Schließt die Häuser der Gewalt!
Ein Jahr nach den Morden im Oberlinhaus (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zeigt sich: Nichts an der strukturellen Gewalt gegen behinderte Menschen hat sich geändert – und die geschlossenen Wohneinrichtungen stehen im Zentrum des Geschehens. Was jetzt getan werden muss.
Heute wird man sich vor vier regenbogenfarbenen Stelen aus Glas versammeln. Ernste Worte werden gesprochen, im Oberlinhaus in Potsdam. Der Ministerpräsident von Brandenburg sowie der Oberbürgermeister von Potsdam werden auch da sein. Man wird den vier Bewohner*innen gedenken, die vor genau einem Jahr von einer Pflegerin ermordet wurden; eine weitere Frau überlebte schwer verletzt. Es wird wieder die Rede sein vom tragischen Einzelfall, davon, wie unfassbar diese Tat sei, bis heute. Ich kann es nicht mehr hören. Was vor einem Jahr geschah, war kein Einzelfall. Es war sehr fassbar. Doch die strukturelle Gewalt, der man in geschlossenen „Wohneinrichtungen“ für behinderte Menschen begegnet, wird an diesem Donnerstag wohl kein Thema sein. Es könnte ja die “Besinnlichkeit” stören.
Noch in den Ohren klingen die unkommentierten Erklärversuche eines Polizeipsychologen im Fernsehen, der vor einem Jahr zum Tatmotiv fabulierte: „Es kann aber auch sein, dass eine Motivation dahinter steht, die Leute zu erlösen von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind.“ Aha, Behinderung gilt also als zu beseitigendes Übel? Dass Menschen mit ihrer Behinderung leben wie andere mit ihrer Haarfarbe, kommt hier offenbar nicht in den Sinn. Aber wie auch, wenn in Zeitungsartikeln von einem „sehr ungewöhnlichen Fall“ die Rede war und die Mordopfer als „Schützlinge“ in „Krankenzimmern“ bezeichnet wurden, der Oberbürgermeister nicht müde wurde zu betonen, wie „aufopferungsvoll“ sich die Pflegekräfte um die Bewohner*innen des Oberlinhauses kümmerten, eben „außerordentlich engagiert“.
Was sollen diese paternalistischen Superlative, als handle es sich bei jenem Beruf um eine Mission Impossible?
Man kennt diese Tendenz zur Einzelfallerklärung bei Gewalttaten an Frauen mit und ohne Behinderung. Die galten auch jahrelang als tragische Einzelfälle, auch dort wurde oft nach einem möglichen Anteil der Frau an der Tat gefragt – war der Rock zu kurz? Heute entfernt man sich von dieser Täter-Opfer-Umkehr, und es gibt einen, die Struktur dieser Frauenmorde erklärenden, Begriff: Femizid. In Bezug auf Morde an Menschen mit Behinderung, die keine Femizide sind, sind wir noch nicht so weit, da funktioniert die Umkehr, siehe „Leiden“ und „Erlösung“, leidlich. Stellen wir also die Frage nach der Struktur.
Sie führt uns zu Orten, an denen Gewalt häufiger vorkommt als anderswo – in geschlossene Wohneinrichtungen für behinderte Menschen. Zuerst die Zahlen: Aus der Kriminalstatistik (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) geht hervor, dass Straftaten gegenüber Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen kontinuierlich steigen: Waren es 2015 noch 151 Straftaten, zählte man im Jahr 2019 schon 238 Straftaten. Frauen waren in dem erhobenen Zeitraum häufiger von Gewalt betroffen als Männer. Generell vernachlässigen all diese Studien nicht-binäre Personen, weshalb nirgends erfasst wird, wie viele nicht-binäre Menschen mit Behinderung in stationären Wohneinrichtungen Gewalt erlebt haben oder erleben. Gleiches gilt für binäre trans Personen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass mehrfach marginalisierte behinderte Menschen um ein Vielfaches häufiger von Gewalt betroffen sind.
