Innere Ordnung durch äußere Ordnung – ein paar Worte zum neuen alten Aufräumtrend auf Instagram
Immer wenn mich etwas triggert, weiß ich, oha, da lohnt es sich mal genauer hinzuschauen. Der in meiner Bubble grad wieder ziemlich präsente Ordnungstrend mit Ausmisten, Sortieren und Putzen ist einer davon. Ich bin selbst mittendrin – und könnte innerlich oft ausrasten, was dazu oft an Allgemeinplätzen geteilt wird.
Geht es dir auch so? Manchmal?
Dann ist dieser Text für dich.
Geht es dir nicht so, sondern du zuckst eher lächelnd mit den Achseln, weil so ist das eben mit der (Nicht-)Vereinbarkeit von Ordnung und Familienleben? Weil das nichts mehr ist, wofür du dir ein Bein ausreißt, aber klar, etwas leichter die Struktur zu halten, das wäre schon schön. Seltener Krempel suchen zu müssen und dafür andere vor sich hin verrottetende Unkenntlichkeiten zu finden, wollen wir das nicht alle? – Für dich ist dieser Text also auch.
Hier findest du die Audiodatei zu diesem Post:
Und damit steigen wir direkt ein, mit dem ersten Nicht-direkt-Eltern-Thema auf meinem neuen Steady – aber du wirst rasch merken, gerade für Eltern ist das hier ein Reizthema. Ich verspreche, ich hole dich ab.
Und bevor ich dich abhole, hole ich ein bisschen aus. Denn jetzt habe ich ihn endlich wieder: den Platz für meinen Text und damit viel weniger Gefahr in der Unterkomplexität zu landen.
Wir beginnen nicht mit dem Aufräumen, sondern mit meinem Triggerpunkt dabei: dem Neid.
Neid ist es tatsächlich, den ich empfinde, wenn ich andere erfolgreich sortieren und ausmisten sehe. Und das ist weder dieser mich antreibende Neid, der ja so gut sein soll (und defintiv auch sein kann), um selbst zu wachsen und seine Ziele zu erreichen, noch ist es der missgünstig Neid, mit seiner schlechten Lobby ("Du neidischer, garstiger Mensch, lern mal gönnen können!"). Es ist Ressourcenneid. Denn da neide ich gar nicht primär die Ordnung, sondern ich weiß, was nötig ist, um sie so, wie gezeigt, zu erschaffen.
Beispiel 1
Influencerin X gibt Tipps für Ordnung im Zuhause, vier Kinder hat sie. Da ist die Botschaft von: Wenn ich das kann, kannst du es auch! Ihre Küche scheint stabil über 20 Quadratmeter zu bieten, ihr Haus hat etwa die Ausmaße zweier großzügiger Wohnungen. In den Schubladen sind Plastikschalen, die perfekt stapelbar, auswaschbar und etikettierbar sind. Selbsterklärend gibt es einen Farbcode.
Oh ja, unter diesen Voraussetzungen ist Ordnung sehr viel leichter zu halten, als ohne.
Was sind die Voraussetzungen?
Erst an abgehängter Stelle ist es ein kluges System und sind es routinierte Handgriffe, die die Oberflächen freihalten und jedem Ding sein zu Hause geben.
An erster Stelle ist es Platz und Qualität und damit – sogar noch vor dem Zeitfaktor – Geld.
Ich seufze also einmal und denke mir: "Joah, also mit dem Equipment könnte ich das auch so locker flockig. Das wäre echt schön."
Ich will gar nicht ihre Plastikschalen haben. Wohl aber hätte ich gern ihre Zeit und ihre Möglichkeiten, die mit Geld und Platz einhergehen.
Beispiel 2
Influencerin Y wohnt nicht ganz so riesig, aber doch schon ziemlich groß. Sie hat auch keine vier Kinder, sondern zwei. Sie ist die Etikettiermaschinenqueen. Außerdem ist alles weiß und beige und grau und überhaupt sehr hell.
Sie teilt öfter das wüste Chaos, das ihre Kinder hinterlassen. Danke dafür, dass du so transparent bist, und du klar trennst zwischen Profiauftritt in instagrammable aufgeräumt und quasi 5 Sekunden später hinter den Kulissen. Das ist ein ehrliche Danke, kein ironisches!
Was bleibt, das ist der Platz, das Licht und das Geld. Und nicht zuletzt gibt es eine Haushaltshilfe 2x, die Woche kommt (Danke erneut für die Transparenz!). Und ein Arbeitszimmer: Tür zu. Relative Ruhe. Welch Wohltat!
