“Es ist nicht leise in meinem Kopf”: Ausstellung in Pirna
Plötzlich Gemecker in der friedlichen Atmosphäre der Pirnaer Klosterkirche St. Heinrich. Aus dem Eingangsbereich im vorderen Teil der Kirche, wo die meisten Tafeln der Ausstellung „Es ist nicht leise in meinem Kopf“ stehen. Ich begutachte gerade die Tafeln im hinteren Bereich der Kirche, der mittig und seitlich platzierte Altar und die Bankreihen trennen mich von dem Tumult. Ich drehe mich um, sehe, wie ein junger Besucher einen älteren Gast leicht schubst. Der Ältere lässt sich nicht beruhigen, vertraute Klänge in meinen Ohren: Gemecker in schwäbischem Dialekt. Eventuell bin ich mit meinem schwäbischen Migrationshintergrund der einzige Anwesende, der die Jammerarie in Gänze erfasst.
Die zahlreichen sächsischen Besucher*innen dieser Ausstellung, die eigentlich im Landratsamt hätte stattfinden sollen, lassen sich nur kurz irritieren. Der Schwabe meckert draußen weiter. Ein Mitglied der Initiative „Solidarisches Pirna“ – etwa 50, Pferdeschwanz, Nerven aus Stahl – hört ihm seelenruhig zu.
Es ist Feiertag, Tag der Deutschen Einheit. Viel Betrieb in der Klosterkirche Pirna, ein gemischtes Publikum. Einige Jüngere, wie ich aus Dresden angereist. Aber auch viele ältere Einheimische. Und Tourist*innen. Interessiert, berührt, der Wutbürger bleibt ein Einzelfall.
Katholische Gemeinde in Pirna bietet „Es ist leise in meinem Kopf“ Asyl
Ausnahmsweise wieder in den bundesweiten Schlagzeilen – und nicht im positiven Sinne: Pirna. Das dachte ich mir, als ich auf Zeit-online von den Ereignissen rundum die Ausstellung „Es ist nicht leise in meinem Kopf“ las.
Eine Ausstellung, die Biografien von Geflüchteten präsentiert. Ihre Fluchtgründe, ihre Fluchtrouten, ihre Hoffnungen und ihre Realität in Deutschland. Genauer gesagt: Ihre Realität im Erzgebirge. Die beiden Organisator*innen der Ausstellung Lenore und Werner Lobeck stammen aus dem Erzgebirge, sie haben ihr Werk bereits an mehreren Orten ausgestellt. Chemnitzer Agentur für Arbeit, Landtag in Dresden, Meißner Gymnasium Franziskaneum. Problemlos. Nicht so in Pirna.
Diese Ausstellung sollte in den Räumlichkeiten des Landratsamts Pirna stattfinden, dortige Verantwortliche bauten sie aber ohne Absprache mit den beiden Ausstellungsmacher*innen ab. Noch bevor eine größere Anzahl an Besucher*innen die Schautafeln begutachten konnte. Die Begründung:
Die Ausstellung polarisierte bereits in den ersten Stunden nach ihrem Aufhängen und sorgte für eine aufgeheizte Stimmung unter den anwesenden Betrachtern.
Warum? In manchen Texten auf den Ausstellungstafeln findet sich Kritik am Agieren von Ausländerbehörden und an rassistischen Zuständen. Das konnten die Verantwortlichen im Landratsamt Pirna offenbar nicht ertragen.
Die Gruppe um die Schwarzenberger Autorin Leonore Lobeck und ihren Mann Werner merkt an, man sei »nie sicher« davor, dass die Ausstellung von Rassisten oder Rechtsextremen beschädigt werde. Aber dass »ein Amt eines demokratischen Staates« eine Ausstellung unterbinde, die »um Verständnis für Geflüchtete wirbt und gegen Vorurteile spricht«, das habe »eine völlig andere und neue Dimension«.
