22 Bahnen
Es ist ein schöner Zufall, dass ich Caroline Wahls „22 Bahnen“ an einem grau verhangenen Vormittag im Freibad zu lesen beginne. Auf dem Cover sehe ich eine Frau in einem roten Badeanzug, die ins Wasser taucht, und auf den ersten Seiten des Romans erfahre ich, dass die Mathestudentin Tilda im Schwimmbad immer 22 Bahnen zieht.
Das Schwimmen ist für Tilda ein Ritual - eine Zuflucht. Denn wenn sie nicht gerade für die Uni lernt oder im Supermarkt jobbt, kümmert sie sich um ihre zehnjährige Schwester Ida und die alkoholkranke Mutter.
Die Gedanken treiben davon
Ich nehme mir vor, wie Tilda, meine Bahnen zu zählen. Doch meine Gedanken schweifen ab. Zuerst denke ich über die Dreierformation an Rentnerinnen nach. Dann fällt mir der Herr mit der Stoppuhr und Taucherbrille auf, der wie ein Schnellschwimmer aussieht, doch das Gegenteil ist der Fall – vielleicht erholt er sich nach einer Krankheit?
Morgendliches Ritual
Und immer wieder kehre ich zum Buch zurück, das ich in den folgenden Tagen nach dem Schwimmen auf den grauen Betonstufen mit Blick auf das türkisblaue Wasser lese.
© Markus Kraft, Sport- und Bäderbetriebe Essen
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Tilda fragt sich, wie viel Raum sie für sich beanspruchen darf. Zum Beispiel, als ihr ein Stipendium in Berlin angeboten wird. Oder auf einer Dorfparty, die sie mit ihrer Freundin Marlene besucht, die inzwischen in der Großstadt lebt:
Da ist mein Körper, und da ist die Musik, und mein Körper bewegt sich zur Musik, und das fühlt sich gut an.
Dann denkt Tilda aus Versehen an ihre kleine Schwester.
Ich schließe wieder die Augen, aber es ist zu spät. Der desillusionierende Moment schießt krass rein. Das ist alles so bescheuert und absurd. Ich gehe.
Freiheit wird einerseits als Möglichkeit verstanden, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Optionen auszuwählen und entscheiden zu können. Gleichzeitig endet die Freiheit nach Kant dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Mit den Worten des Dichters Matthias Claudius (1740-1815):
Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.
Entscheidet sich Tilda für Berlin und damit ihre eigenen Wünsche, schadet sie ihrer Schwester. Und auch die Mutter dürfte als Alkoholkranke über wenig Freiheitsgrade verfügen.
In „22 Bahnen“ geht es also um eine Extremsituation. Doch die Frage, wie viel Raum wir uns nehmen dürfen, vielleicht auch aus Selbstschutz und zum Wohle der eigenen Gesundheit, kennen wir wohl alle.
Wie viel Raum darf ich mir nehmen?
Manchmal kann es leichter erscheinen, den eigenen Raum klein zu halten, als das schlechte Gewissen bei einer Expansion zu ertragen. Und was tun wir, wenn andere Menschen uns den eigenen Raum nicht zugestehen und immer wieder hereintrampeln? Wie verteidigen wir unsere Grenzen?
Allmähliches Verfassen von Gedanken beim Schwimmen
Tilda taucht öfter richtig ab. Sie setzt sich auf den gekachelten Grund des Schwimmbads und blickt nach oben. Ein Moment der Stille und des Rückzugs.
Ich tauche im Wasser nicht gerne tief, und ich habe auch nicht meine Bahnen zu Ende gezählt - obwohl ich jeden Morgen geschwommen bin (bis ein Blitz einschlug und das Bad geschlossen werden musste). Ich schwimme in den Ferien 40 Minuten, das ist mein Raum, meine Auszeit. Ein Augenblick, in dem Gedanken kommen und gehen. Es ist großartig und fühlt sich nach Freiheit an. Schade, dass ich nicht jeden Morgen im Schwimmbad beginnen kann. Oder geht das doch?
Und wie ist es bei dir?
Hier einige Tipps, um Rituale und Routinen besser im Alltag zu verankern
Morgenroutine:
Nimm dir zehn Minuten, um den Tag mit einer positiven Gewohnheit zu beginnen, sei es eine kurze Meditation, das Aufschreiben von drei Dingen, für die du dankbar bist. Lass das Handy dabei aus.
Atemübungen oder Meditation:
Integriere kurze Atemübungen oder Meditationen in deinen Tagesablauf. Das kann wirklich helfen, Stress abzubauen. Eine Atemmeditation von „Entspannung wirkt“ erscheint kommende Woche - sowohl zum Einschlafen als auch um sie tagsüber zu hören. Sie ist mit sanften Windgeräuschen unterlegt, und ich mag sie sehr.
Abendliche Reflektion:
Beende den Tag mit einer kurzen Reflektion. Notiere ein paar Gedanken in ein Tagebuch, überlege, was gut lief und was dir im Gedächtnis geblieben ist. Dieses Ritual hilft, den Tag abzuschließen und den Kopf frei für den Schlaf zu bekommen.
Bewegung als Ritual:
Nutze Bewegung als tägliches Ritual. Das kann ein Spaziergang nach dem Mittagessen sein, ein bisschen Yoga oder auch eine Runde Dehnübungen am Schreibtisch sein. Bewegung ist immer super.
Digitale Auszeit:
Schaffe dir bewusste Pausen von digitalen Medien. Richte bildschirmfreie Zeiten ein, lass, wenn möglich, das Handy zu Hause, oder mach es abends zu einer bestimmten Uhrzeit aus.
Lesen:
Lesen macht Spaß, holt dich aus dem Alltag heraus und vermittelt dir neue Perspektiven. Einfach auch hier zehn Minuten Zeit pro Tag nehmen. Und wenn den Newsletter neu abonniert hast, fängst du vielleicht mit meinem Artikel „Sommer-Zimmer (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)“ an, in dem es ebenfalls um eigene Räume geht.
Caroline Wahls Debütroman "22 Bahnen" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)erschien 2023 und wurde mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet.