Kunstkontroverse am St. Lamberti-Kirchturm
Himmelsleiter vs. Irrlichter
Die Rückkehr der Himmelsleiter der Wiener Künstlerin Billi Thanner nach Münster bewegt zweifellos viele Menschen, wenn auch nicht alle gleichermaßen. Jeder Betrachter hat die Freiheit, diese Installation entweder als Kunstwerk oder vielleicht eher als PopArt zu betrachten. Seit ihrer Wiederkehr bis ins Frühjahr 2026 häufen sich jedoch die Vorwürfe, dass die hell leuchtende Himmelsleiter abends die bewusst weniger strahlende Installation „Irrlichter" von Lothar Baumgarten visuell überlagert. Baumgartens Werk besteht aus drei 15-Watt-Glühbirnen, die in den Eisenkäfigen des Kirchturms angebracht sind. Diese Käfige dienten in der Johannisnacht des Jahres 1535 dazu, die Leichname der gefolterten Anführer der Wiedertäufer-Bewegung – Jan van Leiden, Heinrich Krechting und Bernd Knipperdollinck – zur Abschreckung zur Schau zu stellen. Die Irrlichter entstanden im Rahmen der SkulpturProjekte 1987.
Katherina H. (Name von der Red. geändert) bringt ihre Kritik plakativ zum Ausdruck: „Die - wie ich finde - künstlerisch profane Himmelsleiter ist leider zurück, verkitscht den Turm der Lambertikirche und ignoriert, dass an diesem Kirchturm bereits ein Kunstwerk hängt: Die drei Irrlichter von Lothar Baumgarten. Diese leuchten seit der Skulptur 1987 jede Nacht in den Eisenkörben. Die Leiter kann von mir aus auf sich selbst hinaufsteigen und im Himmel verschwinden." Ähnlich kritisch äußert sich Helmut Buntjer: „Wenn Herr Baumgarten noch leben würde (er verstarb im Dezember 2018 in Berlin), vermute ich, er würde eingegriffen haben. Außerdem finde ich, dass die Leiter das Gesamtbild der Kirche und die Schönheit der Architektur vor allem nachts erheblich beeinträchtigt."
Auf die Vorwürfe angesprochen, würde Billi Thanner diese und ähnliche Stimmen wahrscheinlich der Gruppe der „Wir-sagen-was-Kunst-ist"-Gruppierungen zuordnen, die sich anmaßen, zu bestimmen, was Kunst ist. Sie ist der Meinung, dass ihr Kunstwerk " nicht nach den üblichen Regeln bewertet werden kann". Die Kritik an einer möglichen Verdrängung der „Irrlichter" erscheint ihr "nicht nachvollziehbar, insbesondere im historischen Kontext des Prinzipalmarktes und der Wiedertäufer-Käfige". Die entscheidende Frage bleibt jedoch: Welche Rolle sollte Kunst im öffentlichen Raum spielen? Soll sie bestehende Werke respektieren und sich unterordnen oder darf sie provozieren, ergänzen und neue Perspektiven eröffnen?
Im Idealfall sollte die Himmelsleiter dazu anregen, über die Wechselwirkungen zwischen Kunst, Geschichte und Raum nachzudenken, ohne Baumgartens Werk zu „überstimmen". Solange das Bewusstsein für diese Balance gewahrt bleibt, könnte die Kritik als eine produktive Debatte betrachtet werden. Thanner hofft, dass Baumgartens Irrlichter und ihre Himmelsleiter nicht einfach miteinander verglichen werden können. Die „Irrlichter" sind tief in der historischen und symbolischen Bedeutung der Wiedertäufer-Käfige verwurzelt. Thanner erklärt: Baumgarten schuf ein Werk, das nicht nur ästhetisch wirkt, sondern auch durch subtile Lichtinszenierungen den historischen Raum der Stadt Münster auflädt." Im Gegensatz dazu stellen die Himmelsleiter ein völlig anderes künstlerisches Statement dar: Sie greifen auf den ersten Blick weniger subtil in den Raum ein, während die „Irrlichter" ein Werk der Reflexion und Leichtigkeit bleiben, während die Himmelsleiter eine dynamische, vielleicht sogar aufstrebende Dimension hinzufügen.
