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Guten Morgen Tel Aviv - Die Sache mit der Koexistenz, dem Abkommen und der ignoranten Welt

Vor einigen Tagen stolperte ich quasi virtuell über einen spannenden Artikel in der Times of Israel. Er bot einen seltenden Einblick (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), in das, was in Gaza passiert. In Gaza gibt es keine freie Presse, deshalb sind Einblicke in die tatsächlichen Vorgänge im Gazastreifen eine absolute Seltenheit. Der Artikel, in dem es um Bestrebungen Israels ging, in Gaza neue Partner zu finden, die nicht der Hamas angehören, war mehr als deprimierend. Wir alle, die wir uns eine gewisse Koexistenz wünschen, müssen der bitteren Wahrheit ins Auge sehen, dass Israel nicht einmal für die Verteilung von Hilfsgütern Partner findet, die nicht der Hamas angehören. Ja, ihr habt richtig gehört. Israel versucht, die Menschen mit Hilfsgütern zu versorgen, und die Palästinenser weigern sich zur Kooperation, weil niemand als Kollaborateur mit Israel angesehen werden will. Dass diese Angst überhaupt gar nicht unbegründet ist, zeigt die Tatsache, dass die Hamas gerade erst vor ein paar Tagen einen ihrer größten Kritiker, Amin Abed, fast zu Tode schlug. 

(S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Bild aus dem Artikel der Times of Israel: Maskierte Männer des so genannten “Volksschutzkomitees” patrouillieren die Straßen in Rafah, Gazastreifen, 7. März 2024. (AP Photo/Fatima Shbair)

Wie jede faschistische Diktatur hat auch die Hamas-Herrschaft ihr Volk erfolgreich in den Ruin getrieben. Wenn nur die “Zivilisten” von Gaza das endlich begreifen würden. Wenn die Stimmen gegen die Hamas nur lauter würden. Wenn es nur mehr wären. Aber natürlich bleibt das ein frommer israelischer Wunsch, wenn man bedenkt, dass selbst gebildete freie Westler nicht kapieren, was hier zwischen Gaza und Israel wirklich abgeht. Wenn Leute wie die Propagandistin Emilia Roig an der Freien Universität ihre antisemtischen Pseudo-Wissenschaftlichen Ideologien an junge Studierende füttern darf, dann ist das postfaktische Zeitalter der Fakenews endgültig in dem Bereich angekommen, dem wir in einer Demokratie am meisten vertrauen können sollten. 

Die westliche Welt ist nicht in der Lage den Islamfaschismus als das zu bennen, was er ist

Wenn also die westliche Welt nicht einmal in der Lage ist, vom Iran bis Gaza Extremisten und Terroristen, ja Islamfaschisten, als das zu benennen, was sie wirklich sind, dann stehen wir wirklich schlecht da. Und ja, dazu zähle ich auch die vielen Jubelschreie über die Wahlergebnisse in Frankreich. Es mag aus deutscher Perspektive wichtig sein, dass die Rechten nicht gewonnen haben - Frankreichs Juden sind mit dem Ergebnis aber höchstens vom Regen in die Traufe gekommen. Nach aktuellen Meldungen denken momentan mehrere zehntausende französische Jüdinnen und Juden darüber nach, ihre Heimat zu verlassen. Der Wahlerfolg des linken Bündnis’, dessen Initiator der antisemitische Jean-Luc Mélenchon ist, gibt zumindest französischen Jüdinnen und Juden keinerlei Hoffnung, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Französische Intellektuelle wie Bernard-Henri Lévy, der in seinem neuen Buch “Solitude d'Israel”, entschlossen für den jüdischen Staat eintritt, sind mehr denn je Zielscheibe von Beschimpfungen, einschließlich Drohungen gegen die persönliche Sicherheit.

An all diejenigen gerichtet, die sich - zurecht -um die Zukunft der Palästinenser sorgen, ich sag nur “All Eyes on Rafah”, möchte man schreien: Was wir in dieser verqueren Welt, so wie sie gerade ist, ganz sicher nicht bekommen werden, ist eine Zwei-Staaten-Lösung, geschweige denn eine Koexistenz oder gar eine Utopie wie Frieden. Es ist wirklich herzzerreißend. Herzzerreißend weniger für die Sofa-Soldat:innen, die ihren Kampf gegen den Zionismus (aka Israel aka Jüdinnen und Juden) auf Instagram und Co führen, denn die sitzen ja in ihrem sicheren Stübchen. Weit weg vom tatsächlichen Konflikt. Aber schon sehr herzzerreißend für uns, die hier leben. Für diejenigen, die die Konsequenzen dieses Konflikts spüren. Tag für Tag. Gefühlt an Millionen Tagen seit dem 7. Oktober. 

In Israel gingen derweil am Sonntag wieder tausende Demonstranten auf die Straße, um für einen Geiseldeal mit der Hamas zu protestieren. Der landesweit ausgerufene Demonstrationstag markierte neun Monate seit dem 7. Oktober. Demonstranten blockierten ausserdem Autobahnen und hielten Kundgebungen vor den Häusern von Regierungsministern ab. Währenddessen verhandelt eine israelische Delegation wiederum in Doha um einen Geiseldeal und Waffenstillstand. Die Hamas hatte sich in dieser letzten Runde etwas verhandlungsbereiter gezeigt als sonst. Allerdings fürchteten viele Vertreter des Forums der Geiselfamilien, dass Israels Premier dieser Verhandlungsbereitschaft nicht positiv begegnen wird. Und prompt kam am Sonntagabend eine Erklärung des Büros des Premierministers (PMO) zu den „roten Linien“ Israels, die auf viel Kritik stiess, auch aus den Reihen der Regierung.

