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Rubbellose in Minden

Wie mich das 9-Euro-Ticket radikalisiert hat

Ich bin am Wochenende insgesamt 15 Stunden mit dem ÖPNV durch Deutschland gefahren, um in Hamburg ein Stück Käse zu essen und hatte unterwegs eine verkehrspolitische Erleuchtung. Hier ist das Ergebnis.

(Köln, Hauptbahnhof - Start- und Endpunkt der Tour. Dazwischen liegen rund 900 Kilometer Bahnstrecke und 200 Gramm Rohmilchkäse

Als ich zum ersten Mal vom 9-Euro-Ticket hörte, fand ich die Idee so spektakulär gut, dass ich sofort fragte: "Spannend, und in welchem skandinavischen Land soll das jetzt eingeführt werden?" Man kann es doch wirklich kaum glauben: Eine Initiative, die Millionen Menschen völlig ohne Umwege und Haken und Hintertürchen eine spürbare Erleichterung bringt und - für Deutschland am ungewöhnlichsten - den Schwerpunkt weder auf Autos noch Schnitzel legt, sondern auf den öffentlichen Nahverkehr. Ja sind denn jetzt alle bekloppt geworden? 

Erschreckend gute Idee

Eben weil ich die Idee so gut fand, habe ich mir direkt im Juni ein Ticket gekauft, kam aber gar nicht dazu, es zu nutzen. Trotzdem bestellte ich mir im Juli ein Neues, einfach nur, weil ich wollte, dass die Idee der verdiente Riesenerfolg wird. Und weil ich will, dass Christian Lindner und Co. sich ärgern, weil diese zutiefst uneffdeepeeige Idee einfach funktioniert und Millionen Menschen hilft, während man den von Anfang an schlampig geplanten und stümperhaft umgesetzten Tankrabatt selbst unter eingefleischten Lass-den-Markt-mal-Reglern mittlerweile ein bisschen peinlich berührt wegschweigt.

Was mir noch fehlte, war eine Möglichkeit, das Ticket auch mal zu nutzen. Dann erzählte mir ein Bekannter aus Hamburg, dass es bei ihm ums Eck einen legendären Käseladen mit den wildesten Sorten aus ganz Europa gibt, in dem sich die Leute einfach eine Platte zusammenstellen und das Ganze dann mit einem Glas Wein direkt vor dem Laden verzehren. Na und da dieser Bekannte  demnächst wegzieht und deshalb eine gewisse Eile geboten war, dachte ich: Da isse doch, die Möglichkeit. Wenn ich Glück habe, ärgert sich der Lindner dann noch ein bisschen mehr,  weil ich "ÖPNV-Kapazitäten unnötig nutze" (Originalzitat des Mannes, der erst jetzt am Wochenende Kirchenkapazitäten unnötig genutzt hat).

Ich suchte also nach einer Verbindung. Sechs Stunden von Köln nach Hamburg, zwei Stunden mehr als mit dem ICE und mit dreimal umsteigen. Da kommt man schon ins Grübeln, ob es denn wirklich die Regionalbahn sein muss. Andererseits: Ich habe es bei meinen letzten Fernverkehrs-Bahnreisen eigentlich nie geschafft, zum vorgesehen Zeitpunkt anzukommen. Bahnreisen, das war in den letzten Jahren immer so ein bisschen Andi-Scheuer-Katastrophen-Tourismus: Man sitzt und sitzt und kann live bewundern, was im CSU-geführten Verkehrsministerium in den letzten Jahrzehnten so alles verkackt wurde. Zwei Stunden liegen da schon eher im Verspätungs-Mittelfeld. Warum also nicht dieselbe Strecke in (voraussichtlich) derselben Zeit mit Nahverkehrszügen zurücklegen? Ja, die Umstiege sind nervig, aber auch das kriegt man doch irgendwie hin.

Drei wichtige Erkenntnisse

Zurückblickend kann ich sagen: Ja, kriegt man alles hin. Ein paar Dinge habe ich trotzdem gelernt.

