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NEUNERs #008

Gerade sitze ich bei einer sonntĂ€glichen Nachbetrachtung zur Sicherheitskonferenz (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre) MSC im Presseclub MĂŒnchen. Parallel zur Konferenz lief in der politischen Akademie Tutzing der dreitĂ€gige „Werkraum Demokratie 2025“, der heute Vormittag mehrere Stunden live im Radio ĂŒbertragen wurde und nachgehört (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre) werden kann.

Hat es angesichts der ganzen UmwĂ€lzungen Sinn, sich um das Funktionieren und die Fertigkeiten der liberalen Demokratie zu kĂŒmmern, oder ist das „rearranging deckchairs on the Titanic“? Ich finde es unerlĂ€sslich, gerade weil das „Betriebssystem“ unter Druck ist und darĂŒber hinaus in einer beginnenden neuen Weltordnung enorm herausgefordert wird. Deshalb sind diese beiden Events nebeneinander so passend.

Nach der mit Vorhaltungen und VorwĂŒrfen nur so gespickten Rede (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre) von US-VizeprĂ€sident JD Vance auf der MĂŒnchner Sicherheitskonferenz am Freitag Nachmittag zeigen sich viele erneut geschockt. Die Reaktionen (auch meine eigenen) auf die ganzen Aktionen und AnkĂŒndigungen von Trump und Co irritieren mich. Denn so richtig nachvollziehbar ist ja nicht, was man nach den letzten Monaten erwartet hat: Etwas, das uns vernĂŒnftig vorkommt?

„Die Bedrohung, die mich in Bezug auf Europa jedoch am meisten besorgt, ist nicht Russland, nicht China, nicht irgendein anderer externer Akteur. Was mich besorgt, ist die Bedrohung von innen. Der RĂŒckzug Europas von einigen seiner grundlegendsten Werte, Werte, die es mit den Vereinigten Staaten von Amerika teilt. (
) FĂŒr viele von uns auf der anderen Seite des Atlantiks sieht es zunehmend so aus, als wĂŒrden alte, etablierte Interessen sich hinter hĂ€sslichen, sowjetisch anmutenden Begriffen wie „Fehlinformation“ und „Desinformation“ verstecken, weil sie einfach nicht ertragen können, dass jemand mit einer alternativen Sichtweise eine andere Meinung Ă€ußert, geschweige denn anders wĂ€hlt oder – Gott bewahre – eine Wahl gewinnt.“

Empörung, UnverstĂ€ndnis und natĂŒrlich ZurĂŒckweisung. „Irritiert“ (Scholz) zeigt man sich. „Übergriffig“ (Merz) empfinde man das. Wie können die nur? Man solle sich um den „eigenen Kram“ (Habeck) kĂŒmmern. „Das ist nicht akzeptabel“ (Pistorius). Vance habe unter der Überschrift „The U.S. in the World“ ja fast nicht ĂŒber Sicherheitspolitik gesprochen, sondern ĂŒber das europĂ€ische DemokratieverstĂ€ndnis geschimpft und nichts von dem gerade gerĂŒckt, was die Tage zuvor von Verteidigungsminister Pete Hegseth zur Ukraine kam. Insgesamt sei das alles nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch irrational und widersinnig. Aiwanger sagt, er verstehe die Kritik an der Rede nicht. Aber vielleicht versteht er auch die Kritik in der Rede nicht. Von einer „famosen Rede pro Meinungsfreiheit“ schreibt hingegen Cicero. Nachvollziehbar, wenn man sie als gezielte Instrumentalisierung dem Kulturkampf und der StĂ€rkung der Populisten zurechnet.

Am Freitag kommt Albrecht von Lucke zur Livesendung Studio 9 (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre) mit Korbinian Frenzel (fast) zu spĂ€t und ist in den ersten Minuten ganz außer Atem. Seine Aufregung legt sich jedoch auch wĂ€hrend der Sendung kaum. Vance hat zu diesem Zeitpunkt in MĂŒnchen noch nicht einmal die BĂŒhne betreten. Man könne angesichts der massiven VerĂ€nderungen nicht so einfach ĂŒber die Botschaften der US-Regierung hinweg- und zur Tagesordnung ĂŒbergehen. Lucke ist empört, vor allem ĂŒber diejenigen, die nicht verstehen wollten, was da gerade passiere. Man könne doch nicht einfach darĂŒber hinwegreden: Trump habe eine Preisgabe Europas zum Ausdruck gebracht. Lucke-Sound: „in einer BrutalitĂ€t sondergleichen“. Das sei eine so grundsĂ€tzliche ZĂ€sur, die mĂŒsse man sich erst einmal bewusst machen. Ein fundamentaler Wechsel in der Weltordnung, ihrer regelbasierten Prinzipien, der globalen (liberalen) Wertegemeinschaft, der transatlantischen BrĂŒcke.