Wer allein schon vier Stunden die Woche (oder mehr?) nicht putzen muss, der kann selbsterklärend die Zeit auch anders nutzen. Natürlich nicht zwingend zum Aufräumen, aber ich denke wir alle kennen das Phänomen, das wenn wir aufräumen wollen, wir einfach nach der Beseitigung des alltäglichen Krempels eigentlich schon bedient sind und/oder sich das Zeitfenster schließt, das fürs Aufräumen verfügbar war. Also geht es wieder nicht an den Papierkram, die Rumpelecke oder die Küchenschubladen.
Beispiel 3
Instagrammerin Z (sie macht keine Werbung, sondern schreibt und teilt, drum verwende ich hier nicht den Influencerinnenbegriff) zieht sich ein paar Tage raus und kriegt ihren Papierkram-Shit together.
Hier trifft mich der Neid am härtesten, weil unsere Leben scheinbar am ähnlichsten sind. Aber dann doch wirklich nur scheinbar. Auch wenn sie vier Kinder hat und ich nur eines: Wieder gibt es viel Platz, es gibt einen Mann mit ganz anderer Verfügbarkeit als das bei uns der Fall ist, und – größte Unterschiede – sie ist gesund (soweit sie das teilt) und kommt ziemlich gut mit beinahe drei Stunden weniger Schlaf aus als ich. Pro Nacht.
Wenn ich mir allein 2x diese drei Stunden sicher für den Papierkram nehmen könnte, OHNE dass dann die Erwerbsarbeit komplett gestrichen werden muss, dann wow, wie es hier aussehen könnte! Nicht nur in der Wohnung, auch auf dem Konto…
Priorisieren ist nicht alles. Priorisieren können dagegen schon.
By the way: Das ist Sina und ich lieb sie. Ich hoffe ihr auch. Folgt Sina.
Dieser Exkurs in meinen – mittlerweile schon wieder verebbten – Neid hinein zeigt:
Was es braucht, um Ordnung zu halten beziehungsweise zu schaffen, das sind die ewig gleichen Dinge:
Zeit
Energie
Fokus
Plus den Joker, mit dem sich fast alles davon deutlich ausgleichen bzw. auffüllen lässt: Geld.
Das muss glasklar sein, bevor wir anfangen über Tipps zu sprechen. Und das sollte immer kurz gegengecheckt werden, wenn die Vergleicheritis zuschlägt: Sind die Leben was Zeit, Energie, Fokus und Geld angeht, wirklich vergleichbar? Denn die viel besungene Disziplin, die kommt erst weit dahinter, auch wenn sie durchaus in der Lage ist, ein bisschen (!) abzupuffern. Disziplin ist allerdings auch energiegebunden, also vorsichtig mit dem Argument.
Gerade Geld spielt eine noch mal größere Rolle, wenn es wirklich sehr knapp ist und dann das Standardsprüchlein der Marie Kondo Anhängerschaft fällt:
„Was dich nicht erfreut, was du nicht nutzt, das lass ziehen (wegwerfen, verschenken, spenden, verkaufen – nicht einmotten!).“ Ja, ich habe das auch schon mehrfach rezitiert. Jetzt weiß ich es besser.
Wer wenig Geld hat, verkauft sowieso ziemlich regelmäßig das, was er nicht braucht und was sich einigermaßen verkaufen lässt. Darum geht es also nicht. Sondern es geht um Dinge, die nur mit sehr großem Verlust verkauft werden können, die man vielleicht noch mal brauchen oder upcyclen könnte – und sei es als Bastelmaterial fürs Kind.
„Man muss nicht jedem Gegenstand den letzten Materialwert abtrotzen!“ liest sich aus der Armut heraus wirklich überheblich. Diesen Standpunkt muss man sich leisten können. Mal davon ab, dass wir dann sehr weit weg von Nachhaltigkeit sind.
Ich stimme zu: Das eigene Zuhause sollte keine Zwischenstation vor der Müllhalde sein und ja, manche Sachen sind wirklich einfach zu viel.
Gerade aus dem finanziellen Aspekt heraus gilt da aber eher die Entscheidung:
Ist es teurer für mich die Dinge zu behalten, weil ich mehr Stauraum und somit auch Wohnraum für sie brauche oder ist es teurer für mich sie oder eine Alternative neu anzuschaffen falls nötig?
Wenn die Finanzen der drängendste Punkt sind, dann kommt der energetische tatsächlich erst nachgeordnet, denn ja, eine aufgeräumte Umgebung setzt Energie frei (bzw. bindet weniger), aber das ist Schaffensenergie. Damit kann ich weder Miete bezahlen noch einen Kühlschrank füllen.
