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Kunst und Klimaprotest

Kann man berühmte Kunstwerke gegen Klimaprotest gegeneinander aufrechnen?

Junge Menschen wollen auf die Klimakatastrophe aufmerksam machen und bewerfen berühmte Gemälde zu diesem Behufe mit Lebensmitteln. Eine Welle der Empörung geht durch das Netz, weil Protest eine Grenze haben muss, und für viele diese Grenze vor unbezahlbaren Kunstwerken verläuft. Selbst in meiner Timeline – überwiegend linksgrünversifft wie ich selbst und mit viel Sympathie für Klimaproteste – regte sich Unmut über die Aktionen. Beschwichtigungen der "Gegen"seite, dass die Gemälde ja nicht beschädigt worden seien, verhallten vor der bürgerlichen Wut ungehört.

Auf der einen Seite Kulturgüter von unschätzbarem Wert. Nicht nur im monetären oder ästhetischen Kontext, sondern auch im historischen und Bildungssinn.

Auf der anderen Seite ziviler Ungehorsam, der auf eines der drängendsten Probleme der Menschheit, vielleicht sogar das drängendste Problem, hinweist. Der nicht nur die Politik, sondern alle Menschen anklagt, nicht genug gegen dieses Problem zu tun.

Man kann sie nicht gegeneinander aufrechnen. Und der Grund dafür liegt in der Maslow'schen Bedürfnispyramide.

Dieses vereinfachte soziologische Konzept teilt menschliche Bedürfnisse nach Dringlichkeit bzw. Notwendigkeit ein. Ganz unten stehen überlebenswichtige Grundbedürfnisse wie Obdach, Wasser, Nahrung. Nach oben hin werden die Bedürfnisse optionaler, man kann also auch ohne ihre Erfüllung gut leben. Je nachdem, wie (über-)lebensnotwendig ein Bedürfnis ist, kämpfen Menschen mehr oder weniger aggressiv um seine Erfüllung.

Das Problem dabei, Kunst und Klimaprotest gegeneinander abzuwägen, besteht darin, dass beide in der Bedürfnispyramide nicht auf der gleichen Stufe stehen. (Protest an sich ist natürlich gar kein Bedürfnis, aber die Dinge, für oder gegen die protestiert wird.)

Der Klimaprotest steht für eine Bedrohung, die sich gegen überlebenswichtige Bedürfnisse richtet. Durch extreme Wetterphänomene werden nicht nur Menschen direkt getötet, sondern auch Ernten vernichtet und Behausungen zerstört, so dass Regionen zum Teil für lange Zeit unbewohnbar werden.

Kunst hingegen steht weiter oben in der Pyramide. Mit Kunst kann man sich befassen, wenn alle wichtigeren Bedürfnisse erfüllt sind.

Und so prallen an der Frage, ob Klimaprotest auch Kunst angreifen darf, zwei Welten aufeinander. Ein (Bildungs-)Bürgertum, das überwiegend im oberen Teil der Bedürfnispyramide lebt, und eine Gruppe von Menschen, die die Erfüllung der unteren Bedürfnisse bedroht oder zum Teil schon zerstört sieht. Beider Anliegen sind von grundlegend unterschiedlicher Wertigkeit. Nicht subjektiv freilich, ich bin selbst Teil der privilegierten Gesellschaftsschicht und die kleinen Nice-to-haves meines Alltags sind für mich sehr wichtig. Objektiv allerdings sieht es anders aus.

Klimaberichte und Flüchtlingsbewegungen zeigen, dass die Auswirkungen vor allem der Industrialisierung auf das Klima schon heute viel dramatischer sind als wir glauben wollen. Viele Regionen, in denen Menschen lebten, sind bereits heute unbewohnbar.  Inseln schrumpfen oder stehen gleich ganz unter Wasser (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), Temperaturen vor allem im Sommer erreichen lebensbedrohliche Werte (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und natürliche Gewässer versiegen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

Bislang betreffen die Folgen des menschgemachten Klimawandels vor allem den globalen Süden, die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer. Deshalb fällt es vielen privilegierten Menschen so leicht, Protestformen abzulehnen. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass man es sich erst einmal leisten können muss, Kunst den Vorzug gegenüber Klimaprotesten zu geben. Streng genommen ist die schiere Existenz eines Bildungsbürgertums schon Ausdruck einer sozialen Schieflage, in der nicht nur der Zugang zu Wohlstand, sondern auch der zu Bildung oft weniger durch eigene Fähigkeiten und mehr durch die Geburt in eine bestimmte Gesellschaftsschicht bestimmt wird.

Und so wird aus einem Angriff auf Gemälde auch ein Angriff auf das Bürgertum an sich, auf seine ungeschriebenen Regeln, seine Werte, die im Zweifelsfall für weniger privilegierte Menschen andere sind.

Man mag an der Stelle einwenden, dass die überwiegend weißen Aktivistinnen und Aktivisten ebenfalls Teil des bürgerlichen Establishments und darüber hinaus gar nicht selbst von den Folgen der Klimakrise betroffen sind, aber es gehört eben auch zu dieser Bewegung, global und nicht nur für sich zu denken und zu kämpfen. Die Vorzüge des eigenen Lebens – Sicherheit, Zugang zu Infrastruktur und Bildung – auch für jene zu fordern, die diese Vorzüge nicht haben.

Sicher scheint mir: Protest muss Grenzen haben. Nämlich da, wo aus einem Kampf für das Überleben der einen eine Gefährdung des Überlebens anderer wird. Wo – zum Beispiel – Rettungsfahrzeuge durch Proteste behindert werden. Aber wenn es um Kunst geht, um Dinge, die oben in der Maslow'schen Bedürfnispyramide stehen, kann es keine Entscheidung zugunsten der Kunst geben. Es kann Meinungen geben, persönliche Präferenzen, aber keine objektive Entscheidung. Denn am Ende gibt es keine Kunst ohne Lebensgrundlage.

Wenn uns als weiße, gebildete Mitteleuropäer also die Respektlosigkeit vor Werken von van Gogh, Monet oder Warhol anfasst, dann sollten wir uns vielleicht vor Augen führen, dass es a) Menschen auf dieser Welt gibt, denen diese Namen nichts sagen, weil sie täglich um das Überleben kämpfen müssen, weil sie keinen Zugang zu Bildung haben, oder ihnen der Klimawandel bereits die Lebensgrundlage raubt, und b) am Ende keines der Kunstwerke zu Schaden kam.

Empathie. Über den eigenen Tellerand hinausschauen. Und dann sehen, dass die Klimakrise die Voraussetzungen bedroht, die Menschen brauchen, um überhaupt Kunst zu schaffen.

Ihre

Meike Stoverock

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