havre, zugleich die politische Heimat von Édouard Philippe, einem der möglichen Amtsnachfolger von Emmanuel Macron.

https://www.arte.tv/de/videos/109422-001-A/hafen-ohne-gnade-1-6/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

In dieser konfliktreichen Gesamtlage passiert es leicht, dass man die Völker mit ihren Regimes verwechselt. Aber die Russinnen und Russen sind nicht Putin, die Menschen in Palästina sind nicht die Hamas und der Iran gehört nicht seiner Führung. Die Kultur ist das Mittel, diese Differenzierung vorzunehmen. Hier finden sich jene Ressourcen, die nach dem Sturz der Tyrannen nötig sein werden, um eine bessere Zukunft aufzubauen. Für mich ist auch die Küche ein Teil der Kultur, darum faszinieren mich Rezepte wie dieses:

https://www.theguardian.com/food/2024/feb/24/yotam-ottolenghi-persian-recipes-chicken-celery-stew-aubergine-kuku (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Kopf Hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Jemand hat diesen Newsletter für den Goldenen Blogger (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)vorgeschlagen und nun bin ich tatsächlich nominiert und auf der Shortlist. Vielen Dank.

PPS: Vor einiger Zeit bat ich darum, einen Fragebogen auszufüllen, um mehr über das Publikum dieses Newsletters zu erfahren. Die Auswertung erfolgte nun und Dr. Gabriel Yoran von Steady schrieb mir folgendes Fazit: “wie erwartet sind deine Leser:innen extrem toll!”

Aber das wusste ich natürlich schon.

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