Passer au contenu principal

Route neu berechnen

Tabuthema Steuererhöhung/Film Kaizen von Inès Inoxtag Benazzouz/Michael Mann Über Kriege/ Memoir von Nigel Slater

Ich kenne viele, die vom Bundeskanzler enttäuscht sind, aber niemanden, der sich einen Kanzler Merz wünscht. In Frankreich erträgt eine Mehrheit meiner Freunde und Verwandten den Präsidenten nicht mehr, aber Marine Le Pen oder Jean-Luc Mélenchon möchten sie auch nicht. Derweil ist der neue französischPremierminister Michel Barnier zum beliebtesten Politiker des Landes aufgerückt – wer diesen Newsletter liest, wird davon nicht überrascht gewesen sein.

In beiden Ländern ist die beste Option derzeit eine Form von zurück in die Zukunft: Große Koalition in Berlin, Neuauflage der Chirac-Jahre in Paris. Ohne Chirac.Die nationale Politik ist in beiden Ländern ein zähes und deprimierendes Theater. Einig ist man sich nur darin, dass die Ausländer schuld sind.

Wie interessant ist hingegen die Brüsseler Bühne. Personen wie Raphael Glucksmann, Katarina Barley und sogar Ursula von der Leyen würde man sich auf nationalen Bühne mehr wünschen. Selbst der dramatische Abschied von Thierry Breton war mal wieder Tagespolitik mit Verve und Aplomb, man musste staunen und lachen.

Der Bericht des großen Mario Draghi, eine der klügsten Figuren der europäischen Politik, eröffnet seit langem Mal eine Perspektive für Europa. Hätten Scholz und Macron solch ein Projekt gemeinsam unternommen und einen entsprechenden Plan formuliert, wäre ihre Legacy viel besser ausgefallen. Es wäre überhaupt besser gewesen, mehr oder alles gemeinsam zu machen – wo Macron gut reden kann, überzeugt Scholz durch Effizienz in der Umsetzung. Auch eine gemeinsame Antwort auf die Folgen der Pandemie und den Überfall auf die Ukraine wären historisch möglich gewesen, stattdessen kam too little too late, was die gemeinsamen Auftritte und die öffentliche Kommunikation angeht. Nun haben sich beide je allein in die Ecke manövriert.

Michel Barnier sorgte in der vergangenen Woche für einen Schock durch alle Lager: Angesichts der leeren Kassen und der hohen Verschuldung Frankreichs erinnerte er an ein uraltes politisches Instrument, der Steuererhöhung für vermögende Firmen und Privatleute. Da war was los. Alles soll und darf man politisch anzetteln, aber maßvolle Steuerbelastungen für Menschen, die ihr Geld ohnehin niemals ausgeben werden, weil es zuviel ist? Barnier stand kurz vor dem Rücktritt - wegen eines Vorschlags, der zu Zeiten von Helmut Kohl völlig selbstverständlich gewesen wäre. In der Bundesrepublik wäre es ohnehin eine Rückbesinnung auf die guten Geister des Anfangs: Nach dem Krieg wurde mit dem Lastenausgleichsgesetz die Grundlage für den Wiederaufbau gelegt. Eine Neuauflage würde keinen Immobilienbesitzer zu den Tafeln treiben.

Dabei haben sich in Frankreich wie auch in Deutschland die Vermögensunterschiede so verschärft, dass eine entsprechende Besteuerung unabdingbar ist. Die französische Abteilung der NGO Oxfam hat vor einigen Jahren folgende Rechung aufgemacht: Würde jemand die Summe von 8000 Euro ansparen können, Tag für Tag und hätte damit schon vor einer Weile begonnen – etwa am Tag der Einnahme der Bastille am 14. Juli 1789 – dann hätte diese Familie heute 1% des Vermögens von Bernard Arnault. Ein republikanisches und bürgerliches Gemeinwesen kann nicht bestehen, wenn es soziologisch zur Oligarchie wird. Der Wahlkampf in den USA ist genau davon geprägt: Trump wird von vielen Superreichen gestützt, darunter Wladimir Putin.

