Zeitreisen
Vergangene Woche war ich in München, um über die Restaurierung der Synagoge in der Reichenbachstraße zu berichten. Rachel Salamander, die Autorin, Buchhändlerin und Heine-Preisträgerin führte mich herum. Sie leitet den Verein, der sich um eine Restaurierung des Baus bemüht. Ungefähr dort, wo auf dem Foto ihr iPhone liegt, war bis 2006 ein Schild mit ihrem Namen. (Unten am Tisch erkennt man ihre rote Jacke und die Tasche.) Sie ging schon als Kind hierhin um zu beten. Es war wie immer bei solchen Terminen: Man rast durch die Epochen wie die Figur eines Science-Fiction-Formats durch Löcher in der Zeit: Das Treppenhaus, 1931 entworfen, ist hell und voller Versprechen, die Schrecken sind jene der Nazizeit. 1970 gab es hier einen Anschlag der RAF. Seit 2006 steht der Bau leer – Welches Jahr ist heute?
Beim Hinausgehen erinnerten wir uns daran, dass ja in wenigen Minuten der Preisträger des Nobelpreises in Literatur vergeben wird. Wie alle KulturjournalistInnen der Welt hatte ich mich auf eine Reihe von Leuten kursorisch vorbereitet, es muss dann ja schnell gehen. Andere, wie Annie Ernaux, Haruki Murakami oder Salman Rushdie hätte ich mit Bordmitteln und freudigem Überschwang eingeräuchert. Aber es kam ja ganz anders. Wieder mal ein mir völlig unbekannter Autor. Einerseits freue ich mich darauf, etwas von Abdulrazak Gurnah zu lesen. Andererseits versuche ich erfolglos zu entziffern, welchem Plan die Jury in Stockholm folgt. Wer schon Mal in Jurys war, weiß dass man sich kollektiv verirren kann und mitunter Jahre braucht, um wieder hinaus zu finden. Vielleicht ist die Lösung ein Satz, den Rachel Salamander im Gespräch sagte: "Man unterstellt Ideologie, wo oft nur Chaos ist."
Ich komme zu solchen Terminen immer gnadenlos zu früh. Das gab mir die Gelegenheit, im Schaufenster einer benachbarten Mischboutique eine seltsame Art der Vergangenheitsaufbereitung zu entdecken:
Diese Firma nutzt altes Turngerät, um Taschen und anderes herzustellen. Sicher – vorbildliche Wiederverwertung guter Materialien. Aber ehrlich: Wer hat eine gute Erinnerung an die Sportstunden? Selbst Sportler, die im Verein glänzten, hassten den Schulsport. Die Umkleide, das alte Zeug, die Farben der Sportsachen - nichts daran war, wie mein Sohn sagen würde, nice. Es waren verpeilte Übungen in Formationsbewegung, die alle Kinder und sogar die Lehrer selbst nervten. Das einzig schöne an den Sportstunden war der Gong, der ihr Ende anzeigte. In der Oberstufe habe ich einen Kurs in Gymnastik belegt. Der war eigentlich den jungen Frauen vorbehalten, aber so genau stand das nirgends. Die Lehrerin ließ mich zähneknirschend in Ruhe auf der Bank sitzen. Schon zum nächsten Halbjahr stand allerdings die strenge Geschlechtertrennung im Plan: Nur für Mädchen. Musste ich eben wieder irgendeinen Ballsport wählen, wobei ich auch da die Bank nicht zu verlassen brauchte. Nette Lehrer. Aber ernsthaft jetzt: Zirkeltraining? Mir wäre jemand mit solch einer Tasche spontan verdächtig.
Es wird kälter und dunkler, die perfekte Zeit, um sich etwas zu kochen. In Deutschland ist nicht alles gut, aber Vincent Klink (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und sein Restaurant die Wielandshöhe (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in Stuttgart sind es. Ein Familienbetrieb und ein magischer Ort, von außen kaum zu erkennen, liegt es strahlend weiß über den Hügeln von Stuttgart. Man meint, vom Tisch aus bis zum Bodensee und noch weiter, über die Alpen und zum Mittelmeer schauen zu können. In der Küche arbeiten ehemalige Flüchtlinge – aus fernen Ländern oder garstigen akademischen Berufen. Sogar eine ehemalige evangelische Pfarrerin war dort mal für den Fisch zuständig. Ein besonderer Ort. Klink ist auch ein großer Erzähler, Autor, Musiker und Nachdenker. Auf seiner Website veröffentlicht er sein Tagebuch und Rezepte. Heute empfehle ich jenes zum Huhn im Topf (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre):
https://www.wielandshoehe.de/recipes/huhn-im-topf/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: In der kommenden Woche sind Herbstferien und ich muss noch die finalen Seiten meines Romans schreiben, darum mache ich hier einen Sonntag Pause.