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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Über Scham, Begehren und die Unmöglichkeit, Begierede in die reale Welt zu holen. Eine etwas andere Rezension.

© Pandora Film / Row Pictures

Dieser Text sollte eigentlich ganz anders werden. In einer früheren Version habe ich versucht, eine normale Rezension über "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" von Emily Atef zu schreiben. Die Besonderheiten des Films herauszuarbeiten, stilistische Kniffe, Dialoge, so etwas eben. Aber je tiefer ich in meine Erinnerung an den Film eintauchte, je länger ich schrieb, desto mehr wurde mein Schreiben ein einziger Versuch, die Gefühle, die die Geschichte in mir hinterlassen hat, zu bewältigen.

So übervoll hat mich die filmische Umsetzung des gleichnamigen Romans von Daniela Krien zurückgelassen, dass ich eine Woche lang nicht dazu in der Lage war, auch nur einen klaren Satz über das, was ich gesehen hatte, zu denken. Ich konnte nur fühlen. Normalerweise, wenn ein Film so vielschichtig ist, dass ich von meinen Gefühlen so überwältigt werde, schaue ich ihn einfach nach kurzer Zeit noch einmal. Danach sehe ich klarer und kann meine Eindrücke in meinem inneren Archiv einsortieren.

Hier geht das nicht. Der Gedanke, den Film noch einmal zu schauen, löst in mir einen Fluchtreflex aus, das Bedürfnis, mich zu schützen vor den Gefühlen, die er auslöst. Aber dieser innere Sturm ist ja nun einmal da, und ich weiß, dass ich ihn durchleben muss, wenn ich da heil wieder rauskommen will. Und deshalb ist dies keine normale Rezension.

Sommer 1990, ein kleines Dorf in Thüringen. Die Mauer ist gerade erst gefallen, Leben und Menschen befinden sich in diesem verwaschenen Niemandsland, das man immer dann betritt, wenn etwas Altes noch nicht ganz weg und etwas Neues noch nicht ganz da ist. Für die Älteren ist die Wende eher eine schmerzhafte Zäsur, sie verlieren Jobs, ihr Land seinen Wert. Für die Jungen dagegen bedeutet die kleinen Anarchie eine Chance auf Selbstfindung.

Johannes etwa entdeckt seine Liebe zur Fotografie und beschließt, in Leipzig Kunst zu studieren. Maria, seine Freundin, die auch bei ihm und seinen Eltern wohnt, nutzt den Zusammenbruch schulischer Disziplin - viele Lehrkräfte kommen gar nicht mehr zum Unterricht -, um sich mit dem zu beschäftigen, wofür sie im Inneren brennt. Dostojevski zum Beispiel. Sie schwänzt die Schule, verliert sich in Literatur.

Eines Tages trifft sie in den endlosen Agrarlandschaften auf den Nachbarn Henner, gespielt von Felix Kramer. Er ist doppelt so alt wie sie, geschiedener Alkoholiker und ein Außenseiter im Dorf. Umständehalber kommt es zu einer einzigen Berührung, die für beide alles verändert. Etwas geht dabei vom einen auf den anderen über und verbreitet sich wie ein schnell wirkendes Gift in den Körpern. Maria, die von Marlene Burow dargestellt wird, durchbricht den Moment zwar schnell und läuft weg, aber schon kurze Zeit später besucht sie den heruntergekommenen Hof von Henner wieder.

Ohne zu sprechen ist beiden klar, warum Marie bei ihm ist. Zwischen behutsamer Zartheit und unnachgiebiger Zielstrebigkeit zieht der erwachsene Mann die sehr junge Frau aus. Die Quintessenz von Intimität entsteht hier und es ist ungeheuer aufregend, dabei zuzusehen. Die Spannung steigert sich so sehr, dass ich es körperlich fühlen kann, doch als sie sich schließlich entlädt und Henner wie im Kampf über Maria herfällt, mischen sich in meine Erregung dunkle Schlieren. Jemand, der so begehrt, wie Henner es tut, trägt eine Dunkelheit in sich, von der ein junger Mensch wie Maria noch nichts wissen kann.

