Kulturelle Aneignung und Alltagsrassismus im Fasching
Dieser Artikel erschien bereits 2015 auf meinem damaligen Blog "ringelmiez" und wird seither jedes Jahr aufs Neue als Referenz in anderen Artikeln und online-Diskussionen genannt. Da mein Blog im Mai 2023 abgeschaltet wird, stelle ich diesen Artikel hier auf steady für alle zur Verfügung. Wie zu all meinen steady-Artikeln, gibt es auch zu diesem eine Audio-Datei für alle, die lieber hören als lesen. Ihr findet Sie ganz unten am Ende des Textes.
Fasnacht, Fasching, Karneval: Es ist mal wieder soweit – wir sind mitten in der fünften Jahreszeit. Letztes Jahr um diese Zeit befand ich mich in einem mittelschweren Gewissenskonflikt, weil der kleine Sohn unbedingt als Indianer gehen wollte. Er hatte schon ganz konkrete Vorstellungen für Federschmuck und Kriegsbemalung, und angesichts seines Enthusiasmus tat es mir schon sehr leid, ihm diesen Wunsch nicht erfüllen zu können. Denn obwohl zu Karneval angeblich ja alles erlaubt ist , sollte man – auch Kinder – auf eine Indianerkostümierung dennnoch besser verzichten. Warum? Um diese Frage zu beantworten, habe ich mir mal wieder Unterstützung von Jasna Strick, a.k.a Tugendfurie (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) geholt. Jasna bloggt sonst auf der keine Unterschied (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Ja, richtig: Bei der Beantwortung dieser Frage geht es um (Alltags-)Rassismus. Warum das Verkleiden als Indianer eine rassistische Handlung ist, war schon vor längerer Zeit mal ein heiß diskutiertes Thema in meiner Internet-Bubble. Jasna und ich haben versucht, anhand von Fragen und Reaktionen, die wir in solchen Diskussionen typischerweise hören, die wichtigsten Aspekte so verständlich wie möglich zu erklären. Es geht hier aber nicht darum, irgendjemanden an den Pranger zu stellen – Alltagsrassismus ist in uns allen so tief verwurzelt, dass man sich oft gar nicht darüber bewusst ist, wenn man ihn ausübt. Es ist nicht schlimm, wenn man das an sich selbst feststellt – schlimm wäre, wenn man dann nicht versuchen würde, etwas daran zu ändern. Denn für die Betroffenen ist Alltagsrassismus weder harmlos noch witzig. Es macht also einfach Sinn, sich selbst in dieser Hinsicht immer mal wieder auf Viren und Trojaner zu überprüfen, die eigenen Denkmuster zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern.
“Mama! Papa! Ich habe “Indianer” in Western gesehen und finde die total super!”
Angenommen, dein Kind kommt mit diesem oder einem ähnlichen Ausspruch zu dir, dann solltest du dir als Elter klar darüber sein, dass “Indianerfilme” ein Teil westlicher und weiß-dominierter Filmindustrien sind und somit nicht-weiße Menschen meistens nicht so darstellen, wie sie wirklich sind – einfach, weil diese Menschen nicht Teil der Filmindustrie sind und selbst keinen Einfluss nehmen können.
Schon die Bezeichnung “Indianer” ist keine Selbstbezeichnung, sondern der Name, den die Eingewanderten den Leuten gegeben haben, die sie trafen. “Indianer” nimmt keine Rücksicht darauf, dass es sich bei den Native Americans um unterschiedliche Kulturen handelt. Aus diesem Grund möchten wir hier auch nicht die kolonialistische Fremdbezeichnung verwenden, sondern sprechen von Native Americans (oder allgemeiner von People of First Nations).
Wenn dein Wissen über Native Americans also aus solchen Filmen oder Büchern stammen, die nicht von den Menschen selbst geschrieben wurden, weißt du vermutlich sowieso wenig bis nichts über sie ;-) “Die Indianer” gibt es gar nicht, also kannst du dich bei deinem oder dem Kostüm deines Kindes immer nur auf rassistische Stereotype beziehen.
Okay, ein kleines Kind kann das so noch nicht verstehen. Die Kinder-Suchmaschine Blinde Kuh hat aber genau diesem Thema eine ganze Reihe kleiner Artikel verfasst, die auch für Kinder schon verständlich sein können. Du findest sie hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Aber ist es nicht schön, sich aus unterschiedlichen Kulturen bedienen zu können und z.B. Kleidungsstücke aus anderen Ländern als Verkleidung zu tragen?