Wir sind damit wieder bei den privilegierteren Heransgehensweisen, bei denen dieses Mehr an Energie durch eine optimalere äußere Umgebung umgesetzt werden kann in größeren honorierten Output.
Gerade die, die also eine besonders für sie passende Umgebung brauchen, nämlich die, die schon defizitär bzw. super knapp kalkulieren müssen, wenn es um Zeit, Energie, Fokus und Geld geht, gerade die können sich diese Umgebung besonders schwer schaffen.
Geld und Energie allgemein (Geld ist immer ein Energieäquivalent, aber der Wechselkurs ist sehr verschieden…) fließt zu denen, die schon welches haben, sodass sie sich mehr Geld und Energie erarbeiten können.
Privilegien ermöglichen es weitere Privilegien heranzuholen.
Das ist nicht das Gesetz der Anziehung, das ist keine positive Psychologie, sondern das ist ganz einfach Kapitalismus pur, und der Grundpfeiler der auseinandergehenden Schere.
Ich schreibe das hier also nicht primär für Menschen, die losziehen und sich die beste Sortiereinheit für ihre Schubladen kaufen können und mal eben guten Gewissens ihre Garderobe halbieren. Ich schreibe es wenn für sie, um Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was das für ein Privileg ist, das zu können und dass das, was ihnen so sehr helfen kann, nicht automatisch auch der Weg für alle anderen ist.
Ich schreibe das für die, die eher damit struggeln, dass sie eine ordentlichere Umgebung bräuchten, sich das aber so schwer umsetzen lässt.
Der Punkt ist immer der, dass wir über die Schwelle kommen müssen, hinter der das Aufräumen mehr Energie gibt, als es kostet.
Das kann für einen sehr reizoffenen Menschen wie mich eine relativ niedrige Schwelle sein, auch wenn die Zeitkosten hoch sind, aber ich kann wirklich kaum anderweitig arbeiten (weder Erwerbsarbeit, noch Haushalt noch Care), wenn es hier unordentlich ist (Vorsicht vor dem Punkt, an dem man so eingeschränkt dadurch ist, dass man den Haushalt nicht schafft, weil der Haushalt nicht geschafft ist!), das kann für einen Menschen mit besseren Reizfiltern eine wesentlich höhere Schwelle sein. An sie richtet sich auch primär der Spruch von wegen: „Ja komm, schraub einfach ein bisschen deine Ansprüche an den Haushalt runter und kümmere dich um die wichtigen Dinge (Kinder und Lohnarbeit).“
Meiner Erfahrung nach sind es vor allem Mütter, die hier einen echt harten Job machen.
Meiner erweiterten Erfahrung nach sind es vor allem Mütter mit sehr fordernden Kindern, die hart am und überm Limit sind.
Dass Kinderhaben ein Armutsrisiko vor allem für Mütter ist, verschärft das Thema.
Lasst euch bitte nicht niedermachen von den Aussagen mancher Aufräum-Coaches, dass sie auch schon mit 4 Kindern auf 90qm Ordnung halten konnten und nicht erst in der bodentief befensterten Bauhausvilla, die sie jetzt bewohnen, Hauptsache jedes Ding hat ein Zuhause und man hat gute Aufräumroutinen.
Ich weiß nicht, wie eure Kinder so drauf sind, aber meines ist nicht wirklich kompatibel zu Aufräumroutinen, außer es ist nicht da.
Wer also mit noch nicht betreuten Kleinkindern zu Hause ist oder mit Kind krank oder wer selbst einfach immer an der Arbeit ist, wenn das Kind in der Betreuung ist: Es ist verdammt hart.
Also.
Wer jetzt noch sagt:
Her mit den Tipps fürs Aufräumen und Ordnung halten, in Mama-Alltag-kompatibel, weil Hölle ja, mir würde eine äußere Ruhe so viel innere Ruhe geben, ich bin sicher, ich will über diese Schwelle, der bzw. die lese nun weiter.
Tipps für äußere Ordnung, auch bei wenig Energie
Siehe da, ich habe keinen Quick-Fix für euch. Quick-Fixes sind immer Privilegien. Also. You are here for the long run. Aber es gibt ein paar schöne Etappen.