Ein „riesiges Geschenk der USA fĂŒr Russland und China“ sei das in MĂŒnchen gewesen, sagt heute zusammenfassend Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy Institutes. Er habe in den letzten Tagen nicht nur einmal gehört, dass sich Europa nun an China wenden mĂŒsse, da die USA als verlĂ€sslicher Partner wegfielen. Bedauerlich sei, dass Europa sich nicht besser vorbereitet habe, angesichts einer „vollkommen legitimen Forderung“ der USA, dass sich Europa selbst um die eigene konventionelle Verteidigung kĂŒmmern mĂŒsse. Vielmehr habe man sich in Deutschland „den Luxus erlaubt, eine Regierung zu sprengen“ an dem Tag, an dem Trump gewĂ€hlt wurde. Den Preis dafĂŒr zahle man heute.

„Warum haben die Amis uns beleidigt?“, sei einfach nicht die richtige Frage, so Jeffrey Rathke vom American-German Institute an der Johns Hopkins University in Washington. Es gehe fĂŒr Europa um mehr und anderes. „Hilflosigkeit“ sei fĂŒr Europa jedoch auch nicht angebracht. Man könne den Kurs der us-amerikanischen Außenpolitik weiter beeinflussen, wenn man was auf den Tisch lege.

„Wenn wir von 'rationalem Verhalten' oder 'irrationalem Verhalten' sprechen, so meinen wir damit ein Verhalten, das der Logik der Situation entspricht oder nicht.“

Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten - Hegel, Marx und die Folgen

In diesem Sinne folgt das jeweilige Verhalten der RationalitĂ€t des Handelnden. Die Frage ist nicht, ob das Verhalten von außen betrachtet vernunftwidrig, verstĂ€ndlich und widersprĂŒchlich ist, sondern ob es sinnvoll ist mit Blick auf dessen Einstellungen, Annahmen und Bedingungen. Umso mehr man bei anderen irrationales Handeln erkennen und andere pathologisieren möchte, desto eher könnte das daran liegen, dass man deren Grundlagen und Interessen (ihrer lokalen RationalitĂ€t) nicht kennt oder verstanden hat.

Wenn man versuchsweise diese Brille anzieht, ist die nÀchste Frage, welchen Hintergrund die Allianz der neuen US-Administration mit den Big Tech Leuten hat, die gerade laufend in Erscheinung tritt. Im Holzschnitt:

In der Kosten-Nutzen-Analyse von Trump und Vance geht es um Machtgewinn und PopularitĂ€t. Sie nutzen die Kritik an der BĂŒrokratie, um sich als „Anti-Establishment“ zu inszenieren. Sie prĂ€sentieren den Abbau staatlicher Strukturen und Ausgaben als Mittel, um die „Interessen des Volkes“ gegen „ineffiziente Eliten“ durchzusetzen, was ihnen kurzfristig Zustimmung beschert. Gerade dann, wenn eine globale Dynamik auf bestehende Instrumente und Modelle trifft, mit denen sie zum Teil nicht mehr beherrschbar oder handelbar ist, und sich verbindet mit hohem Frustrationsgrad und Verunsicherungen in der Bevölkerung. Staatliche Strukturen, demokratische Verfahren und Checks and Balances der Gewaltenteilung werden als Hindernis fĂŒr notwendige, schnelle Entscheidungen in einer „Herrschaft der Mehrheit“ dargestellt. Vom Abbau dieser Strukturen versprechen sich die Politikunternehmer, „notwendige“ politischen Maßnahmen zentralisiert und ohne langwierige Prozesse durchzusetzen. Der Schutz ihrer persönlichen Interessen mag hinzu kommen.

