Polizei wegen Puppe - über Privilegien, Armut und Dankbarkeitszwang
"Wenn ihr in fünf Minuten nicht verschwunden seid, rufe ich die Polizei!“ So wurden meine Familie und ich aus einer Flüchtlingsunterkunft in Nordmazedonien geworfen, weil meine fünfjährige Schwester eine neue Puppe hatte.
Von 1991 bis 1995 war in Bosnien Krieg. Als der Völkermord in meiner Stadt anfing, schrieb mein Vater einen falschen Namen an unsere Wohnungstür. Doch die serbischen Paramilitärs wussten, wo muslimische Familien lebten. Zwei Stunden, nachdem wir unsere Stadt verlassen hatten, sind sie auch zu uns gekommen. Wir sind also nur knapp dem Tod entkommen. Da Männer aus den Flüchtlingsbussen gezogen und erschossen wurden, musste mein Vater in Bosnien bleiben. Als unsere Flucht begann, war ich ein Baby, deshalb musste mich meine Mutter quer durch Europa tragen, zusammen mit unserem einzigen Koffer.
Während wir in Mazedonien waren, verletzte sich meine Schwester und hatte tagelang Schmerzen. Um sie zu trösten, kaufte ihr meine Mutter eine Puppe. Die Eigentümerin der Wohnung, in der wir untergebracht waren, dachte aber, dass Flüchtlinge vom Minimum leben sollen: gerade genug essen, um zu überleben, wohnen, wo auch immer man sie hinsteckt und sich nie beschweren. Die Puppe war für sie ein Zeichen, dass wir zu viel Freiheit hatten. Wir wurden auf die Straße gesetzt.
Ein albanischer Mann spendete uns 200 Mark. Doch er war selbst arm und hatte eine schwer erkrankte Tochter, also gab meine Mutter das Geld am nächsten Tag zurück.
Denn wir wussten nicht, wer das Geld dringender braucht.
Deshalb kamen wir mit nur 50 D-Mark in Deutschland an. Als wir im Müll Winterkleidung suchten, wurden wir weggejagt um die Nachbarn nicht zu stören. Obwohl die meisten Menschen in unserem kleinen Ort in NRW gutherzige Helden waren, die uns sehr, sehr viel geholfen haben, merkten wir schnell, dass es auch hier Menschen gab, die uns nicht mehr als das Minimum gönnten. Manche beschwerten sich, dass wir ab und zu frische Brötchen kauften oder dass meine Mutter einmal neue Hausschuhe hatte.
Doch schon als Kind war mir klar, dass wir unter größeren Freiheitsbeschränkungen litten. Ich wusste, dass wir Ausländer sind und dass wir „raus“ sollen, aber ich wusste nicht, warum oder wohin. Manchmal wurden wir vor Menschen mit Glatzen gewarnt, die vor unserem Container rumstanden. Uns wurde geraten, in der Öffentlichkeit nicht miteinander zu reden, damit diese Menschen nicht merken, dass wir keine Deutschen sind.
Wir machten uns Sorgen, wenn sich unsere Familie aus der Kriegszone nicht meldete und noch mehr, wenn sie sich meldeten, immer mit schrecklichen Neuigkeiten über Getötete oder Verwundete. Welche Last Flüchtlinge in ihren Köpfen mit sich herumtragen kann niemand verstehen, wer es nicht selbst durchgemacht hat.
Woher wollen wir wissen, was Handys, Puppen oder neue Kleidung für Flüchtlinge und arme Menschen bedeuten?
Neulich habe ich zwei Frauen in der U-Bahn über einen Syrer reden hören. Warum er ein Handy habe, wenn er doch Flüchtling ist. Daran, dass das Handy seine einzige Verbindung zu seiner Familie sein könnte, dachten die Frauen nicht. Auch Flüchtlinge möchten leben, nicht nur überleben. Je weniger Freiheit man hat, desto wertvoller wird sie. Wenn man fast keine Freiheit hat, dann kämpft man für jedes noch so kleine Stückchen, das man bekommen kann. Auch deshalb haben Flüchtlinge Handys. Deshalb kämpfen sie für das Recht zu studieren, zu arbeiten oder einfach in Deutschland zu leben. Und deshalb kauft eine alleinerziehende Mutter eine Puppe für ihre Tochter, statt Essen für sich selbst.
Natürlich sind die meisten Menschen, auch die meisten Flüchtlinge, dankbar für Unterstützung. Doch wer unterwürfige Dankbarkeit erwartet, oder fordert, dass Dankbarkeit nach den eigenen Regeln ausgedrückt wird, statt so, wie es die unterstützten Menschen für richtig halten - der sollte reflektieren, warum er hilft - und ob er das überhaupt tut.
Das gleiche gilt für in Armut lebende Menschen: lasst doch bitte eure Hartz IV-empfangende Nachbarin in Ruhe, auch wenn sie neue Klamotten hat. Wir können nie wissen, ob Menschen gerade seelische Krisen durchmachen und sich durch etwas "Luxus" kurz wieder menschlisch fühlen möchten.
Sobald der Krieg vorbei war, mussten wir "zurück" nach Bosnien. Wir konnten nicht in unsere Stadt, da dort alle Muslime ermordet oder vertrieben wurden. Wirklich jeder einzelne. Auch heute können wir nicht zurück und erst vor einigen Tagen wurde wieder auf die einzige wiedererbaute Moschee der Stadt geschossen.
Deshalb zogen wir ins mir unbekannte Sarajevo. Alles zerstört, Leichen auf der Straße, kein Wasser, kein Strom, Plastikfolie von der UNO-Flüchtlingshilfe über die zerbombten Fenster geklebt. Jeden Tag schaute ich non-stop deutsche Kinderserien um zu vergessen, wo ich bin.
Und falls wir Flüchtlinge und Marginalisierte nach all dem erlebten wagen, Privilegien zu erwähnen, halten uns viele für undankbare, verbitterte Extremisten, die „Opfer spielen“. In Bosnien sagt man dazu: der Satte glaubt dem Hungrigen nicht.