Guten Morgen Tel Aviv, Ausgabe 3
WIR
Guten Morgen Tel Aviv, die Luft ist frühlingshaft, die Vögel zwitschern vor meinem Fenster. Wir waren Samstagabend bei einem fantastischen Konzert, extrem berührend. Extrem traurig. Zu traurig für mich. Ich halte traurige Dinge aktuell nur in kleiner Dosierung aus. Nach zwei Stunden emotionaler Musik heulte ich mich also bis 2 Uhr nachts in den Schlaf. Und das war schon das zweite Mal in knapp einer Woche, das es mich so umgehauen hat. Guten Morgen Tel Aviv, guten Morgen Schmerz und Tränen. Guten Morgen auch an euch meine lieben Leser:innen. Na die Ausgabe beginnt ja super..
Krieg als Lupe
Fünf Monate ist der 7. Oktober jetzt her. Seit fünf Monaten leben wir im Krieg. So ein Krieg funktioniert wie eine Lupe. Alles, was schön ist an deinem Leben, wird schöner. Alles was beschissen ist, richtig beschissen. Probleme, die du mit dir selbst, in deinen Beziehungen hast, werden in höchster Intensität sichtbar, wenn du die Kriegslupe draufhältst. Der Krieg, der trifft uns in sich verändernden Phasen.
In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober befanden wir alle uns in Schockstarre. Von überall prasselte Trauma, Trauma, Trauma auf uns nieder. Darauf folgte der Versuch, irgendwie weiterzumachen, Resilienz abrufen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Dazu kam dann ein bisschen Aktivität, Wut, Verzweiflung, Aktionismus (in meinem Fall immer das Schreiben). Und irgendwann, in meinem Fall so etwa nach fünf Monaten, begannen wir, das ganze Ausmaß der Erschöpfung zu spüren. Die Konsequenzen dessen, was man da seit Wochen mit sich herumträgt. An diesem Punkt bin ich jetzt angekommen.
An dem Punkt, an dem die meisten Menschen in Deutschland wahrscheinlich schon kaum noch über den 7. Oktober nachdenken, fängt er bei mir so richtig an, Kreise zu ziehen. Und so wie mir geht es den meisten Menschen, die ich in Israel kenne. Neulich sprach ich mit meiner Freundin E. Sie ist in einer relativ frischen Beziehung und erzählte mir, dass ihr Freund sich schon jetzt eigentlich viel zu viele Gedanken macht, ob das mit den beiden langfristig passt. Wir diskutierten ein wenig hin und her. Darüber, ob man sich als Paar eher ähnlich sein oder sich eher ergänzen sollte (wahrscheinlich ein bisschen von beidem!) Zwischendurch brach sie in Tränen aus, weil sie fand, dass ich die Situation zu hart bewertet hatte. Und schließlich rief sie, nun wieder in Bezug auf die Beziehung mit ihrem Freund: „Ich wünschte, er würde einfach ein bisschen mehr im Moment leben!“ Als ich sie daraufhin umarmte, sagte ich: „Vielleicht darfst du das aber auch nicht überbewerten, wir sind alle komplett irre seit dem 7. Oktober.“ Und sie nickte, weil sie sofort verstand. Dieses gegenseitige Verständnis ist es auch, was mich seit Monaten durch den Krieg trägt. Wir Israelis lassen einander seit dem 7. Oktober extrem viel durchgehen. Überreagieren, plötzliches Absagen, Hypersensibilität, ungewöhnliche Aggressivität- all das erleben wir miteinander und an uns selbst und wissen: Wir müssen großzügig miteinander sein, weil, schau mal, was wir durchgemacht haben in den letzten Wochen.
Mein “Wir”, das sind vor allem diese drei Herren.
Wir sitzen mit dem Tod und Schmerz an einem Tisch
Wir Israelis sitzen seit dem 7. Oktober in stillem Einverständnis mit dem Tod und dem Schmerz an allen Tischen. Die zwei sind immer dabei. Wir stellen ihnen ein Glas Wasser hin und leben dann so weiter. Wieviel diese Gemeinsamkeit wert ist, wurde mir klar, als ich vor einer Woche in Deutschland war, um dort auf einem Podium über den Einsatz von Vergewaltigungen als Kriegswaffe zu diskutieren. In den vier Tagen in meinem Heimatland, fühlte ich mich extrem isoliert. Ich hatte dort das Gefühl, mich ständig erklären zu müssen. Überhaupt, ständig erklären zu müssen, dass Israel sich fundamental verändert hat in den letzten fünf Monaten. Das wir alle, egal wie okay wir scheinen, egal wie okay wir sein wollen, überhaupt gar nicht okay sind. Nachdem ich anderthalb Stunden in dem Podium verbrachte und mich davor und danach geradezu durch den Smalltalk quälte, brach ich noch in Berlin zusammen. Das war vor 10 Tagen und ich habe mich immer noch nicht erholt.
Gemeinsam auf dem Podium zum Thema “Sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg” mit vier beeindruckenden Frauen (von li nach re): Johanna Wolf de Tafur, Oleksandra Bienert, Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Teresa Widlok (Moderation)
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