Die Kosten-Nutzen-Analyse der Big-Tech-MilliardĂ€rezielt auf deren GeschĂ€ftsmodell, ihre wirtschaftliche Effizienz. Unternehmer wie Elon Musk identifizieren BĂŒrokratie als Hindernis fĂŒr Innovationen und Wachstum. Der Abbau regulatorischer HĂŒrden wird als Möglichkeit angesehen, schneller neue Technologien und Produkte einzufĂŒhren und (global) MĂ€rkte zu dominieren. Besonders relevant ist dabei die Reduzierung von Kontrollmechanismen: Weniger BĂŒrokratie bedeutet weniger staatliche Kontrolle ĂŒber das Unternehmen und seine GeschĂ€ftsmodelle. Gerade in Branchen wie der Tech-Industrie ist das entscheidend fĂŒr den Erfolg und die Skalierung.

Mit diesen Interessen verbinden sich (zumindest derzeit) beide Gruppen zu einer Achse der „Disruption (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)“ aka radikaler Abbau, mindestens aber Ablösung. FĂŒr die einen ist sie ein Ansatz, um bestehende Machtstrukturen zu destabilisieren und ihre eigene Position zu stĂ€rken. FĂŒr die anderen ist sie eine Möglichkeit, traditionelle MĂ€rkte und staatliche Regulierungen zu umgehen, um Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Die Disruption von BĂŒrokratie und Demokratie (siehe den 3Sat Beitrag von Cornelius Janzen) erscheint demnach in den Kosten-Nutzen-Analysen fĂŒr beide Gruppen rational, da sie kurzfristige Gewinne (Dominanz durch PopularitĂ€t und wirtschaftliche Vorteile) maximiert. Langfristige Risiken wie InstabilitĂ€t oder der Verlust rechtsstaatlicher Prinzipien werden dabei ignoriert oder gar bewusst in Kauf genommen. Ob disruptive AnsĂ€tze ĂŒberhaupt geeignet sind, die anstehenden Probleme zu lösen und welche neuen sie schaffen, ist offen.

https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/durchgefegt-trump-und-der-grosse-staatsabbau-100.html (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)

Dieses VerstĂ€ndnis macht das Ganze zwar nicht besser. Aber die eigene Irritation und die hohen, Ressourcen bindenden (Aufmerksamkeits-) Kosten können vielleicht etwas niedriger gehalten werden. Empören darf man sich natĂŒrlich trotzdem.

Marc Saxer verbindet anlĂ€sslich der jĂŒngsten Reaktionen europĂ€ischer Politik die innenpolitische Dimension der USA mit der „geopolitischen Lesart“ einer neuen Weltordnung und schreibt angesichts „zweier radikal unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen im Äußeren und Inneren“:

„Statt zu beklagen, wie verrĂŒckt, korrupt, unanstĂ€ndig usw. Trump, Musk, Vance, Hegseth usf. sind, mĂŒssen die EuropĂ€er verstehen, was auf dem Spiel steht, und ihr rasant schwindendes Gewicht einsetzen, um ihre Interessen zu wahren. Denn eins ist klar: wir sind lĂ€ngst in die nĂ€chste Epoche der Weltgeschichte eingetreten, und drohen unter die RĂ€der zu kommen, wenn wir nicht schnell verstehen, wie sie funktioniert.“

Marc Saxer

Es lohnt sich, den ganzen Beitrag (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre) zu lesen.

Empfehlungen

Der politische Betrieb kommt in der Gegenwartsliteratur eher selten vor. Hier vier Romane, die in vier verschiedenen Jahrzehnten spielen.

  1. Das Original (in den 1950er Jahren)

Wolfgang Koeppen - Das Treibhaus (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)

Der idealistische SPD-Bundestagsabgeordnete Keetenheuve, nach dem Ende des Dritten Reichs aus dem Exil zurĂŒckkehrt, engagiert sich in den frĂŒhen 1950er Jahren leidenschaftlich gegen die Wiederbewaffnung. Die alten Eliten sind wieder da. Wahlkampf, Diplomatie und Opportunismus in der Adenauer-Zeit - durch die Machtstrukturen und Instrumentalisierung im „Treibhaus“ wird er zunehmend desillusioniert.