Es wäre aber falsch, die Stadt Pirna nur aufgrund solcher negativen Schlagzeilen zu beurteilen. Pirna verfügt über eine lebendige Stadtgesellschaft, die sich dem Rechtstrend engagiert entgegenstellt. Das zeigt sich beim Umgang mit dieser Ausstellung beispielhaft. Sofort bot sich die katholische Kirchengemeinde St. Heinrich und Kunigunde an, die Ausstellungstafeln in der Klosterkirche St. Heinrich zu zeigen. Aktive des neu gegründeten Vereins Solidarisches Pirna sagten zu, die Ausstellung während der Öffnungszeiten zu betreuen.
Wenn in einer Ausstellung die Schwächsten zu Wort kommen und ein Gesicht und eine Sprache bekommen, dann denke ich, dass es in einer christlichen Gemeinde nicht nur möglich, sondern geboten ist, ihnen eine Stimme zu geben.
Der bundesweite Eklat als Chance
Die Entscheidung des Landratsamtes in Pirna mag skandalös gewesen sein, sie erwies sich aber in zweifacher Hinsicht als vorteilhaft. Erstens erreichte die Ausstellung eine Aufmerksamkeit, die sie ohne Abbau und die folgende Medienberichterstattung niemals erreicht hätte. Bei der offiziellen Ausstellungseröffnung drängten sich laut MDR über 200 Menschen in der Pirnaer Klosterkirche. Auch am Tag der Deutschen Einheit strömten viele Interessierte in die Kirche – fast zu viele, teilweise behinderten sie sich einander beim Betrachten der Ausstellungstafeln. Es gibt schlechtere Nachrichten aus Pirna und in Sachsen.
Zweitens: Das Ambiente der sehenswerten St. Heinrich-Klosterkirche bildete den würdigen Rahmen für „Es ist nicht leise in meinem Kopf“. Wesentlich würdiger als die Räume eines Landratsamtes, in dem der tägliche bürokratische Betrieb herrscht. Die gotische Kirche besticht mit ihrer spartanischen Einrichtung und der ungewöhnlichen Anordnung: Der von Friedrich Press 1973 gestaltete Altar findet sich auf der Längsseite. Auf beiden Querseiten gibt es entsprechend viel Platz für Ausstellungstafeln, die Besucher*innen in der ruhigen Atmosphäre der Klosterkirche begutachten konnten.
Eindrucksvolle Schilderungen aus vielfältigen Perspektiven
Jede Tafel dieser Aufstellung zeigt eine persönliche Flucht- und Gegenwartsgeschichte. Allen gemein ist, dass die Geflüchteten in Schwarzenberg im Erzgebirge oder der Umgebung gelandet sind. Das Ehepaar Lobeck stammt aus dieser Region, engagiert sich im Flüchtlingsunterstützerkreis Schwarzenberg und verdeutlicht mit „Es ist nicht leise in meinem Kopf“ die Vielfältigkeit an Fluchtgründen, Schicksalen sowie Hoffnungen.
Bushra und ihre Tochter Aya sind zum Beispiel aus Bagdad geflohen. Die Hauptmotivation für ihre Flucht war die unsichere Lage. Eine Bombe im Supermarkt, die Detonation richtete auch in einer benachbarten Schule erheblichen Schaden an. Unter den Toten eine Freundin von Aya, die sich fortan nicht mehr in die Schule und alleine auf die Straße traute. In Deutschland fand die Mutter Arbeit in einem Restaurant. Aya besucht ein Gymnasium und genießt es, hier frei entscheiden zu können, ob sie ein Kopftuch trägt oder nicht. Momentan will sie nicht, vielleicht später. Sicherheit und Freiheit im Erzgebirge.
Deutschland ist gut. Hier ist kein Krieg. Meine Tochter geht jetzt aufs Gymnasium. Sie kann allein rausgehen. Wir haben keine Angst.