Sehr empfehlen kann ich euch das Profil von @goldkindchen_ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) . Ihre Wochen- und Monatsputz- und -aufräumpläne sind schön kleinteilig, sodass ihr euch Stück für Stück durcharbeiten könnt. Jenny hat sicherlich auch etliche Privilegien auf ihrer Seite (sie kann Wäsche falten, während ihre Tochter spielt, die Wohnung ist hell, es gibt einen Staubsaugroboter…), die Pläne als solches sind aber wirklich gute Stützen, um schon mal den Mental Load des Ordnungschaffens drastisch runterzufahren: auf den Plan gucken und relativ stumpf abarbeiten, was drauf steht. Die Pläne sind dabei gut anpassbar.
Falls möglich: arbeitet projekteweise. Stapelverarbeitung ist da das Stichwort. So, dass ihr möglichst selten für ein und die selbe Aufgabe neu ansetzen müsst. So, dass es ein klares Ende der Aufgabe gibt. So verfahre ich gerade mit meinem Papierkram und habe ich es vorher mit meinem digitalen Datenwust gemacht. Es hat mich Monate gekostet die Daten in den Griff zu bekommen (was so aufgelaufen ist nach heftiger Baby- und Kleinkindzeit gefolgt von Corona) und am Papierkram sitze ich gerade. No Quickfix. Aber wir gehen die Sachen an.
Allein auch mental bei einer Sache zu bleiben, hilft sehr.
Also zusätzlich zu den täglichen Putz- und Aufräumaktionen, sucht euch EIN weiteres Projekt und arbeitet es ab. Jeden Tag ein bisschen oder gern auch ein bisschen mehr. Was so geht.
Koppelt neue Routinen an bestehende. Sowas wie: nach dem Zähneputzen werden alle Klamotten aus dem Bad aufgesammelt und auf die Wäschekörbe, die „getragen, aber geht noch Stühle“ oder die entprechenden Schränke verteilt.
Belohnt euch selbst. Wenn Geld limitiert ist, belohnt euch damit, dass, wenn ihr ein Projekt abgeschlossen habt, ihr am nächsten Tag nicht direkt das nächste anfangt, sondern die Zeit, die ihr sonst für die Projekte genommen habt, zum Beispiel mal mit einer Folge Serie verbringt.
Arbeitet euch von unten hoch.
Dinge, die auf dem Boden liegen, drücken die Stimmung besonders, durch die nach unten gezogene Aufmerksamkeit.
Macht die Böden frei und da vor allem die Laufstraßen. Als erstes sollten die Wege in der Wohnung „barrierefrei“ werden.
Keine Engstellen in den Hauptwegen. Alle Türen und Fenster sollten sich vollständig öffnen lassen. Bei Fenstern kleine Ausnahmen für die Pflanzenfans unter euch natürlich. Aber denkt dran: Das Licht ist eeeeigentlich zuerst für euch und dann erst für eure Pflanzen.
Räumt das zuerst auf, was den größten Energiekick verspricht. Bei mir ist das meist die Küche, dann das Bad.
Ihr braucht keine fancy Plastiksortiereinheiten. Schuhkartons, Obstkistchen aus Holz oder Pappe (z.B. für Mandarinen oder Cherrytomaten) und was der Paketbote sonst noch so mitbringt, das geht auch.
Beschriftet alle Staucontainer. Ein Labelgerät ist super, ja, Sticker und Kugelschreiber tun es aber auch. Idealwerweise lassen sich die Etiketten gut wieder ablösen.
Ja, jedes Ding braucht ein Zuhause. Wie rasch könnt ihr die Spülmaschine mit ihren zig Teilen ausräumen, weil klar ist, wo alles hin kommt? Wie lange dauert es Kindergartenmitbringsel, Papierkram und "ich hab da mal was mitgebracht" zu verräumen?
Was kein Zuhause hat, bekommt einen extra Ort, eine große Kiste, eine Schublade, oder was für euch passt. Ist der Platz voll, wird ausgemistet.
Die Liste ließe sich noch ziemlich weit fortsetzen. Was ich sehr gern für euch in Zukunft machen kann. Da habe ich noch einiges auf Reserve aus meiner Marie-Kondo- und Clear-your-clutter-with-Feng-Shui-Zeit, was ich mit meinem jetzigen besseren Verständnis für Privilegien und Familienleben zusammen bringen kann.
Für heute entlasse ich euch damit:
Privilegien lassen sich vor allem durch Privilegien erschaffen und es gibt individuelle Schwellenwerte.
Und da wir dabei sind:
Es gibt einen weiteren Artikel zum Thema, nämlich ein Interview mit Benedict zum Thema Montessori und Ordnung.
Bis dahin, frohes Schaffen oder gute Scheuklappen! Was auch immer ihr braucht,
alles Liebe,
Heike