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»Extrem wahr und unglaublich nah«

Ihr habt es bestimmt gesehen. Das Bild vom Papst in seinem weißen, knöchellangen Daunenmantel, keck wie ein Balenciaga-Model. Falls nicht, voilà: Francisco blanco (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Fake, aber unfehlbar. Unfehlbar, aber fake. Ich habe einen kleinen Tweet zu diesem Bild geschrieben. Einen Tweet – so viel sei zugegeben – nicht gerade arm an Pathos:

»Wenn selbst Menschen aus der eigenen Bubble, clevere Menschen, junge Menschen, nicht sofort begreifen, dass das ein KI-generiertes Bild ist, wie soll das unsere Elterngeneration, unsere Großelterngeneration begreifen. Das Zeitalter der Wahrheit ist vorbei. Ein für alle Mal.«

Ich wurde hart gememed (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) für diesen Tweet. Zuspruch gab es, aber auch viel Gegenwind. Allem voran das Argument, so etwas wie ein Zeitalter der Wahrheit hätte es nie gegeben. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Zum einen werden Zeitalter nicht selten erst in der Retrospektive klassifiziert. Wer also, are we to judge? Und zum anderen: Natürlich ist ein Zeitalter keine absolute Ära, kein universeller Zustand, der mit einem einzigen KI-Bild für beendet erklärt werden kann. Ein Zeitalter wird erst durch einen massiven Umbruch manifestiert, in seinem Wandel definiert, erfasst an einer großen Masse an Momenten und dem Augenblick, an dem diese Masse kritisch wird. Dort, wo der eine gesellschaftliche Wesenszustand in einen anderen kippt.

Aber ja, ganz klar: Das Konzept der Lüge ist nicht neu. Im Gegenteil. Die Lüge ist der beste Freund des Menschen. Und die prahlerische Behauptung, Hunde hätten diesen Platz für sich gepachtet, ist nur ein lobbyistischer Schwindel der weltweiten Vierbeinerinnung. Tolles Wort, oder? Vierbeinerinnung. Lass da draus mal eine Aussprachechallenge für die Erasmus-Bubble auf Tiktok machen.

Bleiben wir aber bei der Lüge und ihrer Darstellung. Der Papst im Bild. Denn darum geht es hier. Es gibt Gruppenbilder von Lenin und Stalin, auf denen einzelne Genossen nach und nach verschwinden, wie die Geschwister von Marty McFly in „Zurück in die Zukunft“. Es gibt Porträts diverser Dynastien, Fürstenhäuser, Königsfamilien, auf denen imbezile Sprösslinge mit viel Mühe aus goldenen Stuckrahmen gemalert wurden. Und es gibt diesen Südländer aus Palästina, der weißgewaschen bis unter den Lendenschurz in jeder bayerischen Amtsstube hängt. Die Lüge in der Darstellung ist alt. Sehr alt. Aber dieser Tage kommen mir, ganz unter uns, drei Aspekte in den Sinn, die vielleicht neu sind.

Was macht es mit dem Gleichgewicht aus Wahrheit und ihrem Gegenteil, dass übermenschliche, quasi posthumane Systeme, dass Algorithmen jede Lüge in wenigen Sekunden fabrizieren können? Dass jede Lüge in ein Bild gegossen werden kann, in etwas, das uns bisher noch als sicherer Beweis gegolten hätte? Nicht in einem aufwändigen, langwierigen Prozess, erdacht und ermeistert durch wenige, hochbegabte Menschen, sondern von wirklich jedermann, in einem Klick, in einem schnellen, unbedachten Augenblick. Was folgt daraus? Aus diesem Anbruch einer so niedrigschwelligen Verfügbarkeit?