  1. Die Variante (in den 2020er Jahren)

Christoph Peters - Der Sandkasten (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)

„Meisterhaft umgesetzt scheint (Schröder) Peters' im Coronajahr 2020 angesiedelte Beschreibung des Berliner Politikbetriebs und Medienzirkus durch die Augen des mittelalten, als scharfzĂŒngiger Radiomoderator begannt gewordenen Familienvaters Kurt SiebenstĂ€dter, der mittlerweile als ReaktionĂ€r betrachtet wird. (
) wie Peters nun Berlins "erregte Erschöpfung" in einem "kalkuliert nervtötenden" Strom beschreibt, in dem sĂ€mtliche Gegenwartsschlagwörter (Trump, Querdenker) und -Persönlichkeiten (Lindner, Drosten) zusammencollagiert werden, findet der Kritiker höchst effektvoll und erzĂ€hltechnisch versiert.“ (Perlentaucher (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre) nimmt die SZ-Kritik (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre) von Christoph Schröder auf)

  1. Der Krimi (Anfang der 1990er Jahre)

Wolfgang Schorlau - Die blaue Liste: Denglers erster Fall (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)

Ganz so drin im Politikbetrieb ist der Krimi nicht. „Privatdetektiv Georg Dengler, frĂŒher Zielfahnder beim BKA, nimmt einen scheinbar einfachen Fall an: Die Freundin eines Anrufers möchte wissen, warum ihr Vater vor zwölf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, obwohl er sie zuvor angerufen hatte und sagte, er habe die Maschine verpasst. Doch als Dengler beginnt nachzuforschen, stĂ¶ĂŸt er auf Verbindungen zu brisanten Ereignissen der deutschen Wendezeit. Der Vermisste war Mitarbeiter der Treuhand und Verfasser der »Blauen Liste« – eines Dokuments, das der Deutschen Vereinigung einen völlig anderen Weg wies. Je tiefer Dengler grĂ€bt, desto gefĂ€hrlicher wird es fĂŒr ihn. Denn der Fall fĂŒhrt zurĂŒck zum Attentat auf den Treuhand-PrĂ€sidenten Rohwedder, zur RAF und zum mysteriösen Tod von Wolfgang Grams. Kann Dengler die Wahrheit aufdecken, bevor es zu spĂ€t ist?“ (Klappentext)

  1. Der Persönliche (in den 2010er Jahren)

Ulf Erdmann Ziegler - Eine andere Epoche (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)

„Hier ĂŒberkreuzen sich Karrierismus und Idealismus, Neid und VerĂ€nderungswille. Im Mittelpunkt steht der vierzigjĂ€hrige Wegman Frost, der das BĂŒro des Bundestagsabgeordneten Andi Nair leitet, der Romanfigur, die dem Vorbild Edathys nachempfunden ist. Wegman bezeichnet sich selbst als „Indianer“, weil er der Sohn einer deutschen Mutter und eines Native American ist. An den Vater hat er nur unscharfe Erinnerungen, die Mutter hat ihn als Kind bei ihrem Bruder abgesetzt, sodass Wegman beim Onkel in der niedersĂ€chsischen Provinz in BĂŒckeburg aufwuchs. Dort war er mit dem aus Vietnam geretteten Florian Janssen befreundet – der Rösler-Figur des Romans – mit dem ihn die ungewisse Herkunft und die Fremdheit in der Kindheitslandschaft verbindet. Wenn die beiden sich dann in Berlin wiederbegegnen, sind aus ihnen politische Antipoden geworden.“ (Jörg Magenau, Deutschlandfunk Kultur (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre))

ErwĂ€hnt werden muss natĂŒrlich „Monrepos: oder Die KĂ€lte der Macht (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)“ von Manfred Zach. Ein SchlĂŒsselroman ĂŒber die baden-wĂŒrttembergische Landespolitik unter Filbinger und SpĂ€th.

Nicht ĂŒberzeugend: „Geheimnisse, LĂŒgen und andere WĂ€hrungen: Ein Ministeriums-Krimi (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre)“ von Wolfgang Ainetter, ehemals Nachrichtenchef von BILD und Ex-Sprecher des Bundesverkehrsministeriums (unter Andreas Scheuer). Er sagt, das sei kein SchlĂŒsselroman.

Pizza in Berlin

Zwei Vertreter unterschiedlicher Pizzaschulen in Berlin-Mitte:

„Neapolitanisch“ im Capvin (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre). 9/10.

„New York Style“ in der Slice Society (S'ouvre dans une nouvelle fenĂȘtre). 7,5/10.

Outro

Danke fĂŒr den Restanstand.

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