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Im Landeanflug

Ende des Sommermärchens/Kérangal fährt Zug/ Serie Say Nothing/ Total Turkey

Von oben sehen Deutschland und sein geschäftiges Herz, der Frankfurter Flughafen, aus wie immer. Aber wenn man die Nachrichten aus so gut wie allen sozialen Subsystemen liest, stellt sich die Einsicht ein, dass ein innig geliebter Status zu Ende geht, jener der permanenten Gegenwart. Der Kölner Psychologe Stefan Grünewald prägte diese Formulierung für die lange Zeit unter Angela Merkel. Frieden und Prosperität nach Einheit und Agenda-Reformen schienen so wundervoll, dass die Bedingungen ihrer Aufrechterhaltung, die Requisiten und Kulissen dieser Illusion keinen Menschen ernsthaft interessierten. Kurz war die Freude gestört, weil der Euro in die amerikanische Krise hinein gezogen wurde, aber danach ging es weiter wie gewohnt. Es ließ sich gut leben mit einer robusten Autoindustrie und billigem Gas, mit chinesischen Kunden und amerikanischem Schutz. Es war auch eine Philosophie damit verbunden: Werte waren nicht so wichtig. Was Deutschland diesen Zustand der Glückseligkeit garantieren sollte, waren gemeinsame Interessen, nämlich am Geld: In den Kopf Putins kann man nicht schauen, lautete die Rechtfertigung, aber die vielen Milliarden für ihn persönlich, die werden ihn davon abhalten, die Beziehung zu Deutschland zu zerstören.Dabei hätte man es aus der Geschichte besser wissen können: Adolf Hitler, der immer arm war, wurde als Führer erst einmal reich. Aber das hielt ihn nicht davon ab, die Welt ins Unglück zu stürzen.

Es wäre klüger gewesen, von einem Primat der Kultur auszugehen. Klüger, auf Anna Politkowskaja und all die anderen AutorInnen und Autoren zu hören, die seit Jahren über das wahre Wesen des russischen Regimes geschrieben haben. Das gleiche gilt für das Ende des fossilen Zeitalters: dass das auch für Autos einmal kommen wird, kann nur jene überraschen, die nie Bruno Latour, Maja Goepel oder Franz Alt gelesen haben. Und die Kolonisierung der öffentlichen Meinung durch die Oligarchen der sozialen Medien wurde schon vor vielen Jahren unter anderem durch Frank Schirrmacher angekündigt. Trump und Musk sind wie aus seinem Bestseller “Ego” entsprungen: Immer gierig, immer rücksichtslos, immer misstrauisch.

Aber Bücher und ihre Botschaften verblassten hinter den satten Farben eines Landes, in dem das Sommermärchen nie endet. Viele Reiche wurden immens reich, der Rest kam klar. Und – es ist ein heikler Punkt – die kulturelle Produktion in Deutschland war auch schon mal brisanter. Das Symbol dieser aufgehobenen Zeit ist das Stadtschloss in Berlin. Man soll es übrigens gar nicht Schloss nennen, sondern Forum – ein riesiges Projekt, bei dem ein Detail vergessen wurde: über den Sinn der Sache nachzudenken.

Der beginnende Wahlkampf steuert dieser Tage recht klar auf eine große Koalition hin, mit Merz als Kanzler und Pistorius als sein Vize. Der Umgang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine ist das bestimmende Thema. Die dialektische, testende Herangehensweise des Kanzlers an die Ukraine Strategie kommt nur bei einer Minderheit gut an. Nun verfügt die ukrainische Armee über Panzer, Kampfflugzeuge, Drohnen und Raketen – aber warum musste man 1000 Tage damit warten? So eine Koalition könnte mit mehr Klarheit operieren und damit auch für mehr Sicherheit sorgen. Aber es sollte nur eine Übergangskoalition sein. Irgendwann könnte sich die liberale Linke aus den nationalen Schneckenhäusern herauswagen und endlich das tun, was das Kapital seit Jahrzehnten betreibt, sich international vernetzen.

Die kommenden Jahre werden nicht einfach, doch es ist alles vorhanden, um sich neu zu erfinden, neu aufzustellen in Deutschland. Aber erstmal nachdenken.

Es ist eine nur eine Zugfahrt, aber sie wäre heute nicht mehr möglich. Maylis de Kérangal beschreibt in ihrem neuen Buch eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn. Dort lernt Hélène einen russischen Soldaten kennen, der desertieren möchte. Auf der kurzen Distanz von 92 Seiten kombiniert Kérangal Reiseliteratur, Liebesgeschichte und Spannung eines Krimis. In Frankreich ist das Buch schon 2012 erschienen, da war Russland noch unser Partner. Das dem aber schon damals nicht so war, diese Ahnung beschleicht einen bei der Lektüre dieses scharf beobachteten und subtil komponierten Romans. Perfekt für Bahnreisen, macht sich aber auch an winterlichen Leseabenden gut!

Gute Serien reflektieren den Zeitgeist und da die Nachrichten voller schockierender Ereignisse und alptraumhafter Szenen sind, geht es auch bei Say Nothing gleich zur Sache. Die Geschichte dreht sich um die Aufarbeitung der Gewalt in der Provinz Ulster 1972. Es geht brutal zu, unfair und gnadenlos – eine historische Episode, die man am liebsten vergisst. Basierend auf einem Sachbuch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) eines Journalisten des New Yorkers wird hier noch mal aufklärerisch und nervenaufreibend dargestellt, was mitten in Europa möglich war. In rechten Diskursen geistert ja bisweilen die Vorstellung herum, hier in Europa habe die reinste Idylle geherrscht, bis Messermänner über das Mittelmeer kamen. In dieser Serie wird die Erinnerung aufgefrischt: Terror und Gewalt im Namen des Herrn sind ein ureigener Teil der europäischen Geschichte.

https://www.youtube.com/watch?v=ETo4hnxVFho (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

In meiner Jugend und im Studium schauten alle nach den USA. Zu Beginn der achtziger Jahre brachte mir mein Vater von einer Reise nach Boston ein rotes Skateboard mit und es wurde bestaunt wie eine Mondfähre. Viele Bücher und Filme waren von Interesse und alle, die ich kannte, wollten einmal hin. Heute fällt mir nichts ein, was ich gern von dort hätte und es gibt tausend Reiseziele, die mich eher interessieren. Ich vermute, ich schmolle immer noch wegen der Trump-Wahl. Aber ganz aufgeben werde ich die neue Welt natürlich nicht, allein schon wegen der genialen Thanksgiving-Rezepte

https://cooking.nytimes.com/68861692-nyt-cooking/278066-thanksgiving-turkey-recipes (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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