Bei der häuslichen Pflege ist die Anzahl der Straftaten im Vergleich zu Wohneinrichtungen für behinderte Menschen deutlich geringer, wenn auch immer noch besorgniserregend hoch: 2015 waren es 50 und für 2019 führt die Statistik 53 Straftaten in Privatwohnungen von Menschen mit Behinderungen auf. Eine konkrete Anzahl der Anzeigen von Gewalt betroffenen behinderten Menschen gibt es offenbar nicht. Aufgrund der unklaren Datenlage gehen Forscher*innen auch von einer massiven Dunkelziffer (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) aus. Überhaupt sind behinderte Menschen häufiger Gewalt ausgesetzt: So ergab eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), dass 58 bis 75 Prozent der Frauen mit Behinderungen im Erwachsenenalter körperliche Gewalt erlebt haben. Im Vergleich zur Referenzgruppe ohne Behinderungen ist das doppelt so viel. Außerdem gaben 21 bis 43 Prozent der befragten Frauen an, von sexualisierter Gewalt betroffen (gewesen) zu sein.
Aber auch behinderte Männer sind nach einer Befragung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) häufiger von Gewalt betroffen als die Referenzgruppe ohne Behinderungen. So erlebten 65 Prozent der Männer mit Behinderungen seit ihrem 16. Lebensjahr psychische Gewalt. 71 Prozent der Befragten erfuhren in ihrem Erwachsenenleben physische Gewalt.
Es ist davon auszugehen, dass behinderte nicht-binäre Menschen noch stärker betroffen sind. Auch die Tatsache, dass Gewalt gegen sie nicht einmal statistisch erfasst wird, ist bereits Ausdruck von Gewalt.
Um diesen abstrakten Zahlen ein Gesicht zu verleihen, haben Aktivist*innen das journalistische Rechercheprojekt #AbleismusTötet gegründet. An diesem beteilige auch ich mich. Auf Initiative der Menschenrechts- und Behindertenorganisation AbilityWatch e. V. ging ein interdisziplinäres Team der Gewalt gegen behinderte Menschen auf den Grund und rekonstruierte jeden einzelnen Fall seit 2010, die in geschlossenen Wohneinrichtungen passierten und öffentlich bekannt wurden – offen zugänglich über ableismus.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Klingt das alles misstrauisch bis missgünstig gegenüber den Mitarbeitenden in solchen Einrichtungen? Nein. Viele dort arbeiten engagiert und haben ein Menschenbild, welches in Behinderung nichts Fehlerhaftes, zu Heilendes, sieht und damit auch nicht von einer geringeren Wertigkeit behinderter Menschen ausgeht. Viele Mitarbeitende erkennen keinen Anlass zur Hierarchisierung und behandeln die dort lebenden Menschen nicht von oben herab bevormundend oder gar zurechtweisend. Dennoch: Die Strukturen begünstigen Gewalt! Unser Misstrauen gilt ihnen, nicht den Menschen.
Stationäre Wohneinrichtungen sind verschlossene Orte. Die Mehrheit der Gesellschaft kennt sie nicht. Menschen, die innerhalb und Menschen, die außerhalb von Einrichtungen leben, begegnen sich kaum, ein Austausch findet somit nicht statt. Umso häufiger kommt es vor, dass Bewohner*innen geschlossener Wohneinrichtungen dort unglücklich sind. Nicht wenige wünschen sich, alleine oder zumindest selbstbestimmter in Wohngemeinschaften zu leben. Doch viele Menschen in Machtpositionen sehen in Behinderung immer noch ein wegzudrückendes Kostenproblem, weswegen behinderte Menschen gesammelt an den Stadtrand verfrachtet werden. Diese faktische Alternativlosigkeit stärkt das Abhängigkeitsverhältnis von den dort Beschäftigten. Und Abhängigkeit begünstigt Gewalt.