Demonstranten am 7. Juli 2024 in Tel Aviv (Bild: KHC).

Die Medienseite Ynet merkte an, dass die Ankündigung des israelischen Staatschefs vor einer Lagebeurteilung mit dem Verteidigungsminister und anderen Militärs erfolgte und ohne vorherige Absprache oder Konsultation zustande kam. Der Verteidigungsminister sowie weitere hohe Vertreter der israelischen Armee hatten zuletzt immer dringender ein Abkommen und einen damit verbundenen Waffenstillstand gefordert. Auch weil der Tribut für Israel immer höher wird: Seit Beginn des Gaza-Krieges vor neun Monaten wurden 9.250 Soldat:innen verwundet, das teilte das Verteidigungsministerium am Dienstag mit. Mehr als 320 Soldat:innen sind seit dem 7. Oktober gefallen.

Siebzig Prozent der Verwundeten sind Reservisten, während 30 Prozent entweder Wehrpflichtige oder Berufsoffiziere sind. Etwa die Hälfte der Verletzten ist unter 30 Jahre alt. Etwa 35 Prozent der Soldat:innen klagen über seelische Schäden, häufig über eine posttraumatische Belastungsstörung. Auch die Situation im Norden Israels wäre mit einem möglichen Abkommen verbunden, da die Hisbollah angekündigt hat, ihre Kriegshandlungen einzustellen, sollte ein solches Abkommen mit der Hamas zustande kommen.

Das Leben der Geiseln steht auf dem Spiel

Nicht zuletzt steht das Leben der noch in Gaza verbleibenden Geiseln auf dem Spiel. Jeder weitere Tag in Gefangenschaft ist für sie und ihre Familie unerträglich. „Wir befinden uns in einem kritischen Moment der Verhandlungen, das Leben der Geiseln hängt davon ab, warum also solche provokativen Botschaften veröffentlichen? Was trägt das zum Prozess bei?“, fragte Oppositionsführer Yair Lapid in einem Post bei X. Und zumindest das halbe Land nickte zustimmend. Denn ja, Israel ist weiterhin, das hat sich seit den Protesten der Justizreform nicht groß geändert, tief gespalten. Auch, was die Frage eines Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas angeht. 

Auf der Demonstration in Tel Aviv ahnten viele Teilnehmenden schon, dass der israelische Premierminister wie in der Vergangenheit die Verhandlungen um ein Abkommen eher erschweren als erleichtern würde. Für den Regierungschef steht in erster Linie seine Macht auf dem Spiel: Ein Teil seiner Regierungskoalition ist gegen einen Geiseldeal. Sollte dieser zustande kommen, wird die Regierungskoalition mit grosser Wahrscheinlichkeit zerbrechen.

In Tel Aviv hörte ich auch dabei zu, wie Einav Zangauker, deren Sohn Matan im Gazastreifen gefangen gehalten wird, aus einem Käfig, der von der Brücke auf der Begin-Strasse hing, zu den Demonstranten sprach: „Es liegt ein Deal auf dem Tisch, der Leben retten kann, und zwar das Leben von uns allen. Ich will, dass Matan nach Hause kommt, ich will, dass alle Geiseln jetzt nach Hause kommen. Ich möchte Netanjahu sagen: Die Schlüssel zu diesem Käfig und allen anderen Käfigen liegen in Ihren Händen. Neun Monate lang haben Sie die Geiseln im Stich gelassen. Netanjahu - hören Sie auf, den Deal zu verzögern. Wir wollen sie zu Hause haben, und es liegt an Ihnen, sie nach Hause zu bringen.“ Sie, die wir seit Monaten beim Kampf um ihr Kind beobachteten, sah dabei älter und müder als je zuvor aus. Und in jedem Gesicht, das ich bei den Protesten um mich herum sah, stand eine ähnliche Verzweiflung.

Israelis fühlen sich dieser Tage vor allem eines: Allein gelassen von der Welt. 

Als ich einen Abend später im berühmten Tel Aviver Lokal Jos we Loz dabei zusah, wie die jungen tätowierten Kellner:innen das Friedenslied “Shir le Shalom” anstimmten und wie das ganze Restaurant mitsang, verwandelte sich diese Müdigkeit in Tränen. 

“Erhebe deine Augen mit Hoffnung

Nicht durch die Visiere der Gewehre

Sing ein Lied für die Liebe

Und nicht für Kriege

Sag nicht, dass der Tag kommen wird

Bring den Tag herbei -

Denn er ist kein Traum

Und auf allen Plätzen der Stadt Jubelt nur dem Frieden zu!”

Auch Amit neben mir sang mit. Später, zu Hause, als wir uns die Hitze des Tel Aviver Julitages abwuschen, fragte er leise: Meinst du die Palästinenser haben auch solche Friedenslieder wie wir?

Ich fürchte die Antwort. 

Link zum Song (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

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