1. Es ist wirklich wahnsinnig voll.
Der Bekannte aus Hamburg meinte zwar, dass es freitags am Hamburger Hauptbahnhof immer zuginge, wie in einem Wackener Moshpit, aber das hier hatte schon nochmal ne andere Qualität. Das wurde mir schon beim Start in Köln klar, als zwei Minuten vor dem Einrollen des Zuges der Bahnsteig geändert wurde und die ganze schwer bepackte Horde der Fahrgäste treppab, treppauf zum neuen Gleis stolperte. Die schiere Masse an Menschen drückt leider vielen auch aufs Gemüt. O-Ton zweier älterer Herren am Gleis:
"Machen Sie sofort die Tür frei!"
"Ich warte auf meinen Kumpel, der kann nicht so schnell."
"Leute wie Sie sind schuld, dass die Deutsche Bahn immer Verspätung hat!"
"Äh ... Wollen Sie überhaupt mitfahren?"
"Nein,  es geht ums Prinzip!"
Hui, können wir bitte schnell losfahren?

Am meisten leidet vermutlich das Zugpersonal unter der Situation. Zugdurchsagen werden da schnell zu einer Art Crashkurs Passiv-Aggressivität ("Gerüchten zufolge soll es helfen, die Türen freizumachen, wenn man vorankommen will, aber was weiß ich schon, bin ja nur der Zugchef.")

Irgendwann erwischte ich mich auch selbst bei Gedanken wie: "Na toll! Mitm Fahrrad muss der da rein! Sieht der nicht, dass es voll ist?" Zum Glück bekam ich noch rechtzeitig die innere Kurve, einfach weil ich mir dachte: "Jetzt mal langsam, Herr Barth. Du fährst gerade für 9 Euro nach Hamburg und zurück und regst dich auf, weil es voll ist? Wo musst du überhaupt so dringend hin? Der Käse, den du essen willst, ist im Schnitt 24 Monate gereift, der kann auch noch ein paar Minuten länger auf dich warten." Danach ging's eigentlich.

Man muss es ja mal nüchtern betrachten: Ziel des 9-Euro-Tickets ist nicht, dass Dödel wie ich mit zu viel Tagesfreizeit kreuz und quer durch die Republik fahren. Ziel ist, dass Menschen, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, Geld sparen und dass solche, die es nicht sind, trotzdem mal das Auto stehen lassen und dem ÖPNV eine Chance geben. Dass die Züge jetzt voll sind, ist also kein Nachteil des 9-Euro-Tickets, sondern ein Beweis, dass es funktioniert. 

(Zwei Bahnsteige am Hamburger Hauptbahnhof. Raten Sie mal, von welchem der Regionalexpress abfährt)

2. Trotzdem: Nehmen Sie auf keinen Fall Gepäck mit!
Das gilt im Regionalverkehr schon in normalen Zeiten und jetzt natürlich noch mehr. Eigentlich kann man zu keinem Zeitpunkt ernsthaft jemandem raten, einen Regionalexpress mit einem Gepäckstück zu betreten, das dicker ist als ein DINA4-Umschlag. Das was da schräg unterm Zugdach klebt, ist ja noch nicht mal eine Hutablage. Bestenfalls eine Baskenmützenablage. Meine Tasche behielt ich also die meiste Zeit zwischen den Beinen. Es war mir sogar zu kompliziert, mein Buch herauszuholen. Ich machte also etwas, was ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht habe: aus dem Fenster schauen. Stundenlang. Und ehrlich gesagt: gibt Schlimmeres. Gibt ja doch ganz schön viel Landschaft zwischen Köln und Hamburg. Und Dinge, die man sonst nie wahrnimmt. Wussten Sie, dass es kurz hinter Wuppertal die Federwerke Peter Plate gibt?  Sehen Sie, ich weiß das jetzt. Falls mich bei Wer wird Millionär mal jemand fragt.

3. Ankunftszeiten sind Glückssache.
Die Rechnung "Sind ja nur zwei Stunden mehr als mit dem ICE" war natürlich dumm. Sagt ja keiner, dass nicht auch eine Regionalbahn zu spät kommen und man dadurch seinen Anschluss verpassen kann. So ging es mir zum Beispiel auf der Rückfahrt in Minden. Die S-Bahn war zu spät, der Regionalexpress fuhr pünktlich los und da saß ich also mit rund 200 anderen Fahrgästen auf dem Bahnhof in Minden, der in Sachen Entertainment eher nicht Gefahr läuft, dem Phantasialand Konkurrenz zu machen.