Wenn eine Kultur die Symbole, Kleidungsstücke, Handlungen usw. einer anderen übernimmt, wird das als kulturelle Aneignung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) bezeichnet. Besonders, wenn die Kultur, aus der etwas übernommen ist, eine Minderheit ist, unterdrückt wird oder eine Vergangenheit als kolonialisierte Nation hat. Bei kultureller Aneignung werden oft heilige oder bedeutungstragende Gegenstände oder Handlungen zu Elementen von Popkultur und verlieren ihre Bedeutung, weil die Träger*innen oder Ausführenden als Angehörige einer anderen Kultur kein Verständnis für die ursprünglichen Bedeutungen haben (können).
Unter kulturelle Aneignung fällt z.B. wenn westliche Modeschöpfer*innen plötzlich das Bindi als Accessoire entdecken und weiße Menschen Dreadlocks tragen. Darunter fallen auch und gerade viele Elemente, die im Karneval als Kostümierung verwendet werden. (Ganz viele weitere Links zu kultureller Aneignung findest du hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und da (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).)
Kulturelle Aneignung hat ganz viel mit Imperialismus und Kolonialismus zu tun. Kostümierungen als Native Americans sind heute möglich, weil europäische Einwander*innen nach Amerika gesegelt sind und dort People of Color unterdrückt, misshandelt, vertrieben und ihre Kultur ausgeraubt haben.
Wenn heute weiße die Kultur von People of Color zu Geld machen (z.B. in der Mode- oder Kosmetikindustrie), dann zeigt sich, dass die Ausbeutung nie aufgehört hat. Unterdrückte Kulturen verschwinden immer mehr, weil dominante Kulturen ihre Aspekte in sich aufnehmen und zweck- oder bedeutungsentfremden.
Sich die Aspekte einer anderen Kultur gefahrlos aneignen zu dürfen, ist ein Privileg – also ein Vorrecht: Traditionelle Kleidungsstücke unterdrückter Kulturen oder Religionen sorgen oft dafür, dass Menschen vorgeworfen wird, sie können sich nicht integrieren, lebten in einer Parallelgesellschaft oder seien sogar gefährlich. Bis 1978 (American Indian Religious Freedom Act) war es Native Americans in den USA nicht erlaubt, ihre Religion auszuüben. Nicht-Native Americans dürfen aber Federschmuck tragen und ihn seiner heiligen Symbolik berauben, ohne mit Gefahren rechnen zu müssen.
Mein Kind ist doch ganz unschuldig an kolonialer Vergangenheit! Es will sich doch bloß verkleiden! Ich verstehe nicht, warum ich als Elternteil sowas verbieten soll!
Schwarze Kinder oder Kinder aus First Nations sind auch unschuldig – das ist nicht der Punkt. Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung, die aus Geschichte erwächst. Wir leben in einem System aus Diskriminierung und Unterdrückung. Wenn du weiß bist und in Deutschland lebst, bist du eben eine Person mit Privilegien und die bringen auch Verantwortung mit sich. In der Verantwortung von weißen, die Rassismus nicht dulden möchten, liegt es nun mal, diesen nicht zu reproduzieren und auch ihren Kindern zu erklären, dass sie Respekt vor anderen Menschen und deren Kulturen haben müssen.
Kinder können verstehen, dass es nicht okay ist, ein Spiel aus dem Leid anderer Menschen zu machen.Vielleicht fällt ihnen der Zugang leichter, wenn du ihnen erklärst, dass auch Kinder Native Americans und Opfer von Gewalt und Rassismus sind. Europäer*innen haben an Native Americans Völkermord verübt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Das ist nichts, was sich dazu eignet, auf lustige Weise als “Cowboy und Indianer”-Spiel in heimischen Gärten, Zeltlagern oder Bad Segeberg nachzuahmen.
Aber man kann sich doch auch respektvoll Dinge aus anderen Kulturen “ausleihen”! Ich mag “Indianer” – genau deshalb habe ich meinem Kind überhaupt erst Federschmuck gekauft! Das muss doch nicht gleich eine rassistische Handlung sein!