Viele Bewohner Münsters wünschten sich die Wiederinstallation der Himmelsleiter nach den Olympischen Spielen in Paris, wie Thanner feststellt. Dies zeigt, dass das Werk bereits eine starke Resonanz in der Bevölkerung gefunden hat. Dies spreche, so Thanner, für die Qualität der Himmelsleiter als Kunstwerk, das nicht nur polarisiert, sondern auch einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Hans-Bernd Köppen, Dompropst am Paulusdom und Pfarrer von Sankt Lamberti in Münster, freut sich über die „wunderbare Diskussion über Kunst im öffentlichen Raum". Auch in den Gremien der Gemeinde wurde ausführlich diskutiert und nicht immer einstimmig abgestimmt. Letztendlich war ausschlaggebend für die Wiederinstallation der Himmelsleiter, „die Menschen, die von diesem Kunstwerk berührt wurden und die ihre sehr persönlichen Eindrücke mit uns geteilt haben, über die positive Wirkung der Leiter auf sie". Viele dieser Menschen äußern sich nicht öffentlich dazu. Wenn einige die Leiter als profanes Kunstwerk betrachten, so ist das auch eine interessante Rückmeldung. In und an der Lambertikirche befinden sich viele Kunstwerke nebeneinander, die Ausdruck eines lebendigen Bauwerks sind.
Köppen persönlich schätzt die Skulptur von Lothar Baumgarten sehr. Für ihn ist sie „eine eindrückliche Warnung vor Fanatismus und fanatischen Positionen im politischen und religiösen Diskurs". Rückblickend gibt er zu, dass die Irrlichter „während der ersten Periode der Leiter (leider) kaum zu sehen waren, da die Glühbirnen defekt waren und die zuständigen Kunststellen monatelang nicht reagierten. Unbestritten ist, dass der Kirchturm an sich ein wichtiges Kunstwerk ist, dessen Wirkung durch Lichtkunst jeglicher Art verändert wird.
Die Thematik wurde im Pfarreirat und im Kirchenvorstand ausführlich diskutiert. Köppen erklärt: „Darum waren wir in den Gremien auch sehr damit einverstanden, dass die Leiter nicht das ganze Jahr leuchtet und ein befristetes Projekt ist." Die Fragen, was Kunst im öffentlichen Raum ausmacht, wer die Definitionshoheit hat und wer entscheidet, was Kitsch und was Kunst ist, verdienen eine sachliche und faire Diskussion, so der ehemalige Studentenpfarrer.
Ursel Schwanekamp wird oft als diejenige genannt, die die Himmelsleiter in Wien entdeckt und beschlossen hat, sie nach Münster an „ihre" Lambertikirche zu bringen, wo sie als Pastoralreferentin tätig ist. In der Himmelsleiter sieht sie nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch etwas, das Gemeinschaft stiftet und Trost spendet. Sie betont, dass der Anblick der Leiter vielen Menschen einfach guttut. Eine schwer erkrankte Patientin aus der Raphaelsklinik habe ihr geschrieben, dass der Anblick der Leiter ihr Trost spende. Das Motiv der Himmelsleiter wird auch auf Trauerzetteln und in Todesanzeigen als Ausdruck der Hoffnung und der Verbindung genutzt.
Die Himmelsleiter sei offen für Interpretationen und bringt daher viele Menschen zusammen, was gerade in diesen Zeiten eine wichtige Funktion hat. Dennoch befürwortet auch Schwanekamp, dass die Himmelsleiter phasenweise ausgeschaltet wird. „Das finde ich einen richtig guten Kompromiss."
Frank Biermann
Bild: Der Lamberti-Kirchturm mit der Himmelsleiter und den Irrlichtern in den Eisenkörben. Foto: Frank Biermann