Nur um kurz zu umreißen, wie langweilig mir da war: Ich habe mir in der einen Stunde Wartezeit eine Cola, einen Kaffee, ein Käsebrötchen, ein Schokobrötchen, ein Packung Pringles, eine Zeitung und 5 Rubbellose gekauft. Die Rubbellose eigentlich nur, weil ich bei Twitter Fotos von Friedrich Merz in seinem Privatflugzeug gesehen hatte und mir dachte: "Mensch, so'n silberner Propeller-Smart, der mich jetzt persönlich von Minden nach Köln fliegt - das hätte schon was!"

Verkehrspolitische Erleuchtung

In der Zeitung las ich dann einen Artikel über das 9-Euro-Ticket. Und da hatte ich sie, meine verkehrspolitische Erleuchtung. Folgendes, und das wird sie nach den durchaus auch kritischen Erfahrungen da oben vielleicht überraschen: Das 9 Euro Ticket muss auf jeden Fall bleiben. Genau so, wie es ist. Und zwar für immer. Alles andere wäre total Banane.

21 Millionen verkaufte Fahrscheine allein im Juni. Plus 10 Millionen ÖPNV-Abonnenten, die ebenfalls profitieren. Nachweislich weniger Staus auf deutschen Straßen. Sogar der (FDP!-)Verkehrsminister spricht von einem bombastischen Erfolg. Alles an diesem Ding schreit: Mega-Idee! Und da wir in Deutschland einfach nicht so oft Mega-Ideen haben, wäre es vollkommen unverantwortlich, diese eine nach nur drei Monaten wieder zu beerdigen.

Ja, das kostet Geld. Viel Geld sogar. 11 Milliarden Euro pro Jahr, wie ich jetzt gelesen habe. Aber sind wir doch mal ehrlich: Wir haben jahrzehntelang so viel Geld auf so dumme Projekte und tote Industriezweige geschmissen, unsere Umwelt damit ruiniert und unsympathische Menschen wahnsinnig reich gemacht - warum nicht jetzt mal eine Idee finanzieren, die nachweislich funktioniert? Menschen fahren Bahn, wenn sie bezahlbar ist. Und Menschen lassen das Auto stehen, wenn es vernünftige Alternativen gibt. Genau das wollen wir erreichen, also muss man es auch ermöglichen. Und bitte nicht anfangen mit: "Nee, 9 Euro geht natürlich nicht. Aber wie wär's, wenn wir ein 49 Euro Ticket einführen, das für die Sommermonate in zwei Bundesländern Ihrer Wahl gilt?" Nee! 9 Euro! Deutschlandweit! Punkt.

Aber ausgerechnet Deutschland? Autoland Deutschland? Sollten das nicht lieber andere machen? Eben nicht. Was wäre das für eine Sensation, wenn ausgerechnet wir so ein Projekt mal durchziehen würde. Wir, im behäbigen, überregulierten Volkswagen-Country. Ich möchte, dass auf skandinavischen Nachrichtenseiten Sharepics auftauchen mit dem Text: "Wusstest du, dass in Deutschland jeder für 9 Euro jeden beliebigen Nahverkehrszug nutzen kann?"

Und dann will ich, dass die Skandinavier ungläubig schauen und fragen: "Ja, aber das ist doch wahnsinnig teuer für den Staat. Wahrscheinlich wurde stattdessen dann der Schienenbau und die Wartung der Züge eingestellt?"

Und dann wird die Nachrichtenseite antworten: "Im Gegenteil, die cleveren Deutschen haben festgestellt, dass sie dadurch viel Geld im Straßenbau sparen, außerdem haben sie ihre Subventionen für umweltschädlichere Ideen ein bisschen runtergefahren  und haben dann sogar noch ein Bussystem etabliert, damit auch Leute, die nicht an den Schienenverkehr angeschlossen sind, von dem  9-Euro-Ticket profitieren. Im Grunde kann man jetzt alle halbe Stunde von jedem Ort an jeden beliebigen anderen Ort fahren."

"Mensch, diese cleveren Deutschen! So vorausschauend!"

Ja kann sein, dass mir da ein paar Käsedämpfe zu Kopf gestiegen sind, aber ich bleibe dabei: Das ist die einzige sinnvolle Schlussfolgerung aus den bisherigen Erfahrungen. Das Ding muss bleiben.

Herzlichst, Ihr 9-Euro-Ultra.

P.S.: Eine Erkenntnis habe ich noch vergessen: Bruno's Käseladen in Hamburg ist jeden Bahnkilometer wert ❤️

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