Dabei ist es gelungen, diesen Diskurs der Vermögensungerechtigkeit völlig an den Rand zu drängen, die Rede ist nur noch von kultureller Identität, Überfremdung und der Bedrohung durch Ausländer. Und die selbsternannten Linken eilen Putin und seinen Freunden zur Hilfe oder der Hamas, also schwerreichen Männercliquen ohne jeden Skrupel.

In Frankreich tobt eine heftige Debatte um den Film Kaizen des YouTube-Stars Inoxtag. Der zweistündige, sehr aufwendig gemachte Dokumentarfilm bildet eine Challenge ab, die sich der 22 jährige Inox, mit bürgerlichem Namen Inès Benazzouz, selbst gestellt hat: Innerhalb eines Jahres soll es ihm gelingen, den Mount Everest zu besteigen. Zu Beginn ist er in kläglicher körperlicher Verfassung, wohnt im Badezimmer seiner Eltern und ernährt sich hauptsächlich von Fast Food. Man sieht ihn probeweise joggen, schon recht verschwitzt und ohne Puste, während sein Trainer noch gemütlich neben ihm her spaziert. Wie in den Mangas, die Inès Benazzouz als Kind so gern gelesen hat, möchte Inoxtag über sich hinaus wachsen. Es beginnt ein ambitioniertes und auch teures Unternehmen, dem man als Zuschauer aber amüsiert und interessiert folgt.

Als Kaizen jetzt in die französischen Kinos kam, wurden für den ersten Tag in kürzester Zeit 300 000 Karten verkauft - und das, obwohl der Film am Tag danach bei Youtube eingestellt wurde. Das ist nach dem französischen Kinogesetz verboten, aber die Höchststrafe bei Verstoß liegt bei 45.000 Euro - keine Summe, die Youtube schlaflose Nächte bereitet.

Kritisiert wurden die mangelnde ökologische Sensibilität angesichts des Massentourismus auf dem Everest und die Oberflächlichkeit der Schilderung der Sherpas. Alles richtig. Aber dennoch sind die Energie und der Wahnsinn des Projekts einfach ansteckend.

https://www.youtube.com/watch?v=wrFsapf0Enk (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Zu den wichtigen Büchern dieses Herbstes zählt die große Studie des britisch-amerikanischen Soziologen Michael Mann über das Wesen des Krieges. Das Jahrhundert begann mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und den dann folgenden Kriegen in Afghanistan und Irak, die man nur als Katastrophen und massenhafte Kriegsverbrechen mit Ansage bewerten kann. Mit den Folgen haben wir bis heute zu kämpfen.

Auch der Krieg Putins gegen die Ukraine ist ein Verbrechen, jetzt schon gescheitert und zugleich ein strategischer Fehler von historischen Ausmaßen, der über kurz oder lang zu Putins Ende führen wird – allerdings fordert er zuvor einen unvorstellbaren Preis. Aber warum denken Machthaber, dass Krieg eine gute Idee wäre?

Mann geht die Sache nicht historisch an, sondern nähert sich den Kriegen der Geschichte mit einem phänomenologischen und soziologischen Ansatz. Sein Fazit sei hier schon vorweggenommen: Man soll es, als Machthaber, lieber bleiben lassen.

Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu den Gerichten, die Nigel Slater letztlich auf den Teller bringt. Oft ist es mir schlicht zu süß. Aber in seiner Obsession mit Schreibwaren, seinem bohemienhaften Lebensstil und dem leicht altmodischen, von Melancholie durchzogenen Schreibstil ist er mir auch wieder sehr nah. Daher ist sein neues Buch für mich ein Grund zur Vorfreude. Hier sind schon Auszüge zu lesen:

https://www.theguardian.com/food/article/2024/sep/15/moments-memories-and-meal-to-cherish-exclusive-extract-nigel-slater-a-thousand-feasts (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Sein Kollege Ottolenghi widmet sich derweil den wirklich wichtigen Fragen…

https://www.theguardian.com/food/article/2024/aug/10/ask-ottolenghi-how-to-roast-a-chicken-or-two (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Durch Mitgliedschaften kann ich mir die Zeit für diesen Newsletter freihalten von anderen Aufträgen. Wenn Sie mitmachen möchten, so geht das hier:

0 commentaire

Vous voulez être le·la premier·ère à écrire un commentaire ?
Devenez membre de Der siebte Tag et lancez la conversation.
Adhérer