Aber warum darf ich nicht alles? Ich habe Arbeit in einem Restaurant. Ich mache alles gut. Warum bekomme ich keinen Aufenthalt? Wir warten seit 2015.Aus dem Text auf der Ausstellungstafel: „Es ist nicht leise in meinem Kopf“
Akmar aus Afghanistan flüchtete ebenfalls aufgrund der unsicheren Lage. In diesem Fall angesichts einer noch größeren, persönlichen Bedrohungslage: Ein Bruder arbeitete für die US-Amerikaner, die Taliban hatten und haben die Familie deshalb im Visier. Zuerst Binnenflucht der gesamten Familie von Logar nach Kabul. Dann machte sich Akmar alleine auf den Weg Richtung Europa – zu Fuß durch Pakistan und den Iran. Er berichtet von der Angst, im Iran von Sicherheitskräften geschnappt und nach Afghanistan zurückgeschickt zu werden. Er erzählt von den katastrophalen Bedingungen während der Flucht. Und von den vielen Todesfällen auf dem weiten Weg. Akmar hat es geschafft, er ist an seinem Ziel angekommen. Wenngleich er sicher an Deutschland allgemein und nicht speziell an Johanngeorgenstadt gedacht hat. Seine Familie vermisst er, insgesamt überwiegt aber das Positive:
Hier in Deutschland bin ich ganz ruhig. Ich habe Freiheit. Manche hier sagen Schimpfworte zu mir. Ich streite mit ihnen, sage meine Meinung. Meine Zukunft ist wichtig. Ich mache meine Lehre. Mein Leben ist hier.
Aus dem Text auf der Ausstellungstafel: „Es ist nicht leise in meinem Kopf“
Eine Ausstellung als Mahnung
Insgesamt 35 Migrant*innen berichten auf den Ausstellungstafeln über ihre Flucht nach Deutschland und ihr Leben im Erzgebirge. Die Erkenntnis: Es ist divers, und zwar in allen Belangen. „Es ist nicht leise in meinem Kopf“ setzt einen wichtigen Kontrapunkt zur aktuellen pauschalisierenden Debatte über Migration.
Warum fliehen Menschen? Krieg, Verfolgung, Repression aufgrund politischer Aktivitäten, Unterdrückung von Frauen, mangelnde wirtschaftliche Perspektiven: alles dabei, teilweise auch eine Mischung aus mehreren Gründen.
Und wie sieht die Gegenwart in Deutschland aus? Unterschiedlich. Einige betonen das Positive, andere nennen vornehmlich Probleme mit Behörden und dem Alltagsrassismus. Häufig findet sich beides. Gut hier in Deutschland, aber …
Es fällt nicht schwer, sich vorstellen, dass die Probleme in Sachsen und vor allem in der sächsischen Provinz besonders groß sind. Auch das macht diese Ausstellung deutlich. Ein Geflüchteter wünscht sich zum Beispiel, in eine Großstadt wie Leipzig umziehen zu können. Ein freundlicheres Ambiente für Migrant*innen dort, diese Hoffnung ist leicht nachvollziehbar. Kritik an den örtlichen Behörden gibt es ebenfalls: Offenbar legen Ausländerbehörden im Erzgebirge das deutsche Recht anders aus als Ämter in anderen Teilen des Landes.
All das erfahren Besucher*innen dieser Ausstellung in prägnant formulierten Texten, welche der Flüchtlingsunterstützerkreis Schwarzenberg auch in Buchform präsentiert.
Aktuell befindet sich die Ausstellung „Es ist nicht leise in meinem Kopf“ in der St. Nicolai-Kirche in Grünhain. Ausstellungsorte und weitere Informationen lassen sich auf der Homepage https://www.esistnichtleise.de/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) nachlesen.
Zur Ausstellung gibt es ein Buch – bestehend aus einem Hauptband und einem Begleittext. Bestellungen sind per E-Mail möglich, siehe Homepage.
Flüchtlingsunterstützerkreis Schwarzenberg (Hrsg.): Es ist nicht leise in meinem Kopf, Verlag fabrik.transit, Wien 2023, 22 Euro, ISBN: ISBN 978-3-903267-36-7