Doch diese Geschichte bedient nicht das Klischee vom älteren Mann, der eine junge Frau in eine toxische Beziehung hineinmanipuliert. Dazu ist Henner selbst viel zu zerbrechlich. Immer wieder wechselt er zwischen rücksichtsloser Brutalität und verletzlicher Offenheit. Erst nach einer Weile verstand ich, dass dieser Mann ein seltenes Sowohlalsauch ist, ein Einerseitsandererseits.

Irgendwo in diesen dialogarmen, aber unglaublich intensiven und sprechenden Begegnungen habe ich mich an diesen Film verloren. Das Gift, das durch Marias und Henners Adern pumpt, hat auch mich vergiftet. Ich verliere die sichere Distanz, Maria wird zu meiner Verbündeten und meinem Werkzeug, sie verbringt statt meiner Zeit mit Henners Ambivalenz, setzt sich statt meiner der Gefahr aus. Sie ist eine Verlängerung all meiner Sehnsüchte.

Ich würde sterben, um nur eine Nacht mit einem so vielschichtigen Charakter wie Henner zu verbringen, stundenlang in diese Brüche einzutauchen, bis ich verstehen kann, warum dieser Mann liebt wie er liebt und fickt wie er fickt. Vielleicht würde ich auch töten dafür. Denn nichts kickt mich so sehr wie Persönlichkeiten, die durch ihre Komplexität Gier nach Verstehen in mir auslösen. Henner ist so eine Persönlichkeit. Er ist so vieles gleichzeitig, und zwar ohne dabei durchzudrehen, dass ich jede Facette der Figur kennen möchte, jede Erhebung und jedes Tal seiner Innenwelt.

Das klingt cringeworthy, wie man so schön sagt, aber es kommt noch besser. Ich war so gefangen von dem Wunsch, Henner zu begreifen, dass ich Felix Kramer bei Instagram gefragt habe, ob er mir einige Fragen zu der Rolle beantworten würde. Er hat wenig überraschend auf die Anfrage nicht reagiert und gestern Nacht wurde mir schließlich klar, dass ich mich auch deshalb nicht von diesem Film befreien kann, weil ich mich für meine Empfindungen schäme.

Sich an einen fiktiven Charakter zu verlieren, ist weder neu noch ungewöhnlich. Auf Social Media gibt es ganze Blasen, in denen Frauen selbstbewusst zu ihrem Begehren eines fictional lover bekennen, Frauen, deren Sexualität einzig um einen book boyfriend kreist. Aber ich bin so nicht. Ich bin ein Mensch, der in der Realität lebt, der seine eigenen Projektionen durchschaut und schnellstmöglich zu überwinden versucht. Und deshalb war es mir peinlich zu fühlen, was ich fühle. Und ich habe alles versucht, das alles abzulegen, ohne mich diesen uncoolen Empfindungen zu stellen.

Der Weg ins Unheil beginnt in dieser Liebes- und Lustgeschichte, als Maria, die in Johannes Familie bereits als künftige Schwiegertochter gesetzt ist, versucht, die Essenz von Liebe und Lust zwischen ihr und Henner in einen formalen Rahmen zu gießen. Sie will sich von Johannes trennen und zu Henner ziehen. In diesem Augenblick wird überdeutlich, dass Henner im Gegensatz zu Maria die Lust zwischen ihnen immer mit einem Realitätsbewusstsein gelebt hat. Er weiß um die Eigenheiten des Begehrens und nirgendwo wird der Erfahrungsunterschied zwischen beiden so deutlich wie darin.

Liebe, Begierde, Lust, diese ganz großen Gefühle eint alle, dass sie in der stofflichen Welt nicht überlebensfähig sind. Sie können nur im Moment existieren, ohne Zeit und Raum, oder im eigenen Kopf. Jeder Versuch, sie aus dem Jetzt oder der eigenen Fantasie zu heben, kann nur scheitern, denn alles, was außerhalb ist, beschränkt die Grenzenlosigkeit der Empfindung und verformt sie. Sie kann nur im eigenen Kopf frei sein, wo man im Moment verharren kann, ohne dass Zeit vergeht, ohne dass sich die Frage nach einem Wiedersehen an einem vollen Terminkalender abstößt.