Was macht es mit dem Gleichgewicht aus Wahrheit und ihrem Gegenteil, dass eben diese Darstellungen keine Manipulationen eines Originals mehr sind, keine Fälschungen, kein Faksimile einer Urfassung, die man noch zum Entlarven einer Lüge hätte heranziehen können, sondern Neuschöpfungen, selber Originale, bald vielleicht so makellos und so brilliant, dass sie nur noch angezweifelt werden können, nur durch Gefühl & Glaube abgestritten, aber nicht im eigentlichen Sinne widerlegt. Was folgt daraus? Aus diesem Verlust jeder potenziellen Widerlegbarkeit?

Und was macht es mit dem Gleichgewicht aus Wahrheit und ihrem Gegenteil, dass die Lüge schneller, besser, einfacher und billiger produziert werden kann als die Wahrheit? Dass sie uns als Mittel und als Werkzeug dienlicher wird, praktikabler, gefälliger als jede unbequeme Tatsache? Wie lange dauert es noch, bis die Lüge der Wahrheit den Rang abläuft – erst in Zahl, dann an Bedeutung? Oder umgekehrt? Wenn der Hirtenjunge immerzu nur „Wolf“ schreit, dann glaubt ihm keiner mehr. Was aber, wenn ALLE Hirtenjungen immerzu nur „Wolf“ schreien? An welchen Lügner soll ich dann noch glauben? Und was wird aus dem Wolf? Was folgt daraus? Aus der Lüge im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit?

Herzlich willkommen zur vierten Ausgabe von »Feine Auslese«.

#1 / Ich glaube ja noch immer, …

… dass man niemandem vergeben sollte, der zehn Jahre lang für Springer gearbeitet hat. Leider kommen mir 70 Prominente in den Sinn, die das anders sehen. Und wem bitte ist wirklich damit geholfen, wenn der „große deutsche MeToo-Roman“ von einem Mann geschrieben wird? Wem wehrt dieses Buch? Niemandem. Wem dient es? Nur sich und seinem Autor. Immer dieses Land und sein nicht zu stillender Fetisch für jeden gut vernetzten Pimmel, der halbwegs glaubhaft vorgibt, ein Geläuteter zu sein. Freuen wir uns auf Til Schweiger. Mit Sachbuch, Filmidee und RTL Format. Heute in sechs Monaten in jeder deutschen Talkshow.

#2 / Toujours la tristesse

Im Haus gegenüber wohnt ein neuer Mieter – ein sehr attraktiver Typ, meistens oben ohne. Ich verbringe viel Zeit am Küchenfenster und schaue wie beiläufig hinüber. Gestern Mittag fuhr ein offener Laster durch unsere Straße, mit einem stattlichen Laubbaum auf der Ladefläche. Der neue Mieter stand am Fenster, schaute dem Laster hinterher und sagte dann, deutlich sichtbar zu sich selbst: »Baum«. Schnell wollte ich wegschauen, dann entdeckte er mich. Also nickte ich beschämt und sagte gleichsam sichtbar: »Baum«. Für einen winzigen Moment schaute er verwirrt herüber, dann lächelte er, nickte und ein drittes Mal, gemeinsam, sagten wir »Baum«, jeder für sich selbst, hinein in die Stille seiner eigenen menschenleeren Wohnung.

#3 / Eine unangenehme Wahrheit

Stell' mir die unangenehmste Frage, die dir in den Sinn kommt. Aber nur, wenn du dich traust, sie auch selber in diesem Newsletter zu beantworten. Jeden Monat eine Frage. Jeden Monat zwei Antworten. Deine und meine! Schick deine Frage und deine Antwort einfach an feineauslese@paulbokowski.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Julian fragt: »Hand aufs Herz: Denkst du manchmal darüber nach, den perfekten Mord zu begehen?«