Wenn ich jemandem mit Respekt begegnen will, bedeutet das zuerst, dass ich darauf hören sollte, was die Person sagt und möchte. Es gibt in den USA viele von Rassismus Betroffenen, die sagen, dass sie ihre Kultur nicht als Kostüm herabgesetzt sehen möchten. Darunter sind auch Native Americans, z.B. hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und dort (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Und auch andere selbst Betroffene haben die Sache bereits erklärt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Kostümierung als Native American (oder andere unterdrückte Kultur) ist für dich oder dein Kind also nicht angemessen. Falls du von Angehörigen einer Kultur, die nicht deine ist, zu einem traditionellen Fest o.ä. eingeladen wirst, stellt das unter Umständen (!!) eine der wenigen Ausnahmen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) dar, in denen es okay ist, sich dem Dresscode anzupassen. Erkundige dich bitte, bei den Gastgebenden, was angemessen ist.
Wenn dich Native Americans interessieren und du diesen Kulturen deinen Respekt aussprechen willst, dann sieh dich nach Menschen aus diesen Kulturen um, sprich mit ihnen und höre ihnen vor allem zu. Vielleicht kannst du eine*n echte*n Native American für einen Vortrag in der Schule deines Kindes gewinnen?
Wenn du Kulturen, die nicht die deine sind, mit Respekt begegnen willst, kannst du dich in ihre Geschichte einlesen, Rücksicht auf ihre Selbstbezeichnungen nehmen und dich antirassistisch engagieren.
Aber es ist Fasnacht! Das darf man doch nicht so eng sehen, Fasnacht ist doch gerade dazu da, Grenzen zu überschreiten!
Vielleicht kommt es dir komisch vor, aber gerade unter diesem Aspekt ist ein “Indianerkostüm” völlig unangebracht. Rassismus und kulturelle Aneignung sind ja nichts Neues und auch nicht verboten. Da wird gar keine Grenze überschritten, wenn ich rassistische Stereotype benutze, das ist ganz normaler Alltag für diskriminierungsbetroffene Menschen.
Im Rheinland wird an Weiberfastnacht symbolisch den Frauen der Schlüssel zum Rathaus überreicht. Wenn an diesem Tag den Männern in einem Festakt die Macht überreicht würde, wäre das total witzlos, schließlich ist das ja während des restlichen Jahres schon so. Wenn Weiße meinen, sie dürften an Fasnacht jetzt auch mal rassistisch sein, ist das genauso keine Grenzüberschreitung, sondern trauriger Alltag.
Aber als Nonne mit Rosenkranz rumlaufen ist an Fasnacht noch erlaubt, oder?!
Diskriminierung hat mit Macht zu tun und existiert innerhalb eines Machgefälles immer nur von der machtvollen gegen die machtlose Position. Nonnen sind Teil der christlichen Religion und damit in Deutschland nicht unterdrückt. Wenn andere Christ*innen sich christlicher Symbole bedienen, nehmen sie niemandem etwas weg und entfremden auch nichts. Gleiches würde an für ein Kostüm als Bayer*in gelten.
Müssen wir jetzt auf Verkleidungen verzichten?!
Natürlich muss niemand auf Verkleidung verzichten, sobald rassistische Kostümierung keine Option mehr ist. Vielleicht ist an manchen Stellen ein bisschen Phantasie gefragt – aber gerade das sollten Verkleidungen doch ausmachen ;-) Wer so gar keine Idee mehr hat, kann bei Danger Bananas (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) vorbeiklicken und sich von ihrer Auflistung inspirieren lassen oder mal schauen, welche DVDs und Bücher im Kinderzimmer herumstehen und welche Figuren daraus sich als Kostüm eignen.
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Damit sind wir am Ende unseres kleinen Leitfadens zum Thema Indianerkostüme (nicht nur) zu Fasnacht angekommen. Wir hoffen, wir konnten die Thematik gut verständlich machen und sind gespannt, welche kreativen Verkleidungen ihr euch in Zukunft vielleicht als Alternativen ausdenkt.
Mein (also Ellas) Sohn war letztes Jahr so vernarrt in seine Indianer-Idee, dass er wirklich wenig kompromissbereit war. Ich habe dann versucht, herauszuhören, was genau ihm an dieser Kostümierung so wichtig war. Es stellte sich heraus, dass er unbedingt was mit Federn und mit Pfeil und Bogen wollte. So haben wir dann eine Art phantasievollen Waldmenschen aus ihm gemacht.
Was ihr sonst noch zu Fasnacht beachten solltet: Malt euch nicht die Gesichter schwarz an (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), um Schwarze darzustellen. Und auch an Fasnacht ist Konsens wichtig (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Ein Kostüm ist keine Einladung zum Anfassen, Küssen oder gar Sex haben. Das verstehen sogar schon Kinder (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gut.
Habt eine schöne närrische Zeit!