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Imagine

Politische Fantasie/The White Lotus/ Paul Bocuse/Johanna Adorjàn

In einem neuen Jahr mit noch ziemlich leeren Kalender scheint, wenn die Tage morgens früher beginnen, alles möglich. Ab dem Herbst rennt man den Ereignissen, Verpflichtungen und Festivitäten nur noch hinterher, das Leben wird zur Erledigungsliste – aber dann, also jetzt, öffnet sich die Zeit. Es ist die Saison der Fantasie. Ich frage mich zum Beispiel, warum der Bundeskanzler und der französische Präsident ihre Neujahrsansprachen nicht gemeinsam vortragen. Im deutsch-französischen Jubiläumsjahr wäre das die passende Geste gewesen und eine Neuerung in einem Medienritual, das arg erschöpft wirkt. Warum sind wir immer noch so streng nach Staaten sortiert? Für die meisten Menschen ist ihre Region und dann wieder Europa ihr heimatlicher und politischer Bezugsrahmen, die kleinen Nationalstaaten Europas vermögen nicht mehr viel – die Ukrainekrise macht das gerade deutlich. Wie schon in der Pandemie sucht jedes Land - tastend, versuchend, korrigierend – einen eigenen Pfad durch den Nebel der Gegenwart. Und Mensch darf, als Bürgerin und Bürger einer Nation, darauf hoffen, dass sein Land, sein politisches Personal,  einigermaßen vernünftig agiert. Oder Glück hat. Menschen, die das Unglück haben, im Iran, in Nordkorea oder Eritrea zur Welt zu kommen, sind den Launen ihrer nationalen Chefs völlig ausgeliefert. Dabei haben sie - seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herrscht diese Idee - die gleichen Rechte wie wir auch. Warum überlassen wir deren Durchsetzung und Garantie so leicht korrumpierbaren Strukturen wie Nationalstaaten? Was soll, auf einem endlichen, wohlbekannten Planeten, die Idee einer Abschiebung von a nach b zur Bekämpfung  der Kriminalität? Warum debattiert man heute noch in der Bundesrepublik, welchen Pass Straftäter oder ihre Eltern haben? Warum in Frankreich, welcher Religion sie angehören? Eines Tages wird es universelle  Ausweisdokumente geben und Institutionen, die die Rechte der Einzelnen sichern, ganz unabhängig, ob ihr Geburtsort zum Territorium von Wahnsinnigen gehört. 

Heute mag man allerlei Einwände gegen den Universalismus formulieren, es für eine spinnerte Vision halten. Aber wie wäre selbst gebildeten Bürgern der Fürstentümer des Heiligen Römischen Reichs die Möglichkeit des Schengenraums vorgekommen? Oder das Smartphone, die Videokonferenz und das Elektrobike? Pures Hexenwerk!

Unser demokratischer, postmoderner Alltag war einmal eine wilde Utopie, darum müssen wir heute schon tagträumen, was in besseren, fernen Zeiten die humanistische Selbstverständlichkeit sein wird. (Human im erweiterten Sinne: Ich glaube nicht, dass man dann noch Orang Utans im Zoo und Schweine im Elend halten wird!) Imagine. 

In den letzten Wochen habe ich mich mit der HBO-Serie The White Lotus amüsiert. Zwei Staffeln gibt es schon, die erste spielt auf Hawaii, die zweite in Taormina auf Sizilien. Es ist eine satirische Erkundung der Welt der Luxusressorts, also der superreichen Kundschaft und des genervten Personals. Musik spielt eine große Rolle, schwarzer Humor auch und zugleich ergibt sich eine faszinierende Ethnografie seelischen Elends im materiellen Überfluss. Keine antikapitalistische Bewegung hätte die soziokulturellen Implikationen der Vermögensungleichheit so effektiv kritisieren können. Würde Fassbinder heute Serien machen, käme wohl so etwas dabei heraus. 

https://www.youtube.com/watch?v=6GcypeCUj8k (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Ich höre schon die Frage, was denn an viel Geld das Problem sein soll? Immer noch besser als zu wenig, oder? Neben der Serie sei darum auf diesen Artikel aus dem Guardian verwiesen: 

https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/nov/22/therapist-super-rich-succession-billionaires (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Es gab eine Zeit, in der auch besondere Köche noch keine Stars oder Marken waren, sondern eben Köche. Kaum etwas schwankt so stark wie der Ruhm, der mit bestimmten Berufen verbunden ist. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts waren Raumfahrer die berühmtesten Menschen des Planeten, aber niemand kannte irgendein Model und auch erfolgreicher Sänger und Musiker fuhren mit dem Bus. Dieser Ausschnitt führt uns in eine Zeit zurück, in der der heute vergötterte Paul Bocuse Grundlagen des Kochens demonstriert. Er ist auch dann ziemlich gut, wenn er bloß Kartoffeln schält. Das Huhnrezept ist völlig aus der Mode, aber genau darum wieder interessant. 

https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=gdX4lgr4fxE (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Meine  Kollegin Johanna Adorjàn hat in ihrer Kolumne im SZ-Magazin so schöne und wahre Sätze geschrieben, dass ich sie hier gern zitieren möchte, es gibt keine bessere Inspiration für ein  neues Jahr. Kontext ist eine Frage zu einem Geschehen in einer Sauna, aber wichtig ist das Ende ihrer Antwort:  "Achten Sie nicht auf die Blicke der Anderen, Spießer gibt es überall. Freuen Sie sich an den warmen Temperaturen, die in der Sauna herrschen, an der Verlässlichkeit, mit der ihr Herz Blut durch ihre Adern pumpt, daran, dass Sie genau in diesem Augenblick auf diesem winzigen blauen Planeten inmitten des Weltalls am Leben sind. Das ist doch wirklich ein unglaublicher Zufall und ein kostbares Glück."

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

PS: Der  Charakter dieses Newsletters scheint mir darauf zu gründen, dass ich ihn ganz frei gestalten kann. Damit ich dafür auch die Zeit habe, kann, wer es möchte, hier einen kleinen Beitrag dazu leisten:

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