Paul / »Hand aufs Hirn: Danke nein. Das heißt aber nicht, dass ich nicht hin und wieder meine Mitmenschen in einen subatomaren Zustand schnipsen oder mit einer Poolnudel hauen möchte. Was ich aber wirklich gerne mal machen würde (und jetzt wird es weird): Eine Leiche verschwinden lassen. Bitte keine Echte. Aber möglichst lebensnah. Holodeck oder Rügenwalder Mühle. Und dann würde ich gucken, wie lange man in den eigenen vier Wänden wohl so braucht. Ich glaube ja, man käme schon ziemlich weit mit Cillit Bang und einem Thermomix. Und frag-mutti.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) sagt sicherlich Backpulver & Branntweinessig.«

Julian / »Ich weiß, wie das jetzt klingt, aber mir den perfekten Mord auszumalen, ist seit Jahren meine wirklich allerliebste Einschlafbeschäftigung. Weil es mich zuverlässig von allen großen und kleinen Sorgen ablenkt und mir oft genug das Gefühl gibt, am Ende des Tages noch was Produktives geleistet zu haben. Meistens erinnere ich mich am nächsten Morgen nicht mehr an diese eine geniale Idee, die ich kurz vor dem Wegnicken hatte. Aber wer weiß, vielleicht ist das auch besser so.«

Julian ist vorrangig Autor und kommt wie alle echten Berliner aus dem Schwabenland. Passend dazu sein Roman: »Lass uns von hier verschwinden (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)«. Danke Julian!

#4 / Feine Ablese

Angelesen: Nimm die Alpen weg (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Ralph Tharayil

Ein Buch wie ein Liger. Ein Loman. Ein Hybrid aus Lyrik und Roman. Es ist Ryrik. Ich lese keine Kapitel. Weil es keine gibt. Ich lese eine Seite. Erst leise. Dann laut. Dann lege ich das Buch zur Seite, damit die Seite nachklingen kann. Es rührt mich sehr. Manchmal ist wenig, aber auch zu viel. Macht mich rührig. Auch weil es mich sehr an »Schlesenburg« erinnert. Ich brauche eine Pause. So hab ich mehr davon.

Ausgelesen: Baba Dunjas letzte Liebe (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Alina Bronsky

Ich bin ein kleiner Bronsky-Ultra. Komisch, wie mir Baba Dunja bisher entgehen konnte. Jetzt aber! Die Rückkehr nach Tschernobyl. Was für eine Idee! Eine tolle Skizze bitterer Widersprüche, allem voran der Gegensatz zwischen Menschlichkeit und Pragmatismus. Ich mag auch den Spagat, mit sehr nüchterner Sprache ein maximal liebevolles Bild zu zeichnen. Das Beste von ihr. Aber auch das kürzeste.

Abgelesen: Der erste letzte Tag (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Sebastian Fitzek

Immer wenn ich neidisch darauf bin, in welch dichtem Takt Sebastian Fitzek neue Bücher auf den Weg bringt und mich frage, wie das sein kann, greife ich nach dem einzigen Fitzek im Regal, lese drei Seiten, denke mir „Ach deshalb“ und stelle es zurück.

#5 / Wenn der Berg nicht zum Paul kommt

11.05. / ZUG (CH) / Lesebühne
14.05. / BIELEFELD / Queerslam
26.05. / HEIDELBERG / Queerslam
08.06. / BERLIN / Romanlesung
11.06. / KASSEL / Romanlesung
13.06. / FRANKFURT / Humorlesung
30.06. / STUTTGART / Humorlesung

Alle Termine, alle Infos unter: paulbokowski.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

#6 / Das letzte von der Rolle

Wozu das Zepter über Volk und Staat?
Mir reicht mein Reich: Zwei Zimmer, Küche, Bad.
Drum legt euch ab, ihr Niederen, beglückt;
Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt.

#7 / Feiaahmnt.

Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Hoffe, dass sich die leidenschaftlichen Stunden an der einen oder anderen Stelle transportiert haben. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit. 

#8 / Nachklang

🔊 🔊 🔊 Mac DeMarco mit »Watching Him Fade Away« 🔊 🔊 🔊

https://open.spotify.com/track/2QzKAF0y1BQhxwg8N05Uog?si=dc73e7d143474fe2 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

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