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Begegnung

Eine fiktionale Kurzgeschichte

Blumenwiese

„Oh ja!“ Eine Frauenstimme, lebensbejahend, selbstsicher.
Ich habe noch nie vorher jemanden so oft „Oh ja!“ sagen gehört. Immer wieder in Gesprächen eingebunden, besser gesagt, kurz abschweifend. Etwas wahrnehmend und annehmend: „Oh ja!“

Ich hole tief Luft, schließe meine Augen und lasse die Worte über meine Lippen gleiten, ganz sanft: „Oh ja!“ Nach all den Jahren befinde ich mich wieder in meinen Erinnerungen an dem Ort. Er ist nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Schon als Kind ging ich regelmäßig an diesem Garten vorbei. Er hat mich immer schon fasziniert. So verwildert und verwunschen, alleingelassen mitten in der Stadt. Und da stand sie vor mir. Mitten in diesem Garten. Leichte, schon etwas abgetragene Sommerkleidung an. Ein weiter, flatternder Rock und eine verwaschene Bluse mit kleinen Blümchen darauf. Das lange, graue Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Augen leuchtend. Und über ihre Lippen glitten die Worte „Oh ja!“ beim Betrachten der wilden Sommerblumen um sie herum.

Vielleicht hatte ich da schon eine Ahnung: das ruhige Wesen, die Freude an den Kleinigkeiten, eindeutig keine besondere Wertlegung auf Kleidung, die Erfüllung im Alleinsein. Sie nahm mich wahr. Ihr Gesicht begann zu leuchten. „Oh ja, da bist du ja! Komm herein in meinen Garten!“

Wieder dieses „Oh ja!“ Sich selbst bewusst bewegte sie sich im Garten umher und bestaunte die zarten, rosaroten, violetten und gelben Blumen. Ich folgte ihr auf leisen Zehen. Der Moment wirkte so kostbar auf mich. Ich wollte ihn nicht durch laute Schritte zerstören.

Der Garten war schon seit meiner Kindheit verlassen, zumindest glaubte ich das. Oft träumte ich davon, dort meine freien Stunden zu verbringen, an einem Gartentisch sitzend und das Leben genießend. Ich liebte dieses Wilde, Ungeordnete, ein wenig Versteckte. Und nun ging da jemand vor mir her durch diesen Garten. Sie kannte ihn in- und auswendig. Das merkte ich an ihren Bewegungen und liebevollen Blicken. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass an der Mauer ein grüner Gartentisch mit vier grünen Sesseln stand. Genau so, wie ich es mir schon als Kind vorgestellt habe.

Vielleicht hatte ich da schon eine Ahnung: Ich nahm wahr, dass ihr beim Gehen die rechte Hüfte schmerzte. Immer wieder legte sie ihre rechte Hand auf diese Stelle. Humpelte ein kleinwenig. Begleitet mit ihrem lebensbejahenden „Oh ja!“ Sie schien angekommen zu sein, dort wo sie war. Dort, und nirgendwo anders gehörte sie hin. Oder war der Ort vielleicht doch nebensächlich?


Sie ging zu dem grünen Gartentisch und bot mir mit einem Lächeln im Gesicht einen Platz an. Ich setzte mich mit Blick auf den Garten. Erdbeeren mit Schlagsahne und ein kühler Himbeersaft standen bereit. Hatte sie jemanden erwartet? Sie schob mir eine Schüssel entgegen. Ich nahm den Löffel und kostete von den Erdbeeren. Eine angenehme Süße breitete sich in meinem Mund aus. Die Erdbeeren waren mit Zucker gesüßt. Kindheitserinnerungen kamen bei mir auf. „Oh ja, die schmecken wirklich gut.“, sagte meine Gastgeberin.

Oder ahnte ich es, als sie ihre Hündin liebevoll streichelte, die vorhin noch in einem kühlen Eck schlief. Oder als sie verträumt in den Himmel schaute. Oder als sie mir von ihrem Leben erzählte. Sie sprach von einem ruhigen Leben. Begleitet von ihrer Familie und ihren Hündinnen. Manchmal schlich eine Träne über ihr Gesicht, wenn sie von liebgewonnenen Lebensbegleitern erzählte, die nicht mehr unter uns weilten. Sie sprach mit leuchtenden Augen von ihren Hobbys: schreiben und malen. Nur für sich. Schon immer wieder in die Öffentlichkeit hinaustragend, aber im Grunde nur für sich. Nur für sich. Das hat sie wohl ab einem gewissen Alter begleitet. Rückzug aus einer lauten, immer schnellwerdenden Welt – nur für sich. Die wilde Natur genießend – nur für sich. Ein liebevolles Zuhause für Hündinnen aus rumänischen Sheltern schaffend – nur für sich. Das Leben liebend, in seiner Einfachheit – nur für sich.

Vielleicht hatte ich da schon eine Ahnung, als sie mehr von mir wissen wollte. Wie ich mein Leben verbrachte. Womit ich meine Stunden füllte. Welche Träume ich hatte. Ich erzählte ihr von alledem. Das mir das Leben oft zu viel ist. Zu viele Leute um mich herum. Zu viele „Muss“. Zu viele schlechte Nachrichten im Fernsehen. Meine Zuflucht fand ich in meiner Kreativität: schreiben und malen. Und bei meiner Hündin. Mit ihr ging ich oft in den Wald. Raus in die Natur. Mich erden. Ich sehnte mich nach Ruhe, nach einem einfachen Leben.

Und da war es nicht mehr nur eine Ahnung. Diese ältere Frau, mit ihrem grauen Pferdeschwanz, ihrer Hündin aus dem rumänischen Shelter, der schmerzenden rechten Hüfte, ihrer Kreativität. Es traf mich. Diese Frau lebte mein Leben, welches ich mir erträumte. Aber nicht nur das, war diese Frau ich? Mein zukünftiges Ich?

Am nächsten Tag machte ich mich wieder auf den Weg zu dem versteckten, wilden Garten. Ich musste mit der alten Frau noch einmal reden. Wollte mehr erfahren. Mehr über sie. Mehr über mich. Mehr über ihr Leben. Mehr über mein Leben. Nach ein paar Minuten Fußweg kam ich an der Gartentür an. Es war wieder alles wie vor ein paar Tagen, wie in meiner Kindheit. Vor mir lag ein verwilderter, verlassener Garten.