Jedes Treffen von Maria und Henner ist die Quintessenz einer unsterblichen Begierde, nicht nur wegen der beinahe brutalen Körperlichkeit. Doch sobald das Bild nur ein kleines bisschen herauszoomt, sobald man das Dorf, die Zeit, den Altersunterschied, den betrogenen Freund mit einbezieht, verformen sich die Gefühle. Maria und Henner wollen und brauchen voneinander mehr als das Leben in einem kleinen thüringischen Dorf kurz nach der Wende hergibt. Die Welt ist zu klein für das, was sie teilen.

Und vielleicht ist das der Grund dafür, dass mir dieser Film so sehr den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Henner existiert im grenzenlosen Raum meines Kopfes. Er macht mir Angst, ich begehre ihn über alle Grenzen der Vernunft hinweg, ich leide seinetwegen, bin gierig nach ihm. Doch so unmöglich wie es mir ist, dieser Figur in der Realität zu begegnen, so unmöglich ist Marias Versuch, diese Liebe in ihrem Leben zu verankern.

Ihr Wunsch treibt Henner in eine Sackgasse. Obwohl beide nie viel über ihre unterschiedlichen Lebensrealitäten gesprochen haben, wird deutlich, dass sie Henner die ganze Zeit vor Augen standen. Er weiß, dass eine herkömmliche Beziehung nur zerstören kann. Entweder wird Maria, die noch so jung ist, ihn zerstören, indem sie ihn irgendwann verlässt. Oder er wird sie zerstören, mit seinem Alkoholismus, der tiefen Dunkelheit in ihm, seinem emotionalen Unvermögen. Keines von beidem erscheint ihm ein gangbarer Weg. Verlassen kann er sie nicht, das hat er versucht. Und so trifft er eine Entscheidung.

Ich vermute, der Film hätte auch ohne das absolut niederschmetternde Ende genug Aufruhr in mir verursacht, dass ich einige Zeit gebraucht hätte, um mich zu erholen. Doch die furchterregende Präzision und die kalten Details, mit denen Henners Entscheidung einhergeht, wollten nichts übriglassen. Jede Szene dieses Films tut weh, weil sie wehtun will. Es ist als ob der Film die ganze Zeit mit meinem Mitgefühl, meiner Lust, meiner Erregung, meiner Angst und meinem Schmerz spielt, um mir am Ende ein doppelschneidiges Messer in meine Herzgegend zu treiben und es quälend langsam umzudrehen. Ein Film wie eine Übertötung.

Eine Woche habe ich eine Mischung aus Schmerz und Erregung gefühlt.
Eine Woche habe ich Scham gefühlt.
Und als mir gestern Nacht klar wurde, dass mich nur meine eigene Peinlichkeit davon abhält, zu fühlen, was gefühlt werden muss, konnte ich endlich trauern.

Ich habe geweint um einen Menschen, den es nicht gibt. Ich habe geweint, weil die Zeit meiner inneren Maria, die furchtlos in jeden Sumpf watet und dabei extreme Erfahrungen machen kann, unwiederbringlich vorbei ist. Ich habe geweint um einen Menschen, den ich so schön wie bedrohlich finde. Ich habe geweint um all meine unerfüllten Sehnsüchte und um die Tatsache, dass jede wahrhaftige Begierde unerfüllt bleiben muss, weil wir alle an eine physische Welt gebunden sind.

Obwohl ich gelitten habe und immer noch leide, bin ich dankbar für diese Erfahrung. Obwohl ich mich kein bisschen besser fühle, nachdem ich “Irgendwann werden wir uns alles erzählen” angeschaut habe, fühle ich mich lebendiger. Ich kann nicht sagen, ob der Film mir etwas genommen oder hinzugefügt hat. Aber ich weiß, dass er mich verändert hat. Dass ich nach dem Anschauen nicht mehr dieselbe Frau wie vorher bin. Das ist gleichzeitig das Beste und Schlimmste, was ein Film in mir anrichten kann.

Und vielleicht ist das dann doch wieder ein ganz passender Satz für eine Rezension.

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