Dieser goldene Oktober
Annie Ernaux/Niedersachsen/ Parlament Staffel 2/ Huhn statt Taube
Kurz nachdem ich dieses stimmungsvolle Bild auf einer Zugfahrt nach Berlin gemacht habe, verfolgte ich die Verkündung des diesjährigen Nobelpreises für Literatur und hätte am liebsten Juhu gerufen, als der Name Annie Ernaux fiel.
Ich hatte die Ehre, eine Laudatio zu halten, als sie 2019 den Prix de l Académie de Berlin erhielt. Ich erinnere mich noch, wie mich das Lampenfieber davor fest im Griff hatte.
http://www.academie-de-berlin.de/prix/laudationes/dr-nils-minkmar-laudatio-auf-annie-ernaux (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Vor einiger Zeit bat ich Sie um einen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung, sie sagte ab wegen zuviel zu tun, ich verstand und sie antwortete wie folgt:
"Merci de votre compréhension. Je serai plus disponible à l'automne..."
Daraus wird wohl nichts. Aber dennoch: Was ist diese Entscheidung der Schwedischen Akademie für ein Lichtstrahl am Ende eines komplizierten Jahres!
Die heutige Landtagswahl in Niedersachsen wird in Berlin als Test für die Ampelkoalition gedeutet und hat die Protagonistinnen der deutschen Politik mehr beschäftigt als angemessen wäre.
In meiner Jugend waren wichtige Landtagswahlen noch nationale Schicksalsstunden: Engholms Sieg in Schleswig-Holstein, Lafontaines Sieg in Saarbrücken, der Sieg der CDU in Hessen unter Wallmann waren historische Tage – in den Achtzigerjahren. Aber in unserer Welt? Die Wahlen in Brasilien wirken brisanter als die in Bremen und Brandenburg. Mir würde es schwerfallen, aus dem Stand die Namen der MinisterpräsidentInnen, regierenden und ersten BürgermeisterInnen aufzusagen. Die Welt ist größer geworden und zugleich zusammen gerückt: Heute sind die Wahlen in den einzelnen Nationalstaaten der EU wie die Landtagswahlen von einst, man verfolgt mit Spannung und Sorge die Entwicklung in Italien, in Frankreich und selbst, was in UK los ist wird in den sozialen Netzwerken aufmerksam verfolgt. Prime Minister Truss ist eine Figur der politischen Folklore geworden, fast schon Kult und aus ihren vielen Pannenvideos auch dem deutschen Publikum vertrauter als viele deutsche LandespolitikerInnen.
Es ist auch ein Problem der Medien: Wenn die Parteien, die die Bundesregierung stützen, derartig beschäftigt waren mit den Geschicken der Staatskanzlei in Hannover, dann weniger aus Sorge um die Lebensqualität in den norddeutschen Weiten, sondern darüber, wie Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen und Twitter es deuten werden. Wessen Farbe strahlt am hellsten aus der Ampel? Aber eigentlich ist es viel zu früh, um eine Bilanz der Koalition zu ziehen und die meisten Menschen haben andere Sorgen, als Politik als Pferderennen zu betrachten.
In diesen Tagen flatterte auch uns die Betriebskosten-Abschlagsrechnung der Vermieter ins Haus, eine Steigerung von 300 %, denn das Haus wird mit dem über viele Jahre so heftig beworbenen Erdgas versorgt. Viele geben der Bundesregierung oder Putin die Schuld, andere den Energiekonzernen, aber in Wahrheit ist es die kollektive Rechnung für aktives Verdrängen. Seit den Tagen von Hoimar von Ditfurth und Franz Alt kann man wissen, dass das Verbrennen von fossiler Emergie, um Wohnen, Mobilität und Industrie zu versorgen, keine gute oder dauerhafte Lösung ist. Aber Wegschauen war billiger und Geiz war geil. Die Mehrheit der Deutschen wünschten sich Ferien von der Geschichte und eine permanente Gegenwart. Da hilft auch kein Schimpfen auf Angela Merkel, so war einfach über viele Jahre die Stimmung: eine Welt wie aus Schokolade. Auch ich habe jetzt erst damit begonnen, die alten Fenster der Wohnung mit Schaumstoff abzudichten, fällig war das seit Jahren.
Fossile Regime wie sie in Moskau herrschen, in Teheran und Riad werden von wenigen Männern kontrolliert und sind eine Pest für die ganze Welt. Nun muss dieser umfassende Wandel in Angriff genommen, werden, am besten abgefedert durch ein neues Lastenausgleichsgesetz, und immer wieder eingerahmt durch deutliche und umfassende Kommunikation – also durch große Reden der Koalitionsspitzen und des Bundespräsidenten.
Sie sind verpeilt, gierig, gemein und hochkomisch: Die Figuren aus der deutsch-französischen Serie "Parlament" sind wieder da. Der Konsum der Episoden, die ab dem 24.10 auf der Mediathek des WDR zu sehen ist, macht paradoxerweise Lust auf den europäischen Politzirkus – auch wenn Christiane Paul leider nicht mehr dabei ist, bleibt diese Serie eine absolut vergnügliche Sache!
https://www.youtube.com/watch?v=W7c5rxGzZrQ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Ich war noch ein Schüler, als ich mit meinen Großeltern Marokko bereiste und eines der Gerichte von damals ist mir immer in Erinnerung geblieben: gefüllte Taube. Die hat unser Karstadt nur selten im Angebot und meine Jägerkünste sind begrenzt, also tut es auch ein feines Sonntagshuhn mit der passenden Füllung, die ich in diesem Rezept von Claudia Roden wiedergefunden habe:
https://www.theguardian.com/food/2022/sep/26/claudia-roden-recipe-for-roast-chicken-with-couscous-raisin-and-almond-stuffing (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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