Die Beispiele reichen von fehlender Selbstbestimmung zur Gestaltung des Alltags (Wo und mit wem wohne ich? Was und wann esse ich? Wann gehe ich raus? Wie verbringe ich meine Freizeit? Wann schlafe ich?) über das Ignorieren oder Überschreiten von Grenzen und dem fehlenden Eingehen auf das Bedürfnis nach Intimität. Üblich sind auch bis körperliche Berührungen im Assistenz-Kontext, die oft regelmäßig ohne Erklärung, Erlaubnis oder sogar gegen den expliziten Willen der Betroffenen geschehen. Hinzu kommt der Machtmissbrauch durch das Ignorieren oder den unnötigen Aufschub offensichtlicher oder erklärter Bedürfnisse. Im extremsten Fall führt das zur Anwendung körperlicher oder psychischer Gewalt, um Personen gefügig zu machen. Das journalistische Rechercheprojekt #AbleismusTötet (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von AbilityWatch e. V. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zeigt, dass es sich dabei keineswegs um „Einzelfälle“ handelt.
Als Reaktion auf die von Journalist*innen über Monate recherchierten, harten Fakten zu den Gewaltfällen hat AbilityWatch e. V. zusammen mit weiteren Behinderten- und Menschenrechtsorganisationen eine Reihe an Forderungen formuliert, um endlich aus diesem negativen Kreislauf auszusteigen. Langfristig sind die geschlossenen Einrichtungen zu schließen. Es geht um Menschenrechte, und die gelten als unveräußerlich. Oder doch nicht? Natürlich türmen sich an dieser Stelle Probleme auf: Schon 2018 fehlten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in ganz Deutschland mindestens 386.000 rollstuhlgerechte Wohnungen. 2020 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gab es drei Millionen Haushalte mit mobilitätseingeschränkten Bewohner*innen, aber nur 560.000 barrierearme (rollstuhlgerechte) Wohnungen. Und all dies bei steigenden Immobilien- und Mietpreisen. Aber die Frage bleibt: Was ist uns das Menschenrecht wert?
Der Weg zu echter, gelebter Inklusion ist noch lang. Bis wir das Abschaffen der stationären Wohneinrichtungen erreicht haben, müssen wir zumindest die Verhältnisse in für die dort lebenden Menschen verbessern! Die Bewohner*innen brauchen mehr Selbstbestimmung und Mitbestimmung bei den internen Angelegenheiten und der Gestaltung des Alltags. Darüber hinaus beeinflusst Stress auf Personalseite unmittelbar die Lebensbedingungen der Bewohner*innen. Erschöpfung, Zeitmangel und der Versuch, effektiv zu arbeiten, bergen Gewaltpotential; Investitionen in bessere Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende sind demnach auch Investitionen in die Verminderung von Gewalt. Neben einem höheren Personalschlüssel erfordert eine Entlastung des Personals auch geringere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich.
Schlussendlich fehlen in Deutschland trotz der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention bisher ausreichende rechtliche Standards, die im Sozialgesetzbuch verankert sind und die Behindertenhilfe zum Gewaltschutz verpflichten. Gewaltschutzkonzepte sind uneinheitlich und werden unzureichend geprüft. Hier müssen Transparenz und Konsequenzen für Verstöße geschaffen werden. Unsere Recherchen haben ergeben: Hilfsangebote bei erfahrener Gewalt sind weder ausreichend, noch niedrigschwellig vorhanden.
Es ist an der Zeit, dass wir einiges geraderücken. Behinderung ist kein zu beseitigendes Übel, Gewalt begünstigende Zustände sind das hingegen schon. Seit Jahrzehnten schauen wir über strukturelle Diskriminierungen hinweg – die Mehrheit der Bevölkerung lebt ja (noch) nicht mit einer Behinderung. Doch all dies ist ein Mangelzustand, ein strukturelles Elend.
Darüber könnte man bei der Feier in Potsdam für die vier Ermordeten sprechen. Im vergangenen Jahr, nach der Tat, sagte Matthias Fichtmüller, der theologische Vorstand im Oberlinhaus, gegenüber dem Deutschlandfunk, generell sei das Thema Gewalt in Heimen wichtig, darüber könne man vielleicht in einem Jahr mal sprechen. Und er sagte weiter: Jetzt sei man im Oberlinhaus bei der Trauerbewältigung und Aufklärung. Zudem wehre er sich gegen Einmischungen von außen.
Okay, das Jahr ist um. Reden wir also über Gewalt in Heimen. Für Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K.