Der Mann ohne Gedächtnis und die Frau mit dem perfekten Gedächtnis
Du liest Das Leben des Brain und lernst damit Woche für Woche, was du übers Gehirn wissen solltest. Heute: Über einen Mann, der sich nichts mehr merken kann und eine Frau, die sich alles merken kann.
Genau einmal im Jahr schlage ich die Hände vor dem Gesicht zusammen und kann nicht glauben, dass es schon wieder passiert ist: Ich habe Marcos Geburtstag vergessen. Letztes Mal schon ungefähr das zehnte Jahr in Folge. Einmal habe ich ihm gesagt: „Selbst wenn ich irgendwann dran denke: Ich gratuliere dir trotzdem nicht, aus Tradition!“
Dabei ist Marco nicht irgendwer, wir kennen uns seit der siebten Klasse. Und sein Geburtsdatum hat sich seitdem auch nicht verändert (soweit ich weiß).
Was passiert in unserem Kopf, wenn wir Informationen speichern? Wo speichern wir sie ab? Und was geht da schief, wenn ich seinen Geburtstag vergesse? (Spoiler: gar nichts geht da schief.)
Wenn man das Gehirn verstehen will, schaut man sich oft die Extreme an. Heute habe ich zwei davon mitgebracht. Beide verraten etwas über das menschliche Gedächtnis.
Extrembeispiel Nummer 1: Clive Wearing, der Mann ohne Gedächtnis. Wearing hat eine spezielle Form von Amnesie, er kann keine neuen Informationen abspeichern, sich überhaupt nichts Neues mehr merken. Sein Gedächtnis hat eine Dauer von 30 Sekunden, manchmal hält es auch nur sieben Sekunden, oder gerade mal für die Dauer eines einzigen Satzes.
Kein Wunder, dass er seine Ärzte für ziemlich inkompetent hält: „Ich habe nie einen von ihnen gesehen“, sagt er und meint es auch so. Als ich das erst Mal das folgende Video über Clive Wearing gesehen habe, musste ich ganz schön schlucken. Wir sehen Wearing, der sich gerade erst lange mit seiner Frau unterhalten hat. Sie geht kurz raus, um einen Kaffee zu kochen. Als sie wieder den Raum betritt, ist er überrascht und freut sich sehr, sie zu sehen. Er erinnert sich nicht daran, dass sie bereits seit Stunden bei ihm zu Besuch ist. Ich habe den eindrücklichsten Moment im Video herausgesucht:
https://www.youtube.com/watch?v=Vwigmktix2Y&t=156s (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Der Fall Clive Wearing zeigt in extremer Weise, was passieren kann, wenn wichtige Teile des menschlichen Gedächtnisses zerstört werden. Es verändert das komplette Leben, und damit auch die Art wie man sich selbst wahrnimmt. An einem anderen Punkt des Videos sagt Wearing: „Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, noch nie einen Traum oder einen Gedanken gehabt.“
Das andere Extrembeispiel sind Menschen mit einem perfekten Gedächtnis, die sich an jedes Detail erinnern können. Ja, auch die gibt es. Wenn auch nur ca. 80 auf der ganzen Welt. Es sind Menschen mit dem sogenannten hyperthymestischen Syndrom, wie Jill Price, die sich seit ihrem 14. Lebensjahr an so gut wie alles erinnert. Fragt man sie nach einem beliebigen Tag in der Vergangenheit, kann sie genau sagen, welche Kleidung sie trug und was sie zum Mittagessen gegessen hat. Sie vergisst nichts davon – und das ist schrecklich. In einem Interview (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) mit der Zeit sagt sie: „Ich fühle mich oft wie gelähmt. Ich hasse Veränderungen. Und ich trage ständig 49 Jahre an Gefühlen mit mir herum.“
Forscher:innen vergleichen das gesunde menschliche Gedächtnis gern mit einer Art Bücherregal, in dem jedes Buch für eine Erinnerung steht, das man aus dem Regal nehmen und aufschlagen kann. Das Bild ist aber zu stark vereinfacht, denn eine einzelne Erinnerung kann über das ganze Gehirn verteilt gespeichert sein. Nehmen wir die berühmte Erbsensuppe deiner Oma. Nervenzellen im olfaktorischen Cortex haben gespeichert, wie die Suppe riecht, nach Erbsen und dem Sellerie, den sie immer mit reingeschnippelt hat. Im visuellen Cortex – also am anderen Ende des Gehirns – ist gespeichert, wie die Suppe aussieht (keine besonders schöne Erinnerung ist, es ist immer noch Erbsensuppe). Im gustatorischen Cortex ist der Geschmack hinterlegt. All diese Nervenzellen zusammen formen die Erinnerung an die Erbsensuppe.
Die beiden Fälle oben zeigen: Bei unserem Gedächtnis kann viel schief gehen. In beide Richtungen. Wie genau schaffen wir “Normalos” es also, dass wir uns nicht an alles erinnern, aber auch nicht alles vergessen? Darum geht es nächste Woche.
In dieser Woche haben sich drei Menschen dazu entschieden, ein echtes Brain zu werden. Willkommen Susan, Achim und Eva!
Echte Brains erfahren hier noch, warum Clive Wearing sich nichts mehr merken, aber trotzdem noch flüssig Klavier spielen kann.
Echtes